Strittmatter | Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 194 Seiten

Strittmatter Sulamith Mingedö, der Doktor und die Laus

Drei Nachtigall-Geschichten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2896-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Drei Nachtigall-Geschichten

E-Book, Deutsch, 194 Seiten

ISBN: 978-3-8412-2896-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Geschichten, in denen sich Erinnerung und Phantasie aufs schönste vermischen.

Vom Tausendkünstler Charlie Wind zum Beispiel wird erzählt und von seinem Versuch, sesshaft zu werden. Oder von dem Puppenspielermädchen Sulamith Mingedö, das auf die Läusebank der Schule verbannt wurde, von gefälschten Liebesbriefen, dem traurigen Ende eines Hundes, von den weltfremden Damen Rasunke und deren Anteil an der Bildung ihres Chauffeurs.



Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).

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Ich war dreizehnjährig, als das geschah, ja, etwa dreizehnjährig; denn ich besuchte schon die Stadtschule, und es stand für mich fest, dass ich weder Bäcker noch Vertreter für Viehlebertran, kein Kaffeekellner, kein Tierwärter, nicht Clown, nicht Expressbote, auch kein Bereiter oder gar Hilfsarbeiter in Fabriken werden würde, sondern ein Künstler. Ich weiß nicht, ob es an den Verhältnissen oder an mir lag, dass ich all das wurde, was ich aufzählte, aber ein Künstler wurde ich nie, jedenfalls nicht einer, von dem die Leute sagen, wenn er ein Lokal betritt: »Ein Künstler, man hört es«, auch nicht einer, von dem junge Mädchen auf der Straße sagen: »Ein Künstler, man sieht es!«

Die Kunst, die mir damals vorschwebte, war das Löwenbändigen. Ich wollte ein Künstler werden, der mit der Gefahr umgeht, einer, den keine Versicherung aufnimmt, weil er gefressen werden kann, ehe er genügend Versicherungsbeiträge abgeführt hat.

Ich konnte damals bereits die Ziege meiner Großmutter überreden, auf einer fünf Zentimeter breiten Latte zu wandeln, die ich über die Lehnen zweier Stühle gelegt hatte. Ich wusste außerdem, wie man Pferden beibringt, mit dem rechten Vorderhuf zu scharren und kleine Rechenaufgaben für einfältige Zuschauer zu lösen, und ich hatte einen kleinen Hundebastard dazu gebracht, auf den Vorderbeinen zu marschieren.

All diese kleinen Künste wurden mir einmal im Leben, wenn auch nur für kurze Zeit, nützlich; zu der Zeit aber, da unsere Geschichte spielt, züchtete ich in der Kellerwohnung meiner Pensionseltern heimlich weiße Mäuse, die ich sonntags und in den Ferien mit aufs Dorf nahm.

Es war in den Großen Ferien, als einer der beiden Poter-Brüder zu mir kam; ich glaube, es war der kleinere Bruder, ja, es war der mit den kurzen Beinen, dem man von den Beinlingen jeder gekauften Hose dreißig Zentimeter abschneiden musste, um sie an die seines längeren Bruders, dem die Hosen stets zu kurz waren, anzunähen, eine Tatsache, die sogar in eine Sonntagspredigt unseres langen Pfarrers Saretz einging, als er den Gläubigen die »Weisheit der Vorsehung« nahezubringen gedachte.

Ja, jetzt weiß ich genau, dass es der kleine Poter war, der zu mir kam, weil ich mich an seine auseinanderstehenden Zähne erinnere, die ihn in den Stand versetzten, wie eine Ringelnatter zu zischen. »Winds Karle macht einen Zirkus auf, und wenn du ihm zwei weiße Mäuse schickst, wird er dir zwei Freikarten für seine Vorstellungen ausschreiben!«

Schön, ich war bereit: Zwei Mäuse – zwei Freikarten, aber jetzt muss man erst wissen, wer Winds Karle war:

Ich springe ein paar Jahre zurück und in die Zeit hinein, da ich zehn Jahre alt war: Damals kam ein kleiner Zirkus in unser Dorf, und die sechs Ponys, die den Packwagen und die Wohnwagen zogen, wurden uns abends in der Vorstellung herausgeputzt vorgeführt. Außerdem gehörten zu dem kleinen Zirkus ein Tanzbär, ein Steinbock, fünf Zwerghühner, sieben Meerschweinchen, eine Meerkatze und eine Schar gezähmter Pfauentauben.

Die Vorstellung fand im Gasthaussaal statt. Schlanke Halbzigeunermädchen zeigten uns, wie man auf einem dünnen Draht durchs Leben gehen kann, und das Schimmelpony, Kluger Hans genannt, hatte eine Dame aus dem Publikum zu suchen, die sich gern verliebt. Das Pony blieb vor Mina Poter, der Schwester der Poter-Brüder, stehen.

Dann produzierten sich die Halbzigeunermädchen als sogenannte Schlangenmenschen, und ein Tierbändiger, der uns als Mister Charlie angekündigt wurde, machte einen Bärenringkampf, und als Charlie eine Weile mit dem alten Bären gerangelt hatte, flüsterte er ihm etwas ins Ohr, worauf sich der Bär niederfallen ließ und Charlie zum Sieger erklärt wurde. Dieser Mister Charlie war blond, hatte tiefschwarze Augen, und unter seiner Nase lag ein Bärtchen von der Farbe einer Weizenähre.

Dann trat Mac Müllton auf, der Truppenchef; er hatte zuvor den Klugen Hans vorgeführt, aber jetzt wurde behauptet, Mac Müllton wäre ein »Lebender Springbrunnen«. Es wurden zwei Eimer Wasser aus der Gasthausküche gebracht, die Müllton Glas für Glas in sich hineingoss, ohne zu schlucken; das Wasser versickerte in seinem Munde wie in einem Rattenloch auf dem Felde.

Als Müllton die Eimer geleert hatte, glich sein Leib einer Tonne, und um das zu demonstrieren, wurde dem Schnellsäufer ein eiserner Fassreifen um den Bauch gelegt, und als das geschehen war, verschluckte Müllton drei brennende Zigarren, brachte sie brennend wieder hervor, ließ sich Frösche reichen, die wir am Nachmittag im Dorfteich gegen Freikarten gefangen hatten, schluckte fünf Frösche, brachte auch die wieder lebend hervor, und dann wurde »das verehrte Publikum« gebeten, auf den erleuchteten Wirtshaushof zu treten, wo der Herr Direktor sich entleeren und eine Fontäne abgeben würde.

Wir gingen hinter dem wassergefüllten Müllton auf den Wirtshaushof, bildeten dort einen Kreis um ihn, und er stellte sich in der Kreismitte gegen einen eingegrabenen Pfahl, druckste, gluckste, und das Wasser entfloss seinem Munde in einem dünnen Strahl.

Die »verehrten Zuschauer« wurden gebeten, die Reinheit des Wassers zu prüfen und sich unter dem »Lebenden Springbrunnen« die Hände zu waschen. Der lange Poter, der, dem man immer die abgeschnittenen Hosenbeinlinge des jüngeren Bruders annähen musste, wusch sich nicht nur die Hände, sondern auch sein schmales Mumiengesicht und bestätigte, dass es sich um einwandfreies Quellwasser handele.

Ein lebender Springbrunnen! Das hatte man in unserer kleinen Welt noch nicht gesehen! Mister Charlie trat vor und verkündete, dass er sich erlauben würde, ein kleines Trinkgeld einzusammeln, damit man der »Lebenden Fontäne« ein kräftiges Abendbrot zu speisen geben könne, denn sobald der letzte Tropfen Wasser aus Müllton heraus wäre, müsste er eine gute Mahlzeit zu sich nehmen, und diese Mahlzeit wäre die einzige, die Müllton tagsüber haben dürfte, wenn das Wasser bei der nächsten Abendvorstellung wieder sauber aus ihm herausfließen sollte.

Das machte großen Eindruck auf uns, und unsere Zehner klimperten gönnerhaft auf den Essteller, den uns Mister Charlie mit bittenden Augen hinhielt.

Sodann erfuhren wir, wozu der Marterpfahl im Wirtshaushof eingegraben war: Mister Charlie, der Bärenbezwinger, der nun Mister Charlie Wind genannt wurde, sollte sich als Entfesselungskünstler produzieren, und der wasserleere Direktor ließ uns wissen, dass die Entfesselungskunst des Charlie Wind in allen großen Städten der Welt Aufsehen erregt hätte, in Paris, in London und in Groß-Luja, einem Dorfe, zehn Kilometer von unserem Dorfe entfernt.

Mister Charlie Wind trug ein blassblaues Trikot (Strumpfhosen und Leibchen – alles aus einem Stück, würden wir heute sagen), und das Trikot war nur verhalten sauber, wie man sogar beim gelben Licht der Petroleumlampen feststellen konnte, und das konnte nicht anders sein, weil Stricke und Ketten, die bereitlagen, nicht fett- und nicht rostfrei waren.

Die erste Strickschlinge legte der Truppenchef Charlie Wind selber um den Leib, dann aber wurden »beherzte Herren aus dem Publikum« gebeten, Mister Charlie Wind an den Marterpfahl zu fesseln.

In unserem Dorfe gab’s außer dem Gutsherrn keine Herren, doch wenn ein Jahrmarktsausschreier oder ein Artist solche benötigte, tat man ihm den Gefallen, und in unserem Falle spielten die Gebrüder Poter, die tagsüber auf den Feldern des Gutsherrn arbeiteten, die Ersatzherren, und sie machten sich über Mister Charlie Wind her und fesselten ihn mit Ketten und Stricken.

Charlie Wind hatte eine Menge Luft in sich hineingepumpt, ließ nur wenig davon beim Ausatmen heraus und sah seiner Fesselung gelassen zu, nur die kleine Weizenähre von einem Schnurrbart zuckte ab und zu, wenn die Poter-Brüder die Fesseln zu hart anzogen. Einige Dorffrauen stöhnten vor Mitleid, und Mina Poter, die Gernverliebte, jammerte.

Als die Poter-Brüder zurücktraten, rief der Pichler-Karl, Immersäufer und Maulheld: »Habt ihr ihn richtig dingfest gemacht?« Die Poter-Brüder beschworen es: Dieser Mensch würde sich ohne fremde Hilfe nie im Leben abfesseln und von seinem Marterpfahl loskommen! Drei Flaschen Bier zur Wette, die dritte für den Künstler!

Der Truppenchef schlug Mister Charlie aufmunternd auf die Schulter: »Los!«

Wind rüttelte an seinen Fesseln. Alsbald fiel ein Teil der Ketten klirrend zu Boden, und es dauerte keine halbe Minute, da hatte Charlie die Arme frei, und dann war’s nur noch eine Kleinigkeit für ihn, sich vollends abzufesseln.

Mister Charlie tat alles mit Grazie. Die mitleidigen Frauen fassten Sympathie für den geschmeidigen Helden. Wind streifte sich die Bauchschlinge ab und stieg aus dem an der Erde liegenden Wust von Ketten und Stricken, und Mina Poter, die Schwester der beiden Fesselmeister, trat auf ihn zu und hielt ihm einen kleinen Strauß Gänseblumen hin, den sie rasch auf dem Hofe der Gastwirtschaft zusammengepflückt hatte.

Wenn Charlie Wind ein weißer Zigeuner war, war Mina Poter mit ihrem krausen Blondhaar und den Lippen, die aussahen, als hätte sie ein Faustschlag zum Blühen gebracht, eine weiße Negerin. Charlie Wind nahm ihr den Gansblumenstrauß mit einer Verbeugung ab, und es kräuselten sich zwei verwandte Gedanken zu einem Wölkchen am Nachthimmel, als die beiden einander in die Augen sahen.

Die Dorfburschen grölten. Für sie war Mina Poter »eine Durchgezogene«, und dennoch waren sie eifersüchtig, primitiv und roh wie die Stiere.

Freilich war Mina Poter...



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