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E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Strubel Fremd Gehen

Ein Nachtstück
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-10-490277-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Nachtstück

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-10-490277-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein geheimnisvolles nächtliches Berlin, ein Mord, eine Liebesgeschichte. Daniel Stillmann, Student im siebten Semester der Mathematikwissenschaft, mag keine Probleme, für die es genau zwei einander widersprechende Lösungen gibt. Als er Zeuge eines Verbrechens an der Kreuzberger Admiralsbrücke wird, läßt ihn die kalte Logik seiner Formeln im Stich. Er steht vor einer großen Unbekannten, gerät in eine Spirale aus Angst und fürchtet immer mehr, die Geschichte eines anderen zu leben. - So jedenfalls haben Marlies und die Ich-Erzählerin sich das ausgedacht, die ihre Figur Daniel in den unheimlichen Bann eines alten Mannes treiben, bis eines Tages auf mysteriöse Weise auch Marlies verschwindet. Für diesen Fall erweisen sich die Grenzen der Geschlechter als ebenso unzuverlässig wie die Naturgesetze von Raum und Zeit.

 Antje Rávik Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lehrte am Deutschen Literaturinsitut und an der Washington University in St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Tupolew 134« (2004) und »Kältere Schichten der Luft« (2007), für den sie mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman »Blaue Frau«. Im März 2025 erschien ihr jüngster Roman »Der Einfluss der Fasane«. Außerdem veröffentlichte sie Essays und Reiseerzählungen über Schweden und Brandenburg. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u. a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de )
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Die Geschichte hat mit einem Blick begonnen; der alte Mann unten auf der Brücke, der sich umdrehte, direkt zu Daniel am Fenster hochsah und ihn als jemand erkannte, der er nicht war.

Das Wasser trieb gegen die Böschung, überschlug sich und wurde zurück in die schnelle Strömung in Kanalmitte gerissen. Es kreiste vor dem Widerstand der Brückenpfeiler, bevor es unter der Brücke durchschoß und sich zu schaumigen Bränden aus Schmutz und Abgasablagerungen zusammenschob, dann wieder auseinandergerissen wurde und schließlich, geglättet, in gleichmäßiger Oberflutung der unteren Uferabschnitte weiterfloß, während es herabgefallene Blätter ununterbrochen wieder an die Oberfläche spülte.

Aber das konnte Daniel nicht sehen. Es war ein gespeichertes Bild, abrufbar jetzt, wo der Blick aus dem Fenster ins Dunkel ging. Er mußte es vorhin flüchtig gesehen haben, als er gegen den peitschenden Wind am Ufer entlanggerannt war, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, bevor er endlich den schützenden Hausflur erreichte. Der Regen war ihm in den Kragen gelaufen, während das Wasser gegen die Brückenbefestigung schlug.

Vom Fenster aus sah man nur so weit, wie der Radius der Lichtkreise reichte, die die falschen Gaslaternen in die Dunkelheit schnitten. Daniel lehnte die Stirn an das kühle Fensterglas. Sein Kopf war trotz der nassen Haare heiß.

Er lauschte auf das Summen und Schlagen der Äste, auch das nur in seiner Erinnerung, hinter geschlossenem Fenster blieb der Ton weg. Darunter tobte das Wasser, von dem Daniel jetzt nur eine schmale, schattige, kaum von den Laternen getroffene Spur erkannte.

Da löste sich an der Brücke gegenüber eine Gestalt aus dem Dunkel. Sie geriet in einen der Lichtkreise, die Laternen flackerten im Sturm, der sie in ihren Halterungen schwingen ließ, und Daniel konnte ihre Umrisse nur undeutlich sehen. Die Gestalt arbeitete sich langsam durch das Licht voran. Es sah aus, als wäre das Licht Material, das von ihrem Körper zusammengedrückt wurde. Dann erkannte Daniel einen Mann und beobachtete, wie er den beleuchteten Kreis unter der Laterne durchschritt und dabei den Mantelschoß zurückschlug, der sich in das Lichtmaterial einzugraben schien, von ihm aufgenommen wurde, als könnte er sich einer unsichtbaren, dem Licht zugrundeliegenden Struktur einschreiben, bis er sich schließlich wieder davon abhob und erneut ein Mantelschoß aus festem, grobem Stoff war. Er sah aus wie ein Militärmantel, der Mantel einer Marineuniform, die einmal blau gewesen war und dann zu oft im Regen gehangen hatte, auf einem der Flohmärkte im Tiergarten oder am Brandenburger Tor, wo die Russen noch immer alte Ostuniformen verkauften.

Daniel sah dem Mann hinterher, der sich plötzlich vorbeugte, direkt an der Uferböschung. Er zögerte, der Mantelschoß sperrte über seinen Beinen, dann schien der Mann seine Taschen umzustülpen und etwas in den Kanal zu werfen. Er stand da, als wäre hellichter Tag und der Sturm kein Wetter, das die Bewegung verlangsamt.

Daniel blieb, wo er war, dicht an der Fensterscheibe. Aber von hier oben war nicht zu erkennen, was der Mann in den Kanal geworfen hatte, ob er überhaupt etwas in den Kanal warf oder dort nur so vorgebeugt stand, um sich zu übergeben oder weil ihm schwindlig geworden war. Die Manteltaschen waren nach außen gestülpt. Aber es gab weder Enten noch Schwäne, und es war auch nicht die Zeit zum Entenfüttern.

Plötzlich drehte sich der Mann um. Er richtete sich auf, klopfte auf die Taschen und hob den Kopf. Und dann traf Daniel dieser Blick, erschreckend präzise, ein Blick, in dem er sich entlarvt vorkam. Daniel zuckte zurück und unterdrückte ein Kreischen, das er dennoch deutlich zu hören glaubte. Es war ein weibisches Kreischen, hoch und überraschend, und als er noch damit beschäftigt war, es einzusortieren in seine vom Tag her gewohnten Stimmlagen, war er schon wieder dicht ans Fenster getreten und sah, wie der Mann langsam auf das Haus zukam. Sein Blick blieb weiterhin an der Stelle hängen, an der Daniel stand. Aber dann zögerte er. Ohne die Blickrichtung zu verändern, kehrte er ins Zentrum des Laternenlichts zurück. Daniel hörte sich ausatmen. Den Mantel hatte der Mann immer noch geöffnet. Das Futter hing heraus. Vom Licht getroffen, sah es aus wie eine Innerei, die auf obszöne Weise präsentiert wurde.

Daniel fiel ein, daß sein Hosenstall offenstand. Er zog den Reißverschluß zu, hörte auf das vertraute Surren, und sein Körper paßte ihm wieder. Er stand am rechten Fenster seines Zimmers im vierten Stock. Auf der niedrigen Fensterbank spürte er ein paar Staubflocken, als er mit dem Finger darüberfuhr. Es war elf Uhr abends, und er hatte noch nichts gegessen. Er hatte pinkeln müssen, als er nach Hause kam, im Zimmer hatte das Fenster gegen die Wand geschlagen, und er hatte schnell gemacht und war mit offener Hose hinübergehastet. Jetzt ging er vom Fenster weg, ohne noch einmal nach unten zu sehen.

In der Küche setzte er Wasser auf und sah später in dem in dampfender Flüssigkeit schwebenden Teebeutel das Gesicht des Mannes, wie es von der Brücke aus zu ihm nach oben starrte. Im Teebeutel war es ein altes Gesicht, es stieg auf mit dem Dampf und verflüchtigte sich. Aber er war nicht mehr sicher, ob es tatsächlich das Gesicht eines Alten gewesen war. Er wußte nur, er hätte den Blick gern rückgängig gemacht. Aber das war ausgeschlossen, und Daniel mochte es nicht, an Dinge zu denken, die unmöglich waren. Er ignorierte sie wie Fragen, auf die es genau zwei einander widersprechende Antworten gab.

Dann löschte er das Licht und ging ins Bett. Das Haarband, das seine Freundin wie immer um sein Handgelenk gewickelt, ihm aber diesmal nicht wieder abgenommen hatte, legte er sich unter die Wange. Es roch nach ihr. Er konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Tag war der Kanal fast unbewegt. Blätter trieben bauchoben im Kreis, der Wind war herbstlich, aber warm, als Daniel mit dem Rad zur Uni fuhr. Die Gaslaternen brannten noch. Sie gaben mit ihren Lichthüllen, die sie matt dem Tageslicht entgegensetzten, wie immer Auskunft über das Versagen städtischer Regulierungssysteme.

Als er an der Uferstelle vorbeifuhr, an der der Alte gestern nacht gestanden hatte, sah er kurz hin. Das Gras war braun, dörr und niedergetreten. Aber weil nichts Besonderes zu sehen war, hörte er Kathleen lachen und wurde rot, als hätte sie tatsächlich gelacht und gesagt: »Dani, aus Mücken werden keine Elefanten.«

Hab ich doch nicht behauptet, protestierte er, während er in die Pedale trat, brauchst gar nicht so zu lachen, aber hat doch jeder mal, so Ängste, hast du doch auch, wie? nee, spielt überhaupt keine Rolle, ob jetzt Tag ist oder Nacht, du hast doch auch zuerst, meine Augen, hast du gesagt, die hätten dich sofort … ich? – nichts! was soll man da auch sehen, hab ja auch nicht erwartet, daß ich da was sehe, aber ich kann doch hingucken, wo ich will, oder?

Er kam am Zeitungsladen vorbei, der im Erdgeschoß eines fünfstöckigen Altbaus lag. In der letzten Woche hatten Bauarbeiter angefangen, hier ein Gerüst aufzustellen, und jetzt werkelten sie immer noch an derselben Stelle wie am Sonnabend. Da zum Beispiel sollte man besser nicht hingucken, dachte er, nicht mal aus den Augenwinkeln.

Vor der Uni schloß er das Rad an eine Laterne. Er schlitterte unter den Gesprächen auf den Fluren hindurch, ohne aufzusehen. Nur einmal hatte ihn jemand auf dem Gang aufgehalten, ihn am Ärmel gezogen und angelacht, und das war Kathleen gewesen. Aber Kathleen hatte inzwischen ihr Studium geschmissen, und seither gingen ihn diese Gespräche nichts mehr an.

Das Referat hielt er in einem Zustand nüchterner Träumerei. Es war eins der Referate, bei denen er schließlich nicht mehr wußte, ob er sich wegen des Themas für sie entschieden hatte oder ob das Interesse nur den Vorlieben seiner Lieblingsprofessorin geschuldet war. Er hörte, während er sprach, die S-Bahn. Es roch nach ungeputzten Klobrillen und Damenparfüm. Aber ihn irritierte vor allem die unterdrückte Hysterie seiner Mitreferentin, der dauernd ein Zopf auf den Overhead-Projektor fiel und einen gedrechselten Schatten auf die Formeln an der Wand warf.

Danach erschien ihm der Tag überflüssig, eine Ansammlung von Stunden, mit denen er nichts anzufangen wußte. Er war müde und rief Kathleen an. Ihm graute vor dem einsamen Bett am Nachmittag. Aber auf dem Festnetz ging niemand ran, und auf ihrem Handy meldete sich unter Vogelgezwitscher nur die Mailbox. Schließlich legte er sich auf die Couch, paßte seinen Körper in die Form ein, die das Bettzeug beibehalten hatte, seit er heute morgen aufgestanden war, und knetete Kathleens Haarband, bis es wenigstens nach ihr roch. Den Moment des Einschlafens verpaßte er, was ihm hinterher jedesmal ungeheuerlich vorkam.

Auch am Dienstag vergeudeten die Gaslaternen Energie ans Tageslicht. Die Hälfte des Steueraufkommens geht für die Stromkosten eines einzigen Stadtbezirkes drauf, dachte Daniel, verzichtete jedoch darauf, es nachzurechnen, schob das Portemonnaie in seine Gesäßtasche und nahm zwei Treppenstufen auf einmal.

Noch bevor er die Haustür geöffnet hatte, spürte er eine Aufregung, von der oben unter dem Dach nichts zu bemerken war. Ein Surren ging durch das Haus, wie auf Stromleitungen gezogene Angst. In der Wohnung im Erdgeschoß stand die Tür offen. »Aber ich sage Ihnen doch, ich habe geschlafen!« hörte er eine Frau sagen, dreimal, bevor er draußen war.

Das Viertel steckte voller verlassener Ehefrauen. Eines Tages kehrten die Ehemänner zurück, prügelten weiter oder brachten sich um, und die Frauen konnten es einfach nicht fassen. Als Daniel auf die Straße kam, war die Brücke abgesperrt, eine Polizistin lief mit ausgestreckten Armen über den Gehweg in Richtung...


Strubel, Antje Rávik
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Antje Rávik StrubelAntje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)



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