Strubel | Offene Blende | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Strubel Offene Blende

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-10-490276-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-10-490276-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Geschichte einer faszinierenden deutsch-deutschen Liebe in New York. 1987 ist sie weggegangen aus ihrem Land, weil sie mehr Freiheit brauchte, als es dort gab. Aber bei dem Mann, den sie angeblich heiraten wollte, traf Christiane nie ein. Stattdessen lebt sie illegal in New York und schlägt sich als Kellnerin durch. Dann begegnet sie Jeff, der sie an ihren eigentlichen Ehrgeiz und ihre Begabung erinnert. Unter großen Opfern bauen sie eine Experimentierbühne auf. Acht Jahre später hat sich alles geändert: Die Mauer ist weg. Auf der Suche nach einem wahrhaftigen Bild kommt die Fotografin Leah aus Westdeutschland nach New York. Als sie der eleganten Amerikanerin Jo begegnet, springt der Funke des Begehrens blitzartig über. Aber die Amerikanerin umgibt ein Geheimnis. Sie lässt sich nicht fotografieren. Immer wieder verschwindet sie hinter den Kulissen eines Theaters im Village. Sind die Amerikanerin Jo und Christiane ein und dieselbe Person? Beharrlich entzieht sie sich Leahs Werben, auch wenn ihr das Doppelleben bald unmöglich wird. Die Entwicklung holen Christianes Geheimnisse ein, und mit der Freiheit zu vergessen findet Leah schließlich ein Bild, das bleibt.

 Antje Rávik Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lehrte am Deutschen Literaturinsitut und an der Washington University in St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Tupolew 134« (2004) und »Kältere Schichten der Luft« (2007), für den sie mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman »Blaue Frau«. Im März 2025 erschien ihr jüngster Roman »Der Einfluss der Fasane«. Außerdem veröffentlichte sie Essays und Reiseerzählungen über Schweden und Brandenburg. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u. a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de )
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ONE
Jahrestage


Die Sonne hätte eine Folie sein können, ein dünner, durchsichtiger Belag, der über dem gesamten Flughafengelände hing. Wenn der Wind kam, hob sich die Folie wie Wasser und sprühte Gischt aus glitzernden Schaumtropfen über die Gebäude, die Tankstation, auf die Dächer der Leitfahrzeuge und in die flirrenden Abgase aus den Düsen startender Maschinen. Die Sonne fiel aus den Glasfenstern des Abfertigungsgebäudes auf den Asphalt, sprang von dort auf die Fahrzeuge und traf die beschlagenen Scheiben der Busfenster. In langen Wellen trieb sie über das Rollfeld und verzerrte mit der Entfernung die Sicht. Rollfeld und Grasflächen und die Schrebergärten dahinter verschwammen schon wenige Meter über dem Boden, als sollte eine vorzeitige Entdeckung dessen, was tatsächlich zu sehen war, verhindert werden.

Christiane zog ihren Jackenärmel über den Handballen und wischte ein Guckloch in das beschlagene Busfenster.

Durch das Guckloch strahlten ihr das Rollfeld und der Himmel entgegen. Sauber ineinandergefügte Betonplatten reflektierten die silbernen Körper der Maschinen, und nirgendwo gab es Risse, aus denen Unkraut wuchs. Selbst die Tore der Gepäckabfertigung sahen reinlich und akkurat aus und standen in diesem weißschimmernden wie zusammenphantasierten Licht.

In der Ferne kam eine weiße Boeing in Sicht, die Reifen des Fahrwerks so hoch wie ein Mensch.

Christiane saß in einem Bus, der nicht von Fliegen und Straßenschmutz beflogen war wie die Linienbusse in Eisenach, und die Frau neben ihr trug ein nach West-Orangen duftendes Parfüm.

Sie erinnerte sich an das Kompliment, das ihr vorhin jemand in der Abfertigungshalle gemacht hatte, als gehörte sie schon dazu. Als wäre das die einfachste und selbstverständlichste Sache der Welt.

Aber vielleicht war es das auch. Sie hatte sich so oft in diese Situation hineinphantasiert, daß sie sie perfekter beherrschte als die Menschen um sie herum. Nur für das Kompliment hatte sie sich nicht bedankt, aus Angst, ihre Stimme würde sie verraten. Die Stimme hätte vor Aufregung angefangen zu klirren. Statt dessen hatte sie sich bemüht, die Bordkarte betont gelangweilt und ebenso zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt vorzuzeigen wie der Geschäftsmann neben ihr.

Durch das Guckloch im Busfenster sah sie das Paradies.

Dann hielt der Bus. Die Türen zischten auf, die Gespräche um sie herum wurden kurz unterbrochen, bevor sie im Inneren des Flugzeuges neu sortiert fortgesetzt werden würden.

Christiane betrat vorsichtig die Gangway. Es kam ihr vor, als dürfte sie sich in diesem Licht nur sehr langsam bewegen. Sie ließ die Frau mit dem Orangenparfüm vorbei und Männer, die sich über ihre Sitzplätze beschwerten.

Eine Hand auf dem Geländer, dachte sie noch einmal an das Mädchen, das sie auch jetzt, 19 Jahre später, noch war. Obwohl das Hospiz und der Entzug der Staatsbürgerschaft und die erste Liebe schon hinter ihr lagen. Aber das Mädchen war immer noch da, als stünde es drüben auf der Plattform des Abfertigungsgebäudes und sähe zu, wie die Maschine ohne es abhob. Kabul, Paris, New York.

Bevor Christiane in den Flugzeugrumpf tauchte, drehte sie sich noch ein letztes Mal um.

Sie stand ganz oben auf der Gangway. Um sie herum waren nur der Morgenhimmel und ihre über den Schläfen verwehten Haare. Sie hielt die Haare über der Stirn zurück und versuchte, von hier aus das Ende der Startbahn zu erkennen. Die abgebrochene Kante, mit der der Asphalt belassen worden war. Aber die Startbahn verschmolz übergangslos mit dem Himmel.

Sie stand hoch oben am Anfang der Startbahn und dachte an ihre Mutter. Ihre Mutter mit den schwarzen Kopfhörern und den weißen Punkten vor sich auf dem Bildschirm. Sie saß in ihrem Tower auf der anderen Seite der Welt und würde den Punkt, in dem ihre Tochter saß, nicht von den übrigen Punkten unterscheiden können.

Mit dem Flug über den Atlantik begann etwas, was sich ihre Mutter nie würde vorstellen können.

Christiane atmete durch und lächelte jedem, der ihr nach die Gangway hochdrängte, ins Gesicht. Als die Stewardeß ihr unbekannte Tageszeitungen anbot, antwortete sie mit einem korrekten, auswendig gelernten englischen Satz.

Sie suchte nach Sitz 9A und schloß dann für einen Moment die Augen. Neben ihr saß die Frau mit dem Orangenparfüm.

Das Paradies begann mit diesem weißen Licht. Die Stewardessen servierten Lachsfilets, sprachen englisch und konnten es sich leisten, die Sonne im Bordfenster zu ignorieren. Als sie sich zu ihr hinüberbeugten, um ein Erfrischungstuch zu reichen, wich Christiane unmerklich zurück. Sie hätte sonst irgend etwas sagen müssen, ohne zu wissen was, dabei hatte sie auf einmal das Gefühl, alles sagen zu müssen, unbedingt der Frau neben ihr sagen zu müssen:

Jemanden teilhaben zu lassen, mehr noch, teilhaben lassen zu dürfen, während die Turbinen aufdrehten und das Flugzeug noch einmal zum letzten Bodencheck stehenblieb, bevor es an Geschwindigkeit gewann und abhob.

Zwischen zwei Bissen Lachsfilet sagte Christiane: »Das kriegt man nicht alle Tage, was?«

Die Frau mit dem Orangenparfüm lächelte ein junges, aber unbedeutendes Lächeln. Sie stocherte mit der Gabel im Aluminiumbecher und ließ die Hälfte zurückgehen. Über der Tragfläche leuchtete die Sonne.

Die schönsten Bücher, die es über Amerika gab, waren von Leuten, die niemals da gewesen waren.

Abziehbilder hatte es gegeben, die man sammeln konnte. Aber niemand hatte jemals eine vollständige Reihe besessen. Allein sie zu betrachten war ausreichend. An dem Theater, an dem Christiane gearbeitet hatte, hatte es Menschen gegeben, die nur dafür lebten. Zuerst hatte sie das bei den Garderobenfrauen gesehen.

Wenn Christiane während der Vorstellungen zum Rauchen hinausgegangen war, hatten die Garderobenfrauen ihr manchmal und hinter den Mänteln verborgen die Bilder gezeigt. Sie waren dünn und handflächengroß, mit roten oder grünen Rändern. Man konnte sie nach Automarken, Rockgruppen, Politikern oder Gebäuden ordnen. Sie waren abgegriffen und die Motive darauf kaum noch erkennbar, aber je abgegriffener sie waren, desto mehr liebten sie die Bilder. Es waren die Lücken, die sie daran liebten, die Gesichter der Rockstars oder die Kotflügel der Autos, die sie sich neu zusammendenken mußten.

Christiane verließ sich nicht auf die Lücken, sondern auf die Verbindungen zwischen den Dingen. Wie sie die Schauspieler in ihrer Bewegung über die Bühne herstellten. Sie kamen von der Seite, gingen hinüber zu einem Stuhl in der Mitte, betrachteten ihn, drehten ihn herum, gingen weiter nach vorn an den Bühnenrand. Es war ein Weg, der unterbrochen war von längeren oder kürzeren Pausen, aber schließlich zeichneten ihn die Stühle auf der Bühne nach, sobald die Schauspieler sie streiften. Die Bewegung konnte man auch später noch anhand der Stühle nachvollziehen.

Die Stühle von der letzten Probe würde man inzwischen weggeräumt haben. Nur die Garderobenfrauen würden noch eine Weile über die junge, unauffällige Kollegin reden, hinter den Mänteln versteckt, aber das einzige, was als Erinnerung an sie bleiben würde, wären die Gerüchte über eine Flucht. Auch das hätte sie der Frau mit dem Orangenparfüm gern erzählt.

Sie hätte sie auch um einen Gefallen bitten können. Es war Ende Mai, und Christiane hatte sich absichtlich um drei Wochen verspätet. Trotzdem hatte sie immer noch Angst, der Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte, würde auf sie warten. Er würde mit dem Fotoapparat dastehen und jeden Augenblick ihrer Ankunft festzuhalten versuchen. Er würde sie vor alle Sehenswürdigkeiten der Stadt stellen, die dann für ihn eine neue Bedeutung bekamen.

Sie hätte die Frau mit dem Orangenparfüm bitten können, vorauszugehen. Aber sie fiel schon auf wegen des Anoraks, den sie trug.

Die Leute am Laufband trugen Fellmäntel, gefütterte Lederjacken oder Baumwollschals. Sie trugen Hüte oder hauchdünne Seidenhandschuhe, als hätte jeder einen Teil des Körpers, der ihm wichtig war, schmücken wollen.

Das Laufband sprang mit einem Surren an. In ihrem Dederon-Anorak mußte sie zu sehen sein wie ein Leuchtfeuer. Sie zog die beiden Koffer vom Band und stellte sich in die Schlange vor dem Zoll. Niemand sah sie an. Nur der Zollbeamte gab ihr einen kurzen Blick, nahm ihr den Paß aus der Hand und knickte an den Seiten herum. Sie besaß nichts außer ihrer Unterwäsche, den Hemden und einer Vase, von der sie sich nicht trennen wollte.

Als sie in die Empfangshalle kam, durch die automatische Glastür hindurch, dachte sie jeden Moment, in seine Augen zu sehen. Er hielt die Augen halb geschlossen, die dünnen Wimpern berührten fast seine Wange, während er ein ihr unbekanntes Bild in seinem Objektiv sah.

Sie hatte gern mit ihm getanzt. Seine Schulter roch jedesmal warm und nach chemischen Reinigungsmitteln. Sie hatte ihm kleine Zettelchen in die Schuhe gesteckt, die er als Unterpfand daließ bis zur nächsten illegalen Unterbrechung einer Transitreise. Später kam er öfter. Er besuchte sie monatlich, um die Behörden von der verlangten ernsthaften Absicht zu überzeugen. Rein politische Gründe, wie er sagte. Und alle Rechte vorbehalten. Dabei hatte er sie bereits als seine Ehefrau in den Mietvertrag eines New Yorker Apartments eintragen lassen. Das sagte er nicht beim Tanzen. Das sagte er nebenbei und als er, das zweite Paar Schuhe in der Hand, in ihrer offenen Wohnungstür stand. Nach einem Jahr endloser Anträge wäre es selbstmörderisch gewesen, das Verfahren an dieser Stelle abzubrechen.

An der Abspannkordel entlang standen Menschen in...


Strubel, Antje Rávik
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Antje Rávik StrubelAntje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)



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