E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Strubel Unter Schnee
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490151-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-10-490151-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antje Rávik Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lehrte am Deutschen Literaturinsitut und an der Washington University in St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Tupolew 134« (2004) und »Kältere Schichten der Luft« (2007), für den sie mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman »Blaue Frau«. Im März 2025 erschien ihr jüngster Roman »Der Einfluss der Fasane«. Außerdem veröffentlichte sie Essays und Reiseerzählungen über Schweden und Brandenburg. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u. a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de )
Autoren/Hrsg.
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Achte auf nichts meinetwegen
Es macht mich nervös, den Körper in einer Decke zu haben. Man kann nicht vor und zurück darin.
Unter der kratzenden Decke hervor sieht das Ende der Terrasse aus wie ein steil abfallender Berghang. Als könnte man sich in das weit geschwungene Tal stürzen, nur den Wind hören und das scharfe Zischen der Laufsohlen auf den verharschten Stellen, wo man sich weit vorlehnen muß, um das Gewicht zu halten.
Für heute haben sie Schneefall in den Nachrichten gemeldet, starken Schneefall, und die Lifte sind geschlossen. Der Himmel ist grau, undurchlässig, aber nicht von diesem diffusen Grau, das Schnee verspricht. Dann müßte sich auch der Geruch der Luft verändern. Die Luft müßte dichter werden oder graupelig, wie Evy dazu sagt. Wenn man dann noch im Wald unterwegs ist, stehen die Bäume unnatürlich still da.
Den Topf mit dem Glühwein haben wir vorsorglich drinnen gelassen. Unter der Felldecke ist es hier draußen auch so heiß genug.
»Und wenn es nun nicht schneit? Es schneit heute bestimmt nicht. Das versaut uns einen ganzen Tag!«
Evy antwortet nicht. Sie ist bis zum Hals verpackt und sieht aus, als würde sie schlafen. Sie hat so was im Gesicht, das sie dazu macht, so auszusehen. Nur die Augen machen das wieder wett, und manchmal ihre Art zu sprechen.
Aber ihr Glas ist zur Hälfte leer. Also schläft sie nicht. Vielleicht denkt sie auch an die versäumten Abfahrten, die Pisten, von denen wir nur die schwarzen nehmen, die direkt ins Tal schießen, ohne Umwege und mit eingebauten Buckeln. Die Pisten sind lächerlich kurz, selbst die schwarze hat kaum noch Schwierigkeitsgrade, wenn man an Dreitausender gewöhnt ist. Oben muß man sich abstoßen, um überhaupt loszukommen, dann steht man da und wartet, daß was passiert, und bevor es richtig abgeht, ist man schon wieder unten. Evy stört das alles nicht. Sie fährt hierher, seit sie drei ist, und ich wette, sie wird es noch ewig tun.
»Sieht nicht so aus, als ob die heute noch mal aufmachen. Was meinst du? Wir sollten fragen, ob wir das Geld für die Wochenkarte zurückkriegen.«
Evy antwortet nicht, immerhin greift sie zu ihrem Glas. In die Decke gepackt, die ihr bis zum Kinn reicht, wirkt sie wie ihre eigene Großmutter. Als hätte die Zeit sie überholt. Sie schiebt mit dem Handschuh die Decke weg, bevor sie sich auf dem geblümten Liegestuhlstoff aufstützt und das Glas ansetzt. Sie schlürft und läßt sich zurückfallen.
»Geiler Tag! Wie im Sanatorium.«
Evy winkt nur ab. Als würde sie denken, daß Abwinken so gut ist wie eine Antwort. Aber vielleicht denkt sie wirklich so. Das Ende der Terrasse ist ungefähr zwei Meter von meinen Füßen weg, die in der Decke stecken wie im Strampler. Sie glaubt, das Abwinken würde mir reichen.
Ich versuche, mir den Ausblick vorzustellen, den man vom Ende der Terrasse aus hat; eine scharf gezackte Bergwand. Der Wind hat nur an die ungeschützten Stellen Schnee geweht, der jetzt festgefroren ist und die Bergwand noch kantiger macht. Zerklüftet. Und direkt daneben, im Schatten dieser Wand, führt die Piste abwärts. Von oben sieht es aus, als könnten die Ski bei dem Gefälle unmöglich noch Bodenhaftung haben. Aber so sieht es hier nie aus. Alles, was es hier gibt, sind niedliche Häuschen, sanfte Hügel und jede Menge Ostler. Und wenn man Pech hat, machen sie einfach die Lifte dicht.
»Wie spät ist es«, fragt Evy plötzlich. Sie hat die Augen nicht aufgemacht. Aber sie hat tatsächlich etwas gesagt.
»Keine Sonne, kein Schnee. Keine Ahnung.« Der Glühwein ist lauwarm. »Aber gleich hab ich ein Problem.«
Evy brummt etwas in die Decke und schiebt den Arm mit dem Handschuh wieder darunter.
»Willst du nicht hören, was ich für ein Problem habe?«
»Was hast du für ein Problem«, sagt Evy, ohne sich zu rühren.
»Du willst es gar nicht wissen. Wie kannst du nur so gottergeben sein? Kaum sagen sie was in den Nachrichten, schon glaubst du dran.« Die Decke juckt am Gesicht und an den Händen, trotz der Handschuhe, und wenn man sie abwirft, sticht sofort die Eisluft unter die Baumwolljacke.
»Es ist so klar, daß es für Wochen keinen Schnee geben kann! Der reinste Hochglanzhimmel. Wie kann man da so rumliegen!«
»Ich bin Atheistin«, sagt Evy. »Und Gott und die Nachrichten sind zwei getrennte Dinge. An das eine glaubt man, und das andere muß man glauben.«
»Ahso.« Ich stülpe das Glas verkehrtherum auf den eisigen Terrassenboden. Ein Ring bildet sich, in dem der Glühweinrest rot anfriert. In der Ferne sind die Masten des Sessellifts zu sehen.
»Sie fahren nicht! Wenn sie die Entscheidung wenigstens uns überlassen würden. Statt dessen machen sie einfach dicht.«
»Der Wind ist zu stark«, sagt Evy, ohne die Augen aufzumachen. »Die Sessel würden zu sehr schwanken. Die Tatra-Leute sind dafür bekannt, daß sie bei ihren Liften auf Nummer Sicher gehen.«
»Auf Nummer Sicher? Ich würde eher sagen, ihr habt euch immer schon gern ein bißchen maßregeln lassen –«
»«, sagt Evy und richtet sich auf.
Jetzt hab ich sie. Sie haßt es genauso wie ich, sie tut nur nichts. Es kommt mir vor, als hätte sie nie etwas getan, nur immer so gelegen – und ich habe ihr immer dabei zugesehen. Zwei Jahre lang. Immer den Kopf in die rechte Hand gestützt und abgewartet.
Als ich mich umdrehe, ist Evy dabei, sich auszuwickeln. Sie kommt auf Strümpfen über den eisigen Terrassenboden gehüpft.
»Guck dir mal die Äste an«, sagt sie ruhig und ohne weiter auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn sich nur die oberen Astspitzen bewegen, kommt ein Sturm auf, nicht wahr?« Es ist wie immer. Seit zwei Jahren gibt es diese Gespräche, das scharfe Abmessen der Gedanken, bevor sie etwas sagt, und wenn es ihr zu brenzlig wird, kommt nichts mehr, keine Reaktion. Statt dessen nickt sie nur hinüber zu dem einzigen Baum vor unserer Ferienhütte, einer dürren Kiefer, und sagt irgendwas, um mich abzulenken. Es ist ihr peinlich, wenn ich so rede, auch wenn es niemand außer uns beiden hört. Die Vermieterin wohnt in einem winzigen Zimmer im Erdgeschoß, außerdem ist sie Tschechin und stocktaub.
»Nicht wahr.«
»Es ist aber auch kalt.« Evy zieht einen Fuß an und greift nach meinem Arm. Schon an unserem ersten Treffen muß ihr irgendwas peinlich gewesen sein. Ich hatte sie achtlos in einem Schwung geschnitten, und wir waren in hohem Tempo aneinandergeprallt. Es hätte nicht sein müssen, die Piste war an dieser Stelle breit und übersichtlich. Aber statt sich aufzuregen, hatte sie eilig ihre Ski zusammengesucht und dann so was gesagt wie: , oder so ähnlich. In ihrer leicht spöttischen Art.
Evy hatte Abfahrtsläuferin werden wollen und war es nicht geworden. , sagte sie, als wir nach dem Unfall im Schnellrestaurant an der Liftstation saßen und Grog tranken.
Evy will immer etwas sein und ist es dann nicht. Auch dieser erste Satz war nicht spöttisch gemeint.
»Warum gehen wir nicht einfach rüber und machen ein bißchen Streß? Dann machen sie die Lifte schon auf. Die wollen doch schließlich was verdienen, oder?«
Harrachov ist ein Kaff, wenn die Lifte stillstehen. Die Touris drängeln sich in den drei Läden auf der Hauptstraße oder in den frisch renovierten Bars. Die Bars haben silberne Tanzflächen und werden mit blauem Neonlicht bestrahlt wie in den Achtzigern.
Evy hüpft zu ihrem Liegestuhl zurück und ruft über die Schulter: »Ich suche schon mal die Nummer der Bergwacht heraus, du Heldin!«
Sie hat Übung darin, vernünftig zu sein, als hätte sie schon die Muttermilch in kleinen, vorsichtigen Portionen getrunken. Allein wegen ihrer Art, manche Worte so überlegt auszusprechen, würde ich am liebsten losgehen.
Die Masten des Lifts in der Ferne verschwinden im Dunst, dann werden sie wieder deutlicher. Vielleicht wird es tatsächlich noch schneien. Aber wenn, dann so, wie es im Mittelgebirge schneit. Sanft, in großen Flocken und ungefährlich. Die Berge sind kaum höher als tausend Meter. Höchstens die Buckelpiste werden sie danach neu präparieren müssen.
Evy hat sich wieder in die Decke gewickelt.
»Wir sollten uns wenigstens das Geld wiedergeben lassen.«
»Hör mal, wie still es ist«, sagt Evy und hat die Augen schon wieder geschlossen. »Wenn du dich nicht rührst, kannst du spüren, wie der Wind näher kommt.«
Evy erträgt alles mit ihren geschlossenen Augen. Sie wird den ganzen Tag so in ihrem Stuhl ertragen. Meine Fingerspitzen werden taub, das Glühweinglas auf der Terrasse ist angefroren.
»Nadann. Viel Spaß noch. Ich geh rein.«
Im Fernsehen kommt Frankreich, Unruhen in Paris, der Regierungschef ist ratlos. Wenigstens da gibt es noch Bewegung. Der Wetterbericht ist aussichtslos. Schneestürme im gesamten Riesengebirgsraum und weitere Tiefausläufer über Skandinavien.
»Du bist unruhig wie eine Katze, wie eine rollige«, Evy steht plötzlich hinter mir. Sie schiebt mir eine Hand um den Bauch herum und drückt leicht mit dem Knie gegen mein rechtes Bein.
Ich sage darauf, was man sagt, wenn man sich nicht traut, sich zu rühren.
Wenn ich mich umdrehe oder auch nur bewege, wird Evy ihre Hand zurückziehen und aussehen, als hätten wir uns gerade über Politik unterhalten.
»Es gibt Schlimmeres als solche Tage«, sagt Evy.
Als ich mich doch umdrehe, sieht sie wirklich aus, als hätten wir uns über Politik unterhalten, und beginnt, Holzscheite in den Kamin zu schieben. So, von hinten, hat sie die schwerfälligen Rückenbewegungen ihrer Mutter. Dabei ist Evy schmal wie ihr Gesicht, wenn es schläft. Ich habe nächtelang in dieses Gesicht gesehen, beschienen...




