E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Struhar Die vertrauten Sterne der Heimat
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99047-017-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-99047-017-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Stanislav Struhar: 1964 in Gottwaldov (heute Zlín) geboren, versagte sich dem Anpassungsdruck des tschechoslowakischen Regimes in den 1980er Jahren. 1988 floh er schließlich mit seiner Frau nach Österreich, doch die Zusammenführung mit dem in der Tschechoslowakei gebliebenen Kind gelang erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Seit jungen Jahren schreibt Struhar Gedichte und Prosa, zuerst noch in tschechischer Sprache, bald aber in deutscher Sprache. Sein bisheriges literarisches Schaffen wurde durch Stipendien unterstützt und erhielt zahlreiche Anerkennungen. Stanislav Struhar lebt heute in Wien. Zuletzt bei Wieser: 'Fremde Frauen' (zwei Erzählungen, 2013), 'Das Gewicht des Lichts' (Roman, 2014, erschien soeben auch auf Tschechisch).
Autoren/Hrsg.
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1
Die Sonne sank schon hinter den Baumkronen, der Wind legte sich. Eine Brise atmete von den Bergkämmen, sie war still wie die nahen Wolken, die gegen Bajardo zogen. Unter dem sattgrünen Gezweig wurden die Düfte des Frühlings zart, wohltuend mutete die abendliche Kühle an.
Gelächter ertönte auf dem Tennisplatz am Saum des Waldes. Sibylles Haar strömte hellblond über ihr weißes Hemd, und in dem milden Licht des offen liegenden Spielfeldes nahm die Farbe ihrer Augen einen steinblauen Ton an, der Teint ihres schmalen Gesichts einen milchigen Glanz.
»Der wird dich nicht mehr anrufen!«, rief sie und schloss ihre Hand fest um den Griff ihres Schlägers. Ginevra trank noch einen Schluck Mineralwasser und stellte die Flasche zu ihrem Rucksack. Er müsse sich damit endlich abfinden, dass es aus sei, sagte sie wie zu sich selbst, langte nach ihrem Schläger und kehrte zurück auf das Spielfeld. Eine Weile lachten sie noch, bis ihr Spiel wieder an Härte zunahm. Sie liefen unermüdlich, so schnell sie konnten, den Atem laut und von Aufregung durchdrungen, die Schläge wild.
»Der war draußen!«, rief Ginevra, hob den Ball und steckte sich das Haar hinters Ohr. Sie besaß schönes Haar, schwarz und dicht, das in vielen Locken ihr rundes Gesicht umsäumte, wie eine Mähne auf ihre Schultern fiel.
»Nein, schau doch seine Spur, der war drinnen!«, rief Sibylle.
»Ich sehe keine Spur!«
»Fang bitte nicht schon wieder an!«
Ginevras Handy läutete, sie blickte zu ihrem Rucksack; rasch und ruckartig war die Bewegung ihres Kopfes, als hätte sie sich erschrocken, sie riss die Augen auf. Sie lief aus dem Spielfeld, nahm das Handy und sah nach. Ein Lächeln stieg auf den sinnlichen Schwung ihrer Lippen, und sie begrüßte ihre Mutter. Sibylle legte den Schläger auf den Boden, steckte ihr Hemd zurück in ihren Rock. Ihr Rock war schwarz wie ihre Strumpfhose, er machte ihre Hüften gleichmäßig glatt und schlank. Sie hob den Schläger auf und sah zu Ginevra, die ihrer Mutter versprach, sich zu beeilen.
»Ich muss nach Hause, meine Eltern stehen vor meiner Tür. Ich habe völlig vergessen, dass sie heute kommen wollten.«
Während Sibylle aus ihrer Flasche trank, sah sie, wie Ginevras Vespa hinter dem Friedhof verschwand. Sie nahm ihre Handtasche und ging zum Auto. Langsam legte sie alles in den Fond, und ihr Blick verharrte auf dem Friedhof, dann schloss sie die Tür.
Sie wusste, dass der Friedhof verlassen war, dennoch öffnete sie das Tor mit leichtem Druck, ganz behutsam, um jedes Knarren zu vermeiden. Sie ließ das Tor offen stehen, und der erste Grabstein erhob sich vor ihren Augen. In vollkommenem Frieden lag der Friedhof, wie ein Garten in sich verschlossen, sanft in Stille getaucht. In einem der Schatten, die seine Bäume warfen, blieb Sibylle stehen, und zärtlich lächelte sie einen kleinen Grabstein an.
»Heute habe ich keine Blumen mit, aber nächstes Mal bringe ich dir welche«, flüsterte sie, auf Deutsch. »Ich war mit Ginevra Tennis spielen. Wir haben uns fast gestritten.«
Sie nahm die alten Blumen aus der Vase, hockte sich hin und befreite die Grabkante von Erde.
»Du machst es deiner Mutter so schön!«, kam es von einem Weg, und Arnaldo, der zu einer Grabmauer eilte, winkte Sibylle. Sie erwiderte seinen Gruß, sah wieder auf die Fotografie ihrer Mutter.
»Der arme Arnaldo, sein Manuele wäre schon neunundzwanzig, so wie ich. Es ist schrecklich, das eigene Kind verlieren zu müssen.«
Die alten Blumen in der Hand, verabschiedete sie sich, dann schlenderte sie zum Ausgang. Sie entsorgte die Blumen, schloss das Tor und ging zum Auto.
Auf dem schmalen Weg, der im Halbdunkel der Bäume am Friedhof entlanglief, rollte sie im Schritttempo, erst als das Abendlicht sich ins Auto ergoss, beschleunigte sie. Die Straße zum historischen Ortskern lag menschenleer, schon ihre ersten Häuser schwiegen verschlossen, Autos standen verlassen. Vor einem der Häuser hielt sie, öffnete das Fenster und lächelte die Eselin Aleria an, die hinter dem Zaun stand.
»Nächstes Mal werde ich dich streicheln, ganz bestimmt«, sagte sie, bevor sie weiterfuhr.
Als sie aus dem Auto stieg und die erste Gasse betrat, bemerkte sie Angelica und Teresa, die zwei hübschen brünetten Mädchen. Sie saßen an einer Hausmauer und hatten mit ihren Handys gespielt, nun aber waren ihre Stimmen aufgeregt und laut, denn sie stritten sich.
»Wie du und Ginevra«, sagte Ludovica, die an ihrem Küchenfenster erschien.
»Bist du beim Kochen?«, fragte Sibylle.
»Nein«, antwortete Ludovica und beklagte sich darüber, dass sie seit Tagen unter Schmerzen in den Gelenken litt.
»Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
»Danke, das ist lieb. Ich bin zwar alt, aber ich schaffe alles noch alleine.«
»Wie geht es Erica?«
»Sie hat gestern angerufen«, antwortete Ludovica und erzählte, was Erica ihr über die Müllprobleme in Neapel berichtet hatte. Sibylle hörte ihr aufmerksam zu, dann fragte sie, wie es Ericas Familie gehe. Es gehe ihnen gut, Agostino sei mit der Schule schon fertig und wolle studieren.
»Da hast du aber einen fleißigen Enkel. Wann kommen sie dich besuchen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Ludovica und wurde ernst.
Als Sibylle an den Mädchen vorbeikam, fragte sie, was für ein Spiel sie spielten. Die Mädchen zeigten es ihr, und sie hockte sich hin.
»Du hast so schöne Haare«, sagte Angelica.
»Meine Mutter hat solche gehabt«, sagte Sibylle.
»Ist deine Mama schon lange tot?«, fragte Teresa.
»Schon ein paar Jahre«, antwortete Sibylle.
»Und dein Papa?«, fragte Angelica.
»Der hat uns verlassen«, antwortete Sibylle und sah sie beide an. »Ich war damals elf. Ihr seid auch elf, oder?«
»Ja«, antwortete Angelica.
»Wir haben gehört, dass du auch in San Remo eine Wohnung hast«, sagte Teresa.
»Ich habe dort eine kleine Wohnung, damit ich nicht jedes Mal nach der Arbeit nach Bajardo muss.«
»Bist du wirklich eine Österreicherin?«, fragte Angelica.
»Nach meiner Mutter bin ich Österreicherin und nach meinem Vater Italienerin. Aber ich bin hier geboren, und hier habe ich genauso wie ihr gespielt. Und mich gestritten.«
»Wir streiten uns nur manchmal«, sagte Angelica und sah Teresa an. Sibylle lachte, dann fragte sie, ob sie mal mit ihnen spielen dürfe, und als die Mädchen bejahten, ging sie weiter. Am Ende der Gasse sah sie den weißen Kater Teodoro, wie er vor der Haustür des betagten Leonardo stand und hinauf zur Türklinke miaute. Die Tür öffnete sich und Leonardo kam heraus, der Kater fing an, sich an seiner Hose zu reiben.
»Wie ich sehe, hast du Besuch bekommen«, sagte Sibylle.
»Er kommt nur dann, wenn er Lust hat oder wenn er hungrig ist.«
»Typisch Mann.«
»Warst du Tennis spielen? Du bist ganz schön fit, so eine Frau können Männer sich nur wünschen.«
»Du hast die beste Frau gehabt, die ein Mann sich wünschen kann.«
»Ich weiß«, sagte Leonardo und fügte sogleich hinzu, dass vorige Woche seine Enkelin angerufen habe. Seine Augen funkelten, während er erzählte, wie gut es der Familie seines Sohnes in Mailand gehe, seine Stimme erbebte in freudiger Aufregung, als er kicherte.
Nachdem er sich wieder dem Kater zugewandt hatte, verabschiedete sich Sibylle. Vom Schatten umfangen ging sie den engen Weg, der verborgen zwischen Häusern lag, weiter hinauf, und in der nächsten Gasse beschleunigte sie noch ihre Schritte. Sie betrat einen Durchgang, und Enzo bellte sie an, der kleine schwarze Mischling, der hinter seinem Pförtchen Wache hielt, seinen Garten verteidigte. Danach erhob sich die Ruine der alten Kirche über die Dächer der Häuser, und Sibylle nahm die Schlüssel aus ihrer Handtasche. Sie schloss die Tür ihres Hauses auf und bemerkte am Himmel eine dunkle Wolke. Rasch legte sie ihre Sachen ab, dann lief sie durchs Haus in den Garten, um ihre Wäsche einzusammeln.
Als sie unter die Dusche stieg, kam ihr die Erinnerung daran, wie Ginevra über ihre Trennung von Filippo erzählt hatte. Auch während sie sich in der Küche das Essen bereitete, dachte sie an Ginevra und Filippo. Draußen wurde es schon dunkel; sie öffnete das Fenster und stellte fest, dass das Gras trocken war.
Der Himmel war voll Sterne. Sie stellte das Tablett mit dem Essen auf den Tisch im...