Dietmar Rombach saß auf seinem Schreibtisch zwischen Akten und Computer und baumelte mit den Beinen wie ein schulpflichtiger Lausbub. Dabei war der Juniorchef der Holz- und Sägewerke Rombach 38 Jahre alt. Als einziges Kind der Familie sehr verwöhnt aufgewachsen, fühlte er sich noch immer wohl in der Rolle des Jugendlichen, dem man vieles nachsah.
Während er lässig das Handy ans Ohr hielt, betrachtete er das Hochglanzfoto eines rothaarigen Mannequins. Obwohl dies nichts mit seinen Aufgaben als Geschäftsführer der Firma Rombach zu tun hatte, gab es in seinem Schreibtisch mehr solche Fotos als Arbeitsunterlagen.
»Ich bin richtig happy, mal wieder deine Stimme zu hören«, sagte er in jener sorglosen, flapsigen Art, die Judith, seine geschiedene Frau, nervös machte.
Als sie den um ein Jahr älteren Dietmar kennenlernte, hatte sie gerade das Abitur bestanden. Damals imponierte ihr der gutaussehende Student sehr. Sie fand es gut, daß er sich die jugendliche Fröhlichkeit bewahrt hatte. Ein Jahr später waren sie verheiratet, und wiederum ein Jahr später kam Sanja, ihre älteste Tochter, zur Welt. Sie waren sehr glücklich, aber immer häufiger störte sich Judith daran, daß Dietmar ihr alle Verantwortung zuschob und sich beharrlich weigerte, erwachsen zu werden. Daran änderte sich auch nichts, als Sohn Heiko und vier Jahre danach Nesthäkchen Philipp geboren wurden. Es gab immer wieder Streit. Als sich Dietmar eine Freundin zulegte, ließ sich Judith scheiden. Das war vor sieben Jahren.
»Daß ich dich anrufe, hat einen ernsten Hintergrund. Also sei wenigstens für einige Minuten vernünftig«, verlangte Judith streng.
»Jawohl. Was gibt es denn? Ist eines der Kinder krank oder haben sie etwas angestellt?« Dietmar hatte sich mit der Vaterrolle nie anfreunden können. Er wurde auch nicht gerne daran erinnert, daß er drei Kinder hatte, denn dabei regte sich in ihm prompt das schlechte Gewissen. Er sorgte zwar finanziell für seine Familie, doch das war auch schon alles.
»Weder – noch. Es geht um mich. Ich war zehn Tage lang im Krankenhaus. Habe eine ziemlich schwere Operation hinter mir. Magen- und Darmgeschichte.«
»Du, Hasilein?« fragte Dietmar erschrocken. Er benützte das alte Kosewort, bei dessen Klang Judith noch immer Herzklopfen bekam. »Aber davon wußte ich ja nichts. Wie kam das denn?« Dietmar war richtig besorgt. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auf dem zur Seite gelegten Foto mit dem Finger die aufregenden Kurven des rot-haarigen Mannequins nachzufahren.
Judith winkte ab, was ihr geschiedener Mann natürlich nicht sehen konnte. »Erspare mir die Einzelheiten. Es war eine sehr unangenehme Geschichte. Der Doc hat mir erzählt, daß ich beinahe nicht mehr aus der Narkose erwacht wäre. Sie mußten eine Herzmassage vornehmen und mich noch eine ganze Weile künstlich beatmen. Die Sache hat mich sehr mitgenommen. Ich fühle mich noch entsetzlich schwach, und schon die geringste Anstrengung bringt mich außer Puste. Die Ärzte meinen, ich müßte unbedingt zur Kur, um mich zu erholen. Zuerst habe ich mich dagegen gewehrt, aber inzwischen sehe ich ein, daß es wirklich nicht anders geht.«
»Selbstverständlich. Du mußt dich auskurieren. Brauchst du Geld?« Dietmar hatte einen Stift zur Hand genommen und malte gelangweilt dem Mannequin einen Bart ins Gesicht.
Es war gut, daß Judith nichts davon ahnte, denn sie haßte Dietmars pubertäre Anwandlungen.
»Nein. Die Kosten übernimmt weitgehend die Krankenversicherung. Aber ich brauche jemand, der in dieser Zeit auf die Kinder achtet. Als ich ins Krankenhaus mußte, habe ich eine Haushaltshilfe engagiert. Doch das hat überhaupt nicht geklappt. Die Kinder haben sie geärgert, und sie hat schon nach zwei Tagen aufgegeben, ist einfach nicht mehr gekommen. Deshalb dachte ich, ob du einspringen könntest. Es handelt sich um genau vier Wochen.«
»Iiich?« Dietmar ließ vor Schreck den Stift fallen, sprang mit einem Satz vom Tisch und schüttelte das Handy, als hoffte er, sich verhört zu haben.
Im nächsten Moment wurde ihm klar, daß das Gerät keine Störung hatte. Judith sprach weiter. Ruhig, vernünftig und bestimmt, wie es ihre Art war. »Du bist der Vater, und du hast dich bisher herzlich wenig um deine Kinder gekümmert.«
»Weiß ich ja«, räumte Dietmar zerknirscht ein. »Ich bin einfach ungeeignet«, meinte er achselzuckend. »Du machst das alles viel besser.«
»Dietmar, ich würde dich nicht um diese Gefälligkeit bitten, wenn das nicht ein absoluter Notfall wäre. Ich könnte die Kinder auch in ein Heim geben, aber das möchte ich ihnen ersparen. Ist doch sicher auch in deinem Sinne.«
»Du vergißt, daß ich in der Firma gebraucht werde«, versuchte es Dietmar mit einer Ausrede. Wie immer, wenn er in Bedrängnis kam, zerzauste er mit gespreizten Fingern sein dichtes blondes Haar, um das ihn viele beneideten.
»Dein Vater kann dich vertreten, und wenn du ihm erklärst, um was es geht, ist er sicher gerne einverstanden.« Judith hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Schwiegereltern, die beide kränklich waren und denen sie deshalb die Betreuung der lebhaften Kinder nicht zumuten konnte.
Dietmar unterdrückte einen tiefen Seufzer. Judiths Ansinnen versetzte ihn in Panik. Seine sonst so strahlenden blauen Augen sahen ängstlich auf das Handy. »Du weißt doch, ich habe kaum Kontakt zu Sanja und den Jungen. Ich sehe sie zu Geburtstagen und zu Weihnachten, aber sonst…«
»Das liegt ja wohl an dir«, warf Judith ihrem Ex-Eheman verärgert vor. »Außerdem ist es nie zu spät, sein Verhalten zu korrigieren.«
»Die Kinder werden mich nicht akzeptieren.« Dietmar wischte sich über die schweißfeuchte Stirn.
»Auch das hängt ganz von dir ab. Die Kinder sind zwar kritisch, aber objektiv. Wenn du dir etwas Mühe gibst, und wenn sie spüren, daß du dich wirklich für sie und ihre Probleme interessierst, werdet ihr euch gut vertragen.«
»Davon bin ich nicht überzeugt«, meinte Dietmar mutlos. Bisher war es ihm nie gelungen, Kontakt zu den Kindern zu finden. Doch vielleicht hatte er es auch nie gewollt.
»Dietmar, es kommt wirklich selten vor, daß ich dich um etwas bitte. Deshalb erwarte ich, daß du meinen Vorschlag nicht ablehnst. Es ist sehr wichtig für mich zu wissen, daß die Kinder während meiner Abwesenheit gut versorgt werden. Ich hätte sonst keine ruhige Minute.« Judiths Stimme klang beschwörend.
In Gedanken sah Dietmar sie vor sich. Mittelgroß, zierlich mit mädchenhafter Figur und großen braunen Augen. Besonders hatte er früher die Flut ihrer langen braunen Locken geliebt, die ihr hübsches Gesicht wie ein kontrastvoller Schmuck umschmeichelten. Rombach war zum Egoisten erzogen worden, aber er war trotz allem gutmütig. Deshalb stimmte er Judiths Vorschlag zu, obwohl er genau wußte, daß alles schiefgehen würde. Er verstand sich weder auf die Betreuung von Kindern noch auf die Führung eines Haushalts.
»Okay, ich tanze an und halte Ordnung«, versprach er, seine düsteren Vorahnungen übergehend. »Wenn du mir ein paar Tips gibst, auf was zu achten ist, klappt sicher alles ganz hervorragend.« Dietmar war vom Gegenteil überzeugt, doch das behielt er für sich. »Soll ich bei dir vorbeischauen, oder können wir uns irgendwo treffen?«
»Das wird nicht nötig sein«, wehrte sich Judith erschrocken. Dabei war ihr bewußt, wie schlecht sie im Moment aussah. Sie hatte stark abgenommen, war bleich und wirkte kraftlos, eben wie nach einer schweren Krankheit. So sollte Dietmar sie nicht sehen. Er war ihr noch immer nicht gleichgültig, weshalb sie in diesen sieben Jahren auch nie Kontakt zu einem Mann hatte. Dabei gab es genügend nette Typen, die sich um sie bemühten. »Ich werde dir eine Liste mit allen nötigen Informationen hinterlassen. Außerdem kannst du dich ja mit Sanja absprechen. Mit ihren 15 Jahren ist sie schon sehr vernünftig.«
»Dann werden wir uns also gar nicht sehen? Das ist aber sehr bedauerlich«, meinte Dietmar charmant. Auch das gehörte zu seinem Wesen. Er war daran gewöhnt, mit solchen Äußerungen und entsprechenden Blicken Aufmerksamkeit bei den Damen zu erregen. Manchmal, oft sogar, bedauerte er die Trennung von Judith. Sie war seine erste große Liebe, und sie war die einzige, für die er auch jetzt noch etwas empfand. Seine zahlreichen Freundinnen dienten nur der Unterhaltung und der Befriedigung seiner Eitelkeit.
Judith war hart geblieben und hatte mit Dietmar vereinbart, daß er ins Haus kam, wenn sie bereits abgereist war. Auch sein Angebot, sie ins Kurheim nach Badenwei-
ler zu fahren, lehnte sie rundweg ab.
Die Zubereitung des Essens strengte Judith an. Sie war völlig erschöpft, als sie den Auflauf in den Backofen schob und im Glasanbau des Eßzimmers den Tisch deckte.
Dietmar hatte seiner Familie das damals neu erbaute Eigenheim überlassen, als er wieder in die Villa seiner Eltern zog. So wohnte Judith mit ihren Kindern schön und ruhig. Dank Dietmars...