Szalay | Was ein Mann ist | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Szalay Was ein Mann ist

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-25946-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

ISBN: 978-3-446-25946-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ich bin nicht mehr jung - aber wann ist das passiert?', stellt James nach einem missglückten Flirt fest. Ob es der Teenager auf einer Interrail-Reise ist oder der in den Süden ausgewanderte Rentner: James und acht weitere Männer im Alter von siebzehn bis siebzig, unterwegs irgendwo in Europa, müssen sich beweisen, mit Frauen oder woran sie sich sonst klammern. Sie würden gerne stark sein. Meist aber sind sie feige, unbeholfen, eitel, wenn nicht gar widerwärtig. Und doch auch bemitleidenswert und zerbrechlich in ihrer verspäteten Reumütigkeit. Mit einzigartiger Raffinesse und Ironie dringt Szalay, der neue Star der britischen Literatur, mit seinem Roman in die wenig erkundete Psyche des modernen Mannes.

David Szalay, 1974 in Montreal, Kanada, geboren, wuchs in London auf. Er studierte an der Universität Oxford. Mit Was ein Mann ist, seinem vierten Roman, der 2018 bei Hanser erschienen ist, kam er 2016 auf die Shortlist des Man-Booker-Preises. 2020 erschien bei Hanser sein neuer Roman Turbulenzen.
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1


Berlin Hauptbahnhof.

Hier fahren die Züge aus Polen ein, hier sind die Engländer, aus Krakau kommend, soeben eingetroffen. Sie sehen schrecklich aus, die beiden Teenager, erschöpft durch die lange Zugfahrt, mager und dreckig nach zehn Tagen Interrail. Einer von beiden, Simon, starrt teilnahmslos ins Leere. Ein hübscher Junge mit hohen Wangenknochen und ernster, nervöser Miene. Sieben Uhr morgens, aber die Kneipe im Bahnhof ist laut und verraucht, und er lauscht missbilligend dem Gespräch zweier Männer am Nachbartisch – einer von ihnen offenbar Amerikaner, der andere ein älterer Deutscher, der lächelnd sagt: »Ihr habt nur vierhunderttausend Soldaten verloren. Wir haben sechs Millionen verloren.«

Die Antwort des Amerikaners geht im Lärm unter.

»Die Russen haben zwölf Millionen verloren – wir haben sechs Millionen getötet.«

Simon zündet sich eine polnische Zigarette an, sieht das Wort »Spiegelei« auf der laminierten Speisekarte, das für den Kellner auf den Tisch gelegte Geld – Euro, hübsches, modern gestaltetes Geld. Die Schriftart, die man verwendet hat, gefällt ihm, schlicht, schnörkellos.

»Allein in Leningrad sind eine Million Menschen umgekommen. Eine Million!«

Die Leute trinken Bier.

Ein Nieselregen fällt auf den grauen Bahnhofsvorplatz.

Es gab eine Diskussion mit dem Kellner – ob es möglich sei, ein Kännchen Kaffee mit zwei Tassen zu bekommen. Es war nicht möglich. Sie mussten sich eine Tasse teilen, Simon und sein Freund, der jetzt in einer Telefonzelle steht und versucht, Otto anzurufen – ihre Handys funktionieren nicht –, halb verborgen unter der milchigen Plastikhaube.

Der Kellner mit der fleckigen, weinroten Weste war unverschämt, denkt Simon. Den anderen Gästen gegenüber ist er jedoch unterwürfig – Simons wachsamer Blick folgt seinem Weg durch Rauch und Lärm –, Männern mit Anzug und Zeitung wie jener, der jetzt aufblickt, kurz und verkniffen lächelt und auf die Uhr schaut, während der Kellner das Tablett ablädt.

Eine neue Durchsage mit Informationen zu den Zügen. Eine schneidende Stimme, von draußen hereindringend, wo der Wind durch den weiten Bahnhof fegt. Eine Stimme wie ein Wasserhahn, aus dem Töne fließen – mal aufgedreht, mal zugedreht.

Inzwischen kennt Simon die simple Tonfolge, die jedem Erguss dieser Stimme vorausgeht,

dieser Stimme und ihres Echos.

Und wenn diese simple Tonfolge erklingt, kommt sie ihm vor wie eine Vertiefung seiner Erschöpfung, wie etwas in seinem Inneren, etwas Persönliches.

Der Kellner verneigt sich regelrecht vor dem Mann im Anzug.

Das Leben im Bahnhof tost und wirbelt wie ein schmutziger Strom. Menschen. Menschen fließen durch den Bahnhof wie ein schmutziger Strom.

Und wieder diese Frage –

Was tue ich hier?

Er sieht, wie sein Freund Ferdinand den Hörer der Telefonzelle einhängt. Sie versuchen schon seit Tagen, Otto zu erreichen – ein Typ, den Ferdinand vor einigen Wochen in London kennengelernt hat, ein junger Deutscher, der ihnen, vermutlich blau, sicher in der Überzeugung, dass es nie dazu käme, angeboten hat, bei ihm zu wohnen, sollten sie mal in Berlin sein.

Ferdinand kehrt mit besorgter Miene an den Tisch zurück.

»Wieder nicht erreicht«, sagt er.

Simon schweigt und raucht. Er hofft insgeheim, Otto möge nie ans Telefon gehen. Die Vorstellung, bei Otto zu wohnen, hat ihm nie gefallen. Er hat ihn in London nicht kennengelernt, und was er über ihn gehört hat, passt ihm nicht.

Er fragt: »Und jetzt?«

»Keine Ahnung«, sagt sein Freund. »Wir könnten einfach zur Wohnung fahren.« Er hat Ottos Adresse – Otto erwartet sie irgendwann in diesem April, das jedenfalls haben sie von London aus verabredet, vage, auf Facebook.

Sie fahren zwei Stationen mit der S-Bahn und suchen lange nach der Wohnung, und als sie diese endlich finden – überraschenderweise in einer dreckigen, kleinen Seitenstraße –, ist bis auf einen Polizisten in blauer Uniform niemand dort. Er wartet ein Stockwerk unterhalb der Wohnung im trüben Licht eines Fensters auf einem Treppenabsatz.

Weil sie nicht wissen, wieso der Polizist dort steht,

Wurde Otto ermordet?

zögern sie.

»Tag«, sagt der Mann. Seine Stimme verrät eindeutig: Niemand wurde ermordet.

Sie erzählen, dass sie zu Otto wollen, und der Polizist, der offenbar weiß, wer Otto ist, erwidert, dieser sei nicht da. Niemand sei in der Wohnung, sagt er.

Sie warten.

Sie warten über eine Stunde. Ferdinand geht währenddessen mehrmals zur Telefonzelle in der Straße, um Leute anzurufen, die wissen könnten, wo Otto steckt, während Simon auf dem Fliesenfußboden des großen Eingangsflurs sitzt und versucht, in »Die Gesandten« voranzukommen, eine eselsohrige Penguin-Classics-Ausgabe, die in einer der Reißverschlusstaschen seines Rucksacks lebt. Seine müden Augen stoßen auf diese Worte:

Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben. Wenn Sie das nicht gelebt haben, was haben Sie dann überhaupt gehabt? Ich bin zu alt; zu alt jedenfalls für meine Einsicht. Was man verliert, hat man verloren; machen Sie sich da nichts vor. Immerhin haben wir die Illusion der Freiheit; vergessen Sie deshalb nicht, so wie ich heute, diese Illusion. Ich war im entscheidenden Augenblick entweder zu dumm oder zu klug, mich daran zu erinnern, und jetzt spricht aus mir natürlich die Reaktion auf diesen Fehler. Tun Sie, was Sie wollen, bloß begehen Sie nicht meinen Fehler. Denn es war ein Fehler. Leben Sie, leben Sie!

Er holt einen Stift aus der Tasche, in der das Buch steckte, und markiert diese Worte mit einem senkrechten Strich. Er notiert am Seitenrand: ZENTRALES THEMA.

Ferdinand kommt von der Straße herein, nass vom Nieselregen.

»Was machen wir jetzt?«, fragt er.

Wieder die S-Bahn.

Es regnet nicht mehr. Sie sehen so einiges durch das Fenster. Ein Abschnitt der Mauer, als Denkmal erhalten, bedeckt von psychedelischen Graffiti. Diese Welt haben sie nicht mehr erlebt. Sie sind zu jung. Sonnenschein auf den Brachen, er fällt durch Lücken in der Mauer. Sonnenschein. Durch die Fenster der S-Bahn, durch den Dreckschleier fällt er in Simons zurückscheuende Augen.

Was tue ich hier?

Was tue ich hier?

Die Bahn rumpelt über die Gleisanschlüsse.

Was tue

Die Bahn wird langsamer,

ich hier?

als sie eine Haltestelle erreicht – Warschauer Straße. Windige Bahnsteige, ringsumher Ödland.

Ein ödes Land.

April ist der …

Sie vergöttern Eliot und dessen wohlklingenden Pessimismus. Sie schauen ehrfürchtig zu Joyce auf. Er verkörpert, was sie sein wollen, ein Monument wie er. Und Shakespeares Tragödien. Und »L’Étranger«. Und das Elend von Wladimir und Estragon, mit dem sie sich gern identifizieren. Sie warten auf Otto.

Warschauer Straße. Züge fahren durch das üppig sprießende Unkraut. Frühlingsschauer bestreichen die abblätternden Bauzäune, von den Überführungen ergießt sich der Lärm eines unsichtbaren Verkehrs.

In Kreuzberg lassen sie sich erschöpft zum Essen nieder.

Kreuzberg ist eine Enttäuschung. Angeblich das Hipster-Viertel, der alternative Stadtteil. Ferdinand ist am tiefsten enttäuscht. Simon schiebt sich das Essen in den wohlgeformten Mund. Er hat kein Interesse daran, findet die Annahme seines Freundes, der Stadtteil wäre interessant, ziemlich naiv – sagt dies aber nicht laut.

Beim Essen diskutieren sie darüber, dass hier alles viel teurer ist als in Polen (sie waren in Warschau, Krakau und Auschwitz), wenngleich sie die höheren Preise für gerechtfertigt halten, weil in Berlin alles besser ist. Etwa das Essen. Sie schlingen es hungrig in sich hinein.

Dann kommen sie irgendwie auf ihre Schulkameraden. Sie sind im letzten Schuljahr, machen in diesem Sommer ihre A-Levels, hoffen, im Herbst mit dem Studium in Oxford beginnen zu können. (Darum wühlt sich Simon lustlos durch die Werke von Henry James, er sucht nach einem passenden Stoff für das »Internationale Thema«.)

Also reden sie über alle möglichen Leute – stimmen meist darin überein, dass es Arschlöcher sind –, und dann kommt Ferdinand auf Karen Fielding zu sprechen.

Als er den Namen nennt, als wäre dieser ganz banal, ahnt er nicht, dass sein Freund ständig von Karen Fielding träumt – Träume, in denen sie sich unterhalten oder Blicke tauschen, in denen sich ihre Hände kurz berühren, aus denen er in dem Glauben erwacht, immer noch ihre Hand zu spüren, erfüllt von einer flüchtigen, aber unbändigen Freude. Er notiert diese Träume in seinem Tagebuch, sehr gewissenhaft, füllt Seiten mit Spekulationen über ihre Bedeutung und das Wesen des Träumens an sich.

In der wachen Welt hat er kaum ein Wort mit Karen Fielding gewechselt, und sie ahnt nichts von seinen Gefühlen – außer sie hätte bemerkt, wie er sie mit Blicken verfolgt, wenn sie mit dem Tablett durch die Mensa geht oder mit matschiger Ausrüstung vom Lacrosse zurückkommt. Eigentlich weiß er nur eines über sie, nämlich, dass ihre Familie in Didcot lebt – das hat er aufgeschnappt, als sie sich mit jemandem...


Szalay, David
David Szalay, 1974 in Montreal, Kanada, geboren, wuchs in London auf. Er studierte an der Universität Oxford. Mit Was ein Mann ist, seinem vierten Roman, der 2018 bei Hanser erschienen ist, kam er 2016 auf die Shortlist des Man-Booker-Preises. 2020 erscheint sein neuer Roman Turbulenzen im Hanser Verlag.

Ahrens, Henning
Henning Ahrens, geboren 1964, lebt als Autor und Übersetzer in Frankfurt a. M. Er übersetzte Romane von Jonathan Safran Foer, Colson Whitehead, Saul Bellow, Hanif Kureishi u. a. 2021 erschien sein Roman "Mitgift".



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