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E-Book, Deutsch, 450 Seiten
Szalay Was nicht gesagt werden kann
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3679-4
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Nominiert für die Shortlist des Booker Prize 2025
E-Book, Deutsch, 450 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3679-4
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Szalay, 1974 in Montreal, Kanada, geboren, wuchs in London auf und lebt in Wien. Mit Was ein Mann ist, seinem vierten Roman, kam er 2016 auf die Shortlist des Man-Booker-Preises. Sein Werk wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ebenfalls auf Deutsch erschienen ist sein Roman Turbulenzen. Im claassen Verlag erscheint sein neuer Roman Was nicht gesagt werden kann.
Autoren/Hrsg.
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1
Er ist fünfzehn, als er mit seiner Mutter in eine neue Stadt zieht und auf eine neue Schule geht. Kein einfaches Alter für einen solchen Wechsel – das Sozialgefüge in der Schule ist gefestigt, es fällt nicht leicht, Freundschaften zu schließen. Irgendwann findet er einen Freund, ein Außenseiter wie er. Nach der Schule hängen sie manchmal in der neuen, westlich anmutenden Shoppingmall ab.
»Hast du’s schon mal gemacht?«, fragt sein Freund.
»Nein«, sagt István.
»Ich auch nicht«, sagt sein Freund, ein Geständnis, das irgendwie lässig klingt. Wenn er über Sex redet, dann offen und natürlich. Er erzählt István, welche Schülerinnen ihn reizen und was er in seiner Fantasie mit ihnen anstellt. Er onaniere vier-, fünfmal am Tag, sagt er, was István das Gefühl gibt, nicht zu genügen, er macht es höchstens ein-, zweimal. Als er das zugibt, meint sein Freund: »Dann muss dein Sexualtrieb ziemlich schwach sein.«
Könnte stimmen, findet István.
Er weiß nicht, wie es für andere ist.
Er hat nur seine eigenen Erfahrungen.
Eines Tages erzählt sein Freund, er habe es mit einem Mädchen gemacht, das auf der anderen Seite der Gleise wohne.
Eine verstörende Neuigkeit.
István lauscht seinem Freund, der detailliert schildert, was gelaufen sei. Er fragt sich, ob er die Wahrheit sagt oder lügt. Eigentlich wäre es ihm lieber, wenn er lügen würde, aber es könnte durchaus wahr sein. Manche Einzelheiten sind so speziell, so verblüffend, dass er sie schlecht erfunden haben kann.
Ein paar Tage später berichtet er dann, er habe mit dem Mädchen gesprochen, und sie habe sich bereit erklärt, es auch mit István zu machen.
»Ernsthaft?«, sagt István.
»Klar«, sagt sein Freund.
István fragt sich, was das heißen soll, ob sie es zu dritt machen werden oder nur er allein mit dem Mädchen.
Er traut sich nicht, nachzufragen.
Am gleichen Tag nehmen sie die Fußgängerbrücke über die Gleise.
Es dämmert schon.
Sie steigen die Metalltreppe auf der anderen Seite hinunter und gehen noch ein Stück, bis sie eine Hochhaussiedlung erreichen. Sie gleicht jener, in der István und seine Mutter wohnen, die Plattenbauten sind ähnlich, nur höher. Am Eingang eines Gebäudes tippt sein Freund die Nummer einer Wohnung ein.
Einen Moment später öffnet sich die Tür, ohne dass etwas gesagt worden wäre, und sein Freund stemmt sie auf.
Der Fahrstuhl riecht nach Zigaretten.
Während der Fahrt starrt István das Holzimitat der Kabinenverkleidung an.
Die Kabine gleitet träge nach oben, sie ächzt unaufhörlich, und wenn sie ein Stockwerk passieren, tickt es laut.
»Alles klar?«, fragt sein Freund.
»Ja«, sagt István.
»Du hast Schiss, oder?«, sagt sein Freund.
»Nein«, sagt István.
Sie steigen in einem der obersten Stockwerke aus, und sein Freund klopft an eine Wohnungstür. Das Mädchen, das öffnet, ist etwa in ihrem Alter. »Hallo«, sagt sie.
»Hallo«, sagt Istváns Freund.
Sie weicht zurück, damit sie in den Eingangsbereich treten können.
»Das ist mein Freund«, sagt Istváns Freund. »Du weißt schon. Ich habe von ihm erzählt.«
»Ja«, sagt das Mädchen.
István und sie betrachten einander.
»Ist das okay?«, fragt Istváns Freund.
»Klar«, sagt das Mädchen.
Die drei stehen einfach so da.
Das Mädchen betrachtet István ein zweites Mal.
Er sieht sie nicht an.
»Na, dann«, sagt Istváns Freund.
»Willst du da drinnen warten?«, sagt das Mädchen zu ihm und weist auf eine Tür.
»Ja, okay«, sagt Istváns Freund. Vielleicht ist er enttäuscht, vielleicht hat er erwartet, sie würden es zu dritt machen, hat insgeheim darauf spekuliert.
István will sich eine Zigarette anzünden, er muss das Feuerzeug mehrmals betätigen, bis es aufflammt.
Sein Freund fängt für eine Sekunde seinen Blick auf und lächelt.
István versucht gar nicht erst, das Lächeln zu erwidern. Was er fühlt, grenzt an Panik.
Er folgt dem Mädchen durch einen kurzen dunklen Flur in ein Zimmer.
Er nimmt das Zimmer nicht richtig wahr, bemerkt nur, dass es jede Menge Zeugs gibt, unter anderem ein kleines Tier in einem Käfig.
Das Mädchen setzt sich aufs Bett.
István setzt sich auf einen Stuhl.
»Wie heißt du noch gleich?«, fragt sie.
Er sagt es ihr.
Sie nennt ihren Namen.
»Alles klar mit dir?«, sagt sie.
»Ja«, sagt er.
Sie quatschen ein paar Minuten. Vor allem sie. Beide schweigen immer wieder, dann ist manchmal zu hören, wie das kleine Tier im Käfig raschelt. Sie fragt, woher er komme.
»Wie ist es dort so?«, will sie wissen, nachdem er geantwortet hat.
»Ganz okay«, sagt er.
Sie sitzen stumm da.
Sie zündet sich eine Zigarette an.
Nach einer Weile steht sie schweigend auf und verlässt das Zimmer.
Minuten später geht die Tür wieder auf.
István hebt den Kopf und sieht seinen Freund.
Er hat das Mädchen erwartet.
»Was ist passiert?«, fragt sein Freund.
»Was meinst du?«
»Was ist passiert?«, wiederholt sein Freund.
»Nichts.«
»Sie will, dass du gehst«, sagt sein Freund. »Was hast du gemacht?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ja.«
Sie verlassen die Wohnung, und draußen im Flur sagt sein Freund zu ihm: »Okay, wir sehen uns.«
»Kommst du nicht mit?«, fragt István.
»Nein, sie will, dass ich wieder reinkomme«, sagt sein Freund.
»Ach so?«
Sein Freund nickt. »Man sieht sich.«
»Okay.«
István fährt im Fahrstuhl nach unten, ohne kapiert zu haben, was gerade passiert ist.
»Sie fand dich nicht sexy. Das hat sie gesagt.« Ein paar Tage sind verstrichen, und sein Freund erklärt ihm, was los war.
István raucht.
Ätzend, dass man so etwas zu ihm sagt, über ihn sagt, doch er weiß nicht, was er erwidern soll. Vielleicht gibt es darauf schlicht nichts zu erwidern.
»Sie meint, du bist noch nicht so weit«, sagt sein Freund.
»Klar bin ich so weit«, sagt István.
»Fand sie aber nicht, hat sie gesagt.«
»Doch, bin ich.«
Danach hat die Freundschaft einen Knacks.
Sie verbringen weniger Zeit miteinander.
Sein Freund beginnt mit anderen Leuten abzuhängen.
István ist nun häufiger allein.
Eines Sonntags sind er und seine Mutter bei seiner Großmutter zu Besuch. Er sitzt gelangweilt im Wohnzimmer, während die beiden Frauen plaudern.
Seine Mutter bittet ihn, für die Blumen, die sie mitgebracht haben, eine Vase mit Wasser zu füllen.
Er geht in die Küche und erledigt es.
Die Fenster sind offen. Für die Jahreszeit ist es ein warmer Tag.
»Und wie geht es dir?«, wird er von seiner Großmutter gefragt.
»Mir geht’s gut«, sagt er.
Er steht auf dem kleinen Balkon und wünscht sich, eine rauchen zu können.
In der Ferne, tiefer am Hang, ist das Stadtviertel zu sehen, wo er mit seiner Mutter wohnt.
Seine Mutter erzählt seiner Großmutter, wie gut er sich in der Schule macht.
Seine Großmutter sucht nach ihrem Portemonnaie und holt Geld heraus, das sie István in die Hand drückt, sie möchte ihn offenbar belohnen.
Seine Mutter ermahnt ihn, sich zu bedanken.
»Vielen Dank«, sagt er.
Seine Großmutter lächelt.
Sie hat diese Reiseführer. Sie stehen neben dem Fernseher in einer Reihe im Regal. Italien, Frankreich, Tschechoslowakei, die UdSSR, Westdeutschland, Großbritannien. Aus Langeweile schaut er hinein, während seine Mutter und seine Großmutter quasseln. Die Bücher enthalten Abbildungen, die meisten schwarz-weiß, ein paar farbige gibt es auch. Die Farben wirken irgendwie unnatürlich, sie entsprechen nicht der Realität.
In der Wohnung gegenüber lebt eine Frau. Kurz nachdem István und seine Mutter in das Gebäude gezogen waren, fragte sie, ob István ihr gelegentlich beim Einkaufen helfen könne.
»Und was bedeutet das?«, fragte István, nachdem seine Mutter dies erzählt hatte.
»Du begleitest sie in den Supermarkt und hilfst ihr, die Einkäufe nach oben zu tragen.«
»Keine Lust«, sagte er.
»Sie hat uns sehr geholfen«, sagte sie.
»Du hast zugesagt?«
»Ja, habe ich.«
»Wieso?«
»Sie hat uns sehr geholfen«, wiederholte seine Mutter. »Und ihr Mann hat irgendein Herzproblem. Keine Diskussionen.«
Seither begleitet er die Frau ein- oder zweimal pro Woche zum Supermarkt und hilft ihr, die Einkäufe nach Hause zu bringen.
Nach der Schule zu Hause angekommen, lässt er den Rucksack fallen und klopft anschließend...