Štajner / Stajner | Raupenfell | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Štajner / Stajner Raupenfell


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-88423-702-1
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-88423-702-1
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Georgiana Duchamp, Dobrinka Ljubic und Beatriz Lazar kommen aus verschiedenen Ecken Europas. Ihr gemeinsamer Nenner ist Wien. Dort kreuzen sich ihre Wege, als alle drei in einer gerade äußerst turbulenten Lebensphase vor existenziellen Entscheidungen stehen.

Die Traumata der drei Protagonistinnen in Tamara Štajners Debütroman werden auf heitere Art und Weise zelebriert: Nachdem ihre Mutter mit dem griechischen Sternekoch Vitalis Mylonas durchgebrannt ist und ihr Vater sich in eine Psychiatrie einliefern lässt, flüchtet die Rumänin Georgiana nach Wien. Jetzt ist sie Cellistin bei den Wiener Philharmonikern, sucht ihr Glück aber in Porto. Dobrinkas Eltern schicken ihre Tochter von der behüteten kroatischen Insel Lošinj zur Korrektur ihrer in der Kindheit gebrochenen Nase in die Donaumetropole. Seither hat sie den Wunsch, sich zur medizinischen Kosmetikerin ausbilden zu lassen und einen Schönheitssalon zu betreiben. Als die junge Beatriz zuschauen muss, wie ihre Mutter in einer kleinen Küche im slowenischen Novo mesto vor dampfender Pasta tot umfällt und ihr Vater sich schon längst aus dem Staub gemacht hat, beschließt sie, ein Leben als Pianistin in Wien aufzubauen. Sie landet im Kloster der Salesianerinnen, allerdings läuft auch das nicht ganz nach Plan.

Wem gehört ein Körper, der um viele Herkünfte weiß? Wien, Porto, Ljubljana und zwei Inseln an der ehemals jugoslawischen Adriaküste geben die Kulisse für diesen europäischen Roman, der außergewöhnliche Antworten findet auf das, was es bedeutet, sowohl Leben zu geben als auch selbst lebendig zu sein. Auf zarte und radikale Weise zugleich werden Fragen nach Autonomie, Zugehörigkeit, Mutterschaft, Hingabe und Verlust erkundet.

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1
Dobrinka hebt den Sekt von der Konsole und führt den grünen Bauch der Flasche ganz nah an ihr Gesicht heran – zwei Finger breit schwappt noch Flüssigkeit darin. „Nichts verschwenden von diesem edlen Tröpfchen, kein einziges Schlückchen“, sagt sie im leeren Salon zu sich. Sie hat mit der letzten Kundin einen Feierabendaperitif zu sich genommen. „Neeeee, hab mein Leben schon genug verschwendet!“ Sie kippt den Rest ins Sektglas, dabei fühlt sie eine vage Freiheit: Ich muss es ihm nur noch sagen, überlegt sie, dann ist alles vorbei. Heute will er mit ihr ausgehen, um sich einzuschmeicheln. Es hat wieder mal gekracht. Ist doch Bullshit, denkt sie sich, ich mach den Scheiß nicht mehr mit. Im Spiegel prostet sie sich selbst zu: „Also dann – Živjeli! Aufs Ende!“ Sie leert das Glas in einem Zug. Danach räumt sie den Minigeschirrspüler ein, sammelt ihre Sachen zusammen und sperrt den Beautysalon hinter sich ab. Sie ist spät dran. Am Stephansplatz überlegt sie kurz, die U-Bahn zu nehmen, beschließt dann aber, zu Fuß zu gehen. An den Fiakern vorbei läuft sie die Rotenturmstraße hinunter zum Schwedenplatz. Menschen eilen in alle Richtungen, verwirrte Touristen suchen ihren Weg ins Griechenbeisl, gekrümmt huschen drei Franziskanerinnen zur Abendmesse im Dom. Sie manövriert sich durch dieses Gewühl, überquert die Straßenbahnschienen und betritt die geschäftige Schwedenbrücke. Entlang des Donaukanals stauen sich unterhalb der Brücke Menschentrauben vor den Lokalen. Die Nachmittagshitze ist abgeklungen. Noch zehn Tage bis zur Sonnenwende. Mitten auf der Brücke bleibt sie stehen und beobachtet die zittrigen Spiegelungen der umstehenden Dachgiebel in der Donau. Auf dem Deck vom Motto am Fluss schlürft ein Pärchen Cocktails. Die Frau lehnt im eleganten Sommerkleid am Geländer, fährt sich mit der Hand durchs Haar und neigt ihren Kopf zur Seite, um sich von ihrem Begleiter ins Ohr flüstern zu lassen. Dobrinka beobachtet die spielerische Annäherung der beiden: Sie streicheln sich flüchtig an den Oberarmen, entfernen sich wieder, um im nächsten Moment noch enger aneinanderzurücken. Dobrinka wendet sich ab, will weitergehen. Das Glück der beiden Fremden versetzt ihr einen Stich. Auch sie und Max waren einst glücklich, unbeschwert. Wie rasch doch alles kippen kann. Sie überquert den Kanal in Richtung Praterstraße – ihr Entschluss steht fest. Durch die verwinkelten Gassen der Leopoldstadt nähert sie sich nun der Zirkusgasse. Bei ihrem Wohnhaus angekommen stößt sie die Tür mit dem Fuß auf. Das Schloss ist kaputt. Das zerfallene, mit Graffitis besprühte Tor steht seit einigen Monaten offen. Im Stiegenhaus sind die Wände an vielen Stellen fleckig. Der Putz bröckelt. Sie steigt die steinernen Treppenstufen hoch in den dritten Stock. Vom jahrzehntelangen Rauf und Runter sind sie hohl getreten. Vor der Wohnung angekommen wühlt sie in der Tasche, bis sie die flauschige Fellkugel des Schlüsselbunds ertastet. Sein Klimpern klingt vertraut. Das Schloss knackt, die Tür knarzt. Sie betritt den engen Flur und lauscht. In der Wohnung ist es ungewöhnlich still. Er muss doch da sein. „Max?“ Keine Antwort. Sie öffnet die Tür zum Bad, wirft einen Blick in die Küche. „Max? Ma-ax! Bin da!“ Wo ist er jetzt, fragt sie sich. Ein ungutes Gefühl beschleicht sie. Im Flur legt sie die Tasche auf den Boden, lässt ihre weißen Sneaker an und öffnet das Fenster. Ein Junge fährt im Innenhof auf einem Stützrad durchs Gelände: „Mama, Mama! Schau, was ich kann!“ Seine Mutter lehnt rauchend an der Wand und telefoniert. Dabei verliert sie ihren Sohn nicht aus den Augen. Beim Anblick der Zigarette will Dobrinka selbst eine. Sie geht in die Hocke, öffnet die Tasche, nimmt eine zerknautschte Schachtel Marlboro heraus und zündet sich eine an. Weiter hinten malen drei Mädchen mit bunten Kreiden Kästen mit Ziffern auf den Asphalt: Himmel und Hölle. Dieses Hüpfspiel beherrschte auch sie als Kind. „Engin“, hört sie die Frau im Hof rufen, „komm, ist Zeit fürs Abendessen!“ Der Bub blickt über die Schulter zu ihr, dann steuert er mit dem Stützrad auf die Hausmauer zu, bleibt stehen, schaut verträumt vor sich hin, rollt ein paar Schritte rückwärts und versucht zappelnd das Rad in die andere Richtung zu lenken. Als es ihm schließlich gelingt, navigiert er triumphierend auf die Mutter zu. „Braaaavo!“, ruft diese und breitet ihre Arme aus. Bei ihr angekommen, umarmt sie den Sohn fest, hebt ihn vom Rad und schaukelt dabei seinen kleinen Körper hin und her. Dobrinka drückt die Zigarette aus. Bis zum Filter geraucht. Wie konnte es so weit kommen, fragt sie sich. Es war nicht immer so. Am Anfang war Max ihr zugewandt. Sie hatten auch jede Menge Spaß miteinander. Er besorgte ihr einen Freipass für die Therme Oberlaa, wo er damals gerade als Masseur begonnen hatte, später versuchten sie sich im Bungeejumping, Paragleiten und Tandem-Fallschirmsprung. Im Sommer fuhren sie nach Lošinj, surften. Trotzdem ging es mit seinen Wutanfällen schon bald los. Vor zwei Jahren aber, als die Sache mit dem Kind passiert war, wurde es schlimmer. Sie hätten nach einem Weg suchen sollen, der ihnen geholfen hätte, nach vorne zu blicken, überlegt sie jetzt. Sie hätten einander in ihrer Trauer unterstützen sollen. Doch die Kluft zwischen ihnen wurde langsam, aber beständig immer tiefer und dunkler, schließlich unüberbrückbar. Jetzt war nichts mehr zu retten. „Max?“ Sie wechselt ins Wohnzimmer, dann weiter ins Schlafzimmer. „Ma-ax!“ Aus dem angrenzenden Kabinett hört sie durch die geschlossene Tür auf einmal kehlige und klatschende Geräusche. Eine Frau stöhnt in einem theatralischen Staccato. Das gibt’s doch nicht, denkt sich Dobrinka und stößt die Tür ins Kabinett auf. Es ist die dunkelste Ecke in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Ein Computer steht dort, Hanteln und ein veralteter Heimtrainer, den sie beide nicht mehr benutzen. Sie erwischt Fetzen eines Dialogs: „… zeig’s dir.“ Dann drückt Max gleichgültig auf Pause, ohne das Fenster mit dem Video wegzuklicken. Im schwarzen Drehstuhl zurückgelehnt starrt er auf das eingefrorene Bild, das eine über eine Fitnessbank gebeugte Frau und das Glied eines Mannes zeigt. „Was soll das schon wieder“, sagt sie angewidert. „Kannst du das schließen?“ Ohne zu reagieren, starrt Max weiterhin auf die Nahaufnahme von Geschlechtsorganen. Er trägt eine enge Trainingshose und ein Tank-Top. Darin sieht man seinen muskulösen Körper am vorteilhaftesten, sagt er oft. Wie immer hat er sein aschblondes Haar mit Gel zurückgekämmt und die Wangen glattrasiert. Einzig in der Früh beim Aufwachen ist sein Haar zerzaust, sobald er aber ins Bad geht und wieder herauskommt, ist es makellos gescheitelt. „Kannst du den Scheiß schließen? Was soll das?“ Er lässt Dobrinka ihre Frage noch zweimal wiederholen, ohne zu reagieren. Im Raum ist nur das trockene Klicken der Maus zu hören, die er ziellos hin und her schiebt, dann vernimmt sie krabbelnde Geräusche in der Wand. Ratten. Langsam dreht sich Max im Stuhl um neunzig Grad, stützt dabei seinen Kopf auf die rechte Hand. Seine Lippen zucken, das linke Auge ist zusammengepresst. Diese Warnsignale weiß sie längst zu deuten, kann die Intensität seiner Laune aber nicht einschätzen. Hinter ihrem Rücken sucht sie instinktiv nach der Türklinke. „Was ist mit dir?“, fragt sie. „Was schaust du so? Und dann soll ich mit dir auch noch was trinken gehen, so ein Scheiß.“ „Wo warst du? Ich hock seit einer Stunde da. Wo warst du?“ „Im Salon“, erwidert sie, „wo soll ich sonst gewesen sein?“ „Lüg nicht!“ „Was heißt jetzt schon wieder lüg nicht?“, fährt sie ihn an. „Sag mal, warum sprichst du so beschissen mit mir? Schau dich an: Ziehst dir einen Porno nach dem anderen rein, wichst dir dabei nicht mal einen.“ Sie will aus dem Kabinett, als er aufspringt. Mit einem Ruck hat er sie bei sich. „Ej, was soll das? Lass mich los!“ Er packt sie an den Oberarmen und schüttelt sie: „Ich hab dich gefragt, wo du warst, du depperte Kuh.“ „Lass mich los“, kreischt sie, „du hast sie ja nicht alle!“ Er packt sie noch fester, drückt ihre Handgelenke gegen die Tür, verpasst ihr eine Ohrfeige. „Bist du wahnsinnig, du Trottel!“, zischt sie und schlägt zurück, gibt ihm einen Tritt mit dem Fuß. „Ich hass dich! Ich hass dich einfach!“ Er lacht abfällig, presst sich mit dem Oberkörper gegen sie: „Halt dein geschissenes Maul.“ Er quetscht...


Tamara Štajner wurde 1987 in Novo mesto, Slowenien, geboren. Sie schloss ihr Master-Studium im Konzertfach Viola an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ab. Derzeit promoviert sie im Fach Musiktheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2020 wurde sie in die Junge Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz aufgenommen, 2022 folgte die Aufnahme in die Gutenberg Akademie. 2022 erschien mit Schlupflöcher ihr erster Gedichtband, Raupenfell ist ihr erster Roman. Sie lebt in Wien und im Rhein-Main-Gebiet.



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