E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Tarr Was rettet
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8436-1362-0
Verlag: Patmos Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Verlusten leben
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-8436-1362-0
Verlag: Patmos Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Irmtraud Tarr ist Psychotherapeutin, Universitätsprofessorin und international tätige Konzertorganistin. Sie ist Autorin von über 30 Fachbüchern und Ratgebern, die in viele Sprachen übersetzt wurden.
Autoren/Hrsg.
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1. Freundschaft
Geteiltes Leid
Meine Freundin hatte mir einen bunten Fußteppich gehäkelt. Mit grünen Fäden hatte sie das Wort »Fußkuss« hineingestickt. Mit dieser farbig gehäkelten Geste wollte sie mir Wärme und Zärtlichkeit schicken, weil sie spürte: Nicht nur das Herz trauert, auch die Augen, die Ohren und die Füße. Der ganze Körper innen und außen fröstelt und braucht Wärme. Ich schaue mir den Teppich genauer an, auf der Oberseite herrlich leuchtend in meinen Lieblingsfarben, auf der Unterseite vernähte, übrig gebliebene Fäden und Knoten. Ich gerate ins Nachdenken: Vielleicht ist es mit dem Leben genauso wie mit diesem Fußteppich. Solange man noch verwirrt, verstrickt, verzweifelt auf die abgeschnittenen Fäden schaut, hat sich unversehens schon alles zu einem stimmigen Muster zusammengefügt. Man muss nur den Teppich umdrehen und entdeckt plötzlich, wie aus diesen abgeschnittenen Fäden ein wunderschönes, sinnvolles Ganzes entsteht. Schon in Marc Aurels Weisheiten findet sich dieser Gedanke: »Betrachte nur die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bislang gesehen hast. Das nämlich heißt ein neues Leben beginnen.«
So erlebte ich diese Freundschaftsgeste wie einen Zuspruch: Das Leben hat noch etwas mit dir vor! Geh weiter und entdecke das Neue und das Unbekannte! Lass dich nicht vom Verlust beherrschen! Wende dich dem Schönen zu! In Krisen sind Freunde Schatz und Schutz. Freunde lassen uns spüren, dass wir im Dunklen nicht allein und verlassen sind. Freundschaften sind die kostbarsten Liebesbeziehungen, weil sie in Freiheit geschehen und nicht verordnet sind. Warum liebe ich diese Freundin und nicht eine andere? »Weil er er war, weil ich ich war«, schreibt Montaigne über seinen Freund Boétie. Weil wir zueinandergehören, nicht wegen irgendwelcher Äußerlichkeiten oder Verdienste, sondern aus seelischer Vertrautheit und Liebe. Der Soziologe Simmel spricht in diesem Zusammenhang vom Geheimnis der Freundschaft.
Ich denke an meine Freunde, die im Unterschied zu Bekannten, mir so nahe waren, dass das Leid, das mir widerfuhr, auch ihnen wehgetan hat. Andere haben mir ihr Bedauern gezeigt, meine Freunde haben mit mir gelitten. Sie haben mich durchgetragen, mir Kontinuität und Nachsicht geschenkt. Deswegen nenne ich sie meine Herzensfreunde und meine Wahlfamilie. Sie waren mein rettendes Geländer, weil sie mich bei mir selbst gelassen haben, auch wenn ich mich verloren hatte. Sie haben meinen Schmerz gewürdigt und nicht versucht, ihn zu mindern, wegzutrösten oder wegzumachen. Sie haben sich nicht krampfhaft bemüht, mich auf andere Gedanken zu bringen, mich abzulenken oder mich abzuspeisen mit abstrakten, gut gemeinten Richtigkeiten – »das Leben geht weiter«, »irgendwann wächst Gras darüber«, »die Zeit heilt alle Wunden« –, die in finsteren Zeiten wie gedankenlose Dummheiten klingen, weil sie letztlich die Botschaft vermitteln: »Leide still und klaglos, belästige uns nicht und mach ja keine Scherereien.« Bei jenen schnell dahergesagten Sätzen fällt mir immer die herrliche Antwort Homers ein: »Mein Kind, welch Wort ist dem Gehege deiner Zähne entflohen!«
Meine Freunde gaben Beistand in der Trauer und nicht erst nach der Trauer. Sie warteten nicht wie manche, die meinten rücksichtsvoll zu sein und sich zurückzuhalten, bis das Schlimmste vorüber ist, sondern sie waren da, als der Schmerz brennend und brüllend war. Sie haben mir Blumen, Honig, Wein und meine Lieblingsäpfel gebracht, wie es früher meine Mutter tat, wenn ich krank vor Liebe war. In Krisenzeiten, in denen man nichts mehr erwartet und wünscht, geht es nur um eines: Man braucht jemanden, der einfach da ist. Der einen so sein lässt, wie man ist. Der einem zeigt, dass man nicht verlorengehen darf. Der nicht einmal tröstende Worte spricht, sondern nur mit ganzem Herzen präsent ist und einem das Recht gibt, all das zu fühlen, was man fühlt – was immer es sei –, selbst wenn es die Sehnsucht nach dem eigenen Ende ist. Und dessen Haltung zeigt: »Zeit spielt keine Rolle.« Damit meine ich die Erfahrung, dass ich Zeit geschenkt bekam, wann was zu sagen oder zu tun war. Dass ich mich nicht gegen gut gemeinte, aber unzeitige Ratschläge wehren musste und meine Kraft im Widerstand gegen verfrühte Vorschläge erschöpfte. Diese Begleitformel »Zeit spielt keine Rolle« könnte ich verallgemeinern, da sie grundlegend ist, dass man frei aus sich herausgehen kann und empfänglich wird für die eigenen Bedürfnisse.
Starke Gefühle kommen, verdichten sich zu einem Höhepunkt und schwellen wieder ab, wenn man ihnen nicht entflieht. Wofür ich heute am meisten dankbar bin: Meine Freunde sind geblieben, sie sind nicht weggelaufen vor meinem Schmerz, sie haben ihn nicht abgemildert oder verschönert. Sie haben ihn mit mir geteilt. Sie sind geblieben, haben mit mir geweint und mich gehalten. Sie haben mir meine Traurigkeit gelassen, weil sie mir gehört. Sie haben mich so gesehen, wie die anderen mich nicht sehen sollten, die mich als eine andere kannten. Eine Freundin sagte: »Ich möchte dich noch besser verstehen.« Sie hat nicht nachgelassen, bis ich durch mein Sprechen selbst darauf kam, was mir fehlt und was ich brauche. Diese Grundeinstellung, weil sie hörend, empfangend ist, bevor sie antwortend, aktiv und intentional wird, ist mitfühlend und achtsam. Mit Achtung wovor? Vor meiner unaussprechlichen Würde.
Freunde können nicht aus dem Abgrund retten, aber ihre Anwesenheit am Abgrund rettet, weil sie einen weinen lassen, bedürftig und einsam sein lassen und es aushalten, dass man sich plötzlich schwach und klein »wie ein Waisenkind« fühlt. Aber Freunde können zeigen, dass es etwas anderes gibt als das eigene Elend. Ich habe Brot und Kuchen für sie gebacken. Abendessen für sie zubereitet. Ich habe wieder begonnen, Käse für sie herzustellen. Indem ich für sie sorgte, haben sie mich wieder ins Leben zurückgeholt mit ihren eigenen Bedürfnissen, Sorgen und Lebenslüsten. Sie haben mich an ihrem Leben teilhaben lassen, von ihren Nöten und Kümmernissen erzählt. Vielleicht ohne zu merken, dass sie mich dadurch wieder ins Boot ihres Alltags und aus meiner Trauer herausgeholt haben. Sie ließen es nicht zu, dass ich mich in meine stumme Einsamkeit einschloss. Ihnen verdanke ich die Erkenntnis: Ich werde allein nicht mit mir fertig. Ich bin angewiesen auf ihre Fragen, ihre Anfragen, ihre Fürsorge, ihre Ansprüche an mich. Ich bin darauf angewiesen, mich zeigen zu dürfen auch als Leidende. Nun verstehe ich die Sätze Albert Schweitzers: »Du darfst dich als Mensch ausgeben«, denn »unser keiner lebt sich selber«.
Freunde prägen
Ich stehe ratlos, rastlos vor den nächsten Wochen. Melancholische Herbststimmung um mich und in mir. Wann das wieder weggeht? Ein guter Freund besucht mich. Wir sitzen draußen vor dem Haus, schauen in die Sonne und schweigen. Je länger wir so sitzen, desto mehr überkommt mich eine Art leichtes Schweben. Die Realität um uns entrückt, der Anflug von »ich kann nicht mehr« verzieht sich, die Angst wird mir egal. Wie schön, dass ich einen Freund habe, bei dem sich im Schweigen die Gefühle ausbreiten dürfen, mit dem ich mich ohne Worte verbunden fühle. Schweigen heißt nicht nur still sein, es hilft auch wieder klarer wahrzunehmen und Sprache zu finden für das, was ist. Es half uns die Schönheiten der farbigen Blätter wieder wahrzunehmen, die der leuchtende Herbst uns schenkte. Er meinte: »Das einzig Schöne in diesem Oktober ist die Natur und die Farbenpracht der Blätter.« Ich sagte: »Danke, dass du im richtigen Moment geschwiegen hast.«
In Krisenzeiten werden die Guten besser und die Schlechten schlechter, so sprach ein Nachbar anschließend zu mir in seinem gewohnten Schwarz-Weiß-Denken. Da fiel mir nichts Höfliches mehr ein. Ich mag nicht in Gefühlsturbulenzen geraten, weil ich davon ausgehe, dass sich das Leben hauptsächlich zwischen den Extremen ansiedelt. Auch in der existentiellen Philosophie heißt es, wer ein Mensch ist, weiß man erst in der Krise. Meine eigene Wahrnehmung, die in diesen bewegten Zeiten hellhöriger geworden ist, bestätigt dies, denn in Krisen legen Menschen Verhalten und Einstellungen an den Tag, die man vorher nicht vermutet hätte, die man auch von sich selbst nicht erwartet hätte. Menschen sind vielschichtig, komplex, widersprüchlich, deswegen ist es letztlich nicht vorhersagbar, wie sie sich in einer neuen, unerwarteten Situation verhalten werden. Auch im engen Freundeskreis nehme ich die Konturen meiner Freunde prägnanter wahr, als ob die Krise den eigenen Blick schärft und ich sie nun genauer und klarer erkennen kann. Was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass wir in unruhigen Zeiten unsere Emotionen mehr an uns heranlassen, zugewandter sind, weil wir deutlicher als sonst spüren, wie eingebunden wir sind. Dennoch glaube ich nicht, dass es eine Charakterfrage ist, wie Freunde sich in Krisen verhalten, sondern eher mit der Ausnahmesituation, der eigenen Betroffenheit, dem Menschenbild und mit subjektiven Ängsten zusammenhängt.
Meinem früh verstorbenen Vater verdanke ich die Erkenntnis: Das Wichtigste im Leben sind die Freunde. Irgendwann sterben die Eltern, und Beruf, Geld, Schönheit und Erfolg verlieren ohnehin ihre Wichtigkeit im Alter. Die Geborgenheit in der Familie hat ihre eigene Schönheit, aber in schwierigen Situationen haben enge Freunde eine weitere Sicht, eine andere Freiheit, ein offeneres Ohr und eine ruhigere Hand.
Die meisten von ihnen wurden unter der Last meiner Verzweiflung nicht kleiner, nicht ängstlicher, nicht hektischer, sondern größer, ruhiger, einfühlsamer, stabiler und offener. Sie haben mir Lebenszeit geschenkt, endlos lange zugehört,...