Šteger / Steger | Archiv der toten Seelen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Šteger / Steger Archiv der toten Seelen


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7317-6090-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6090-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zur Karnevalszeit im Jahr 2012 ist das slowenische Maribor Kulturhauptstadt Europas. Lokalpolitiker und Selbstdarsteller versuchen Profit daraus zu schlagen, jede erdenkliche Kunstform wird vermarktet. In den Medienrummel mischen sich der aus Maribor stammende Dramaturg Adam Bely und die kubanisch-österreichische Journalistin Rosa Portero. Das seltsame Paar verfolgt jedoch eine geheime Mission, die beiden sind einer bösartigen Verschwörung auf der Spur und wollen deren dreizehn Anhänger entmachten. Dabei begegnen sie einer Vielzahl von Maribors wichtigsten Bürgern, allesamt verstrickt in ein Netz aus Korruption und Lügen.In der Tradition von Bulgakow, Gogol und Kafka lässt Ale? ?teger die Kräfte des Guten und des Bösen aufeinander prallen, seziert in seinem grandiosen literarischen Thriller die verrottete Gesellschaft des schönen Scheins. Sein Debütroman voller schräger Gestalten und mit einem sich grotesk steigernden Plot entpuppt sich als Reise in das Herz der Finsternis Europas.

Ale? ?teger, geboren 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Ljubljana und veröffentlichte bislang fünf Lyrik- sowie mehrere Prosabände. Für seine Werke erhielt ?teger zahlreiche Auszeichnungen. Außerdem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.
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1. Kapitel
Die neue Welt des Herrn G.

Manch einer vergibt, um anderen zu helfen. Die Mehrheit von uns vergibt, um sich selbst zu helfen. Aus Eigennutz. Es gibt aber eigenartige Menschen, die in der Überzeugung vergeben, die Welt zu retten. Woher stammt dieser Glaube? Wer schreibt ihnen ihre einzigartige Rolle zu? Wer flüstert ihnen ihre Gedanken ein? Und dazu derart gefährliche Gedanken, die immer an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit auftauchen. Wir wissen es nicht. Ist es überhaupt wichtig? Würde es irgendetwas ändern? Ist nicht das Einzige, was zählt, das dichte Geflecht des Brokatvorhangs auf der Bühne, das Gewicht des Nebels, der durch das Dunkel fällt, Nässe und Kälte? Stille. Dunkelheit. Der Vorhang hebt sich, und alles, was wir erkennen können, ist ein Mann. Er hat sich hinter dem hochgeschlagenen Kragen seines Wintermantels versteckt, die Hände in den Taschen, am rechten Handgelenk baumelt eine schwarze Aktentasche. Er schwankt ein wenig. Der Bürgersteig ist nicht geräumt. Der Mann versucht einer schon ausgetretenen Fußspur zu folgen. Um ein Haar wäre er gefallen. Hinter ihm bröckeln die Jugendstilfassaden. Im blassen Licht der Straßenlampen sprüht Regen, der sich in Schnee verwandelt. Nur selten kommen Passanten vorbei. Das Dunkel spuckt sie still aus, um sie im nächsten Augenblick genauso still wieder zu verschlucken. Die ganze Zeit folgt eine Frauensilhouette dem Mann auf den Fersen. Ihnen kommt eine Gestalt entgegen. Sie sieht aus wie der Teufel. Nun ja, es ist auch der Teufel. Einen Meter vor dem Mann taumelt er. Glatteis, die enge Fußspur im Schnee und das, was einmal in der Flasche war, die er in seiner klauenhaften Hand hält, haben das Ihre getan. Die Fußsohlen segeln hoch in den Nebel. Für einen Augenblick sieht man die nassen Hosenbeine der Jeans, die der Teufel unter seinem Kostüm trägt. Seine Kette klirrt am Kantstein. Die Flasche rollt fort in den schmutzigen Schnee. Ein dumpfer Fall. Ein Fluchen.

Eine Kirchenglocke schlägt zehn. Der Mann hört die Frau, die ihm immer noch auf den Fersen ist, sagen: »Der arme Teufel.« Dann eine Neonreklame: NEUE WELT, die sich schwach durch den gefrierenden Nebel brennt. Ein Anblick, den niemand in dieser Nacht erwartet hätte. Es fühlt sich an wie eine epochale Entdeckung, obwohl das Restaurant seit über dreißig Jahren an der gleichen Ecke der engen Gasse klebt. Der Mann dreht sich um und nickt der Frau hinter ihm zu. Sie sind angekommen.

Die Türfeder schließt die Tür hinter ihnen wieder langsam.

»All die Jahre hat sich nichts verändert«, sagt der Mann leise auf Deutsch.

Die Silhouette hinter ihm schlägt ihre Kapuze zurück. Sofort bringen ihre langen, schwarzen lockigen Haare den Raum zum Schwanken. »Das ist gut«, sagt die Frau mit heiserer Stimme und schaut sich im Gasthaus um.

Holzbalken, Fischernetze mit Korallen und Muscheln, ein Lüster in Form eines Ankers. Mit Staub bedeckte Reusen, eine Wanduhr mit Nymphe auf dem Pendel, pastellfarben gemalter Sonnenuntergang an der Wand. Keine Menschenseele da. Aus der Küche hört man das Zischen von Gebratenem. Schwere Luft mit einem Duft nach Fisch und Öl. An der Holztheke klebt ein Plakat, ein rotes Kreuz auf schwarzem Hintergrund, auf dem IN MIR steht. Ein Teil des Plakats ist mit einem anderen Plakat überklebt, von dem vier fröhliche Seemänner lächeln und den Auftritt einer dalmatinischen Gesangskapelle verkünden.

»Die Küche hat schon geschlossen!« Diese Worte bleiben in der verschwitzten Luft hängen. Der Kellner verschwindet durch eine Klapptür. Er trägt zwei Kristallbecher mit Eis und Schlagsahne vor sich her, zwei fliegende Untertassen, die den Kellner durch den Raum ziehen.

Im Restaurant gibt es keine Gäste. Nur in einer entfernten Ecke ein altes Paar. Die Kristallbecher landen auf dem Tisch vor ihnen. Die Frau hebt den Löffel, schiebt ihn in die Sahne, der Mann zählt Geld ab und legt es auf den Tisch.

»Tut mir leid, wir schließen«, wiederholt der Kellner, ohne sich umzudrehen.

»Wir suchen den Chef, Herrn Gram«, sagt der Mann im Wintermantel.

Der Kellner zeigt auf drei flache Treppenstufen, die ins Separee führen. Die Schwarzhaarige schaut den Mann an, der seine schwarze Aktentasche vor sich streckt und als Erster hinaufgeht. Treppenknarzen.

»Guten Abend«, sagt der Mann.

Samo Gram, bzw. Herr G., wie der Besitzer des Restaurants NEUE WELT gern genannt wird, sitzt hinter einem großen Tisch und beugt sich über eine Zeitung. Graue Brille auf der Nasenspitze, über den Gläsern schauen ein paar dichte weiße Augenbrauen hervor. Seine Stirn ist von Schweißtropfen übersät. Gram ist anscheinend die Art von Mensch, dem immer zu warm ist. Die niedrig über dem Tisch hängende Lampe unterstreicht diesen Eindruck noch. Grams Präsenz erfüllt den Raum mit seltsamer Aufdringlichkeit. Trotz der Jahre, die er im Fischrestaurant verbracht hat, herrscht um ihn herum kein schweißiger Fischgeruch. Vielmehr riecht Herr Gram ohne Zweifel nach – Schweinen. Und je mehr er schwitzt, desto stärker stinkt er.

»Guten Abend«, antwortet der sichtlich müde Gram und betrachtet die beiden Ankömmlinge. »Was wollen Sie?«

»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich«, antwortet der Mann. »Mein Name ist Adam Bely. Das ist meine Kollegin Rosa Portero.«

Gram steht auf, gibt beiden die Hand, sie setzen sich zusammen hinter den von der Zeitung bedeckten Tisch.

»Ich bin ein Mariborer, obwohl ich schon seit sechzehn Jahren nicht mehr hier lebe. Zu meiner Zeit war ich hier regelmäßig zu Gast. In Wirklichkeit bin ich nur Assistent. Meine Kollegin hier will fürs Radio ein Porträt der Stadt machen. Jetzt wo Maribor Europäische Kulturhauptstadt ist, ist das für die Österreicher ein interessantes Thema. Wir dachten, es wäre das Beste, an einem Ort zu beginnen, der in der Stadt bekannt ist und als Ausgangspunkt für den Beitrag dienen könnte. Gasthäuser bewahren die Geschichte einer Stadt, und das Ihre ist sicher auch einigen österreichischen Hörern bekannt.«

»Freilich, freilich«, murmelt Gram. »Haben Sie Hunger, möchten Sie etwas essen oder trinken? Ein Glas Wein vielleicht? Tone!«, ruft Gram, ohne auf eine Antwort zu warten.

»Ich danke Ihnen, sehr freundlich«, antwortet Bely. In diesem Moment tritt Tone mit dem Abendessen und einem Gedeck für eine Person in den Raum. »Sie müssen mich entschuldigen, ich war den ganzen Tag auf den Beinen und habe noch nichts gegessen. Bitte, was dürfen wir Ihnen anbieten? Selbstverständlich geht alles aufs Haus«, sagt Gram.

Tone wischt mit dem Handrücken über das Zeitungspapier und stellt den Teller vor Gram auf den Tisch.

»Danke, wir sind wirklich nicht hungrig, ich nehme nur ein Mineralwasser«, sagt Bely.

»Sie können kein Mariborer sein, wenn Sie nur Wasser trinken, obwohl, wenn man Ihnen so zuhört, würd ich schon sagen, dass Sie einer sind. Wissen Sie nicht, dass Mineralwasser schlecht für die Zähne ist? Und Sie, Gnädigste?«, schaut Gram Rosa Portero ganz weich an, die inzwischen den schwarzen Pelzmantel ausgezogen hat und in einem dunkelroten Kleid dasitzt, über das sich ein Muster schwarzer Orchideen rankt.

»Ein Viertel Weißwein, Riesling bitte«, bestellt Rosa Portero mit unerwartet heiserer, fast schon männlicher Stimme.

»Wissen Sie, Frau Portero spricht kein Slowenisch, nur ein paar Worte, doch sie versteht vieles«, sagt Bely.

»Freilich, freilich«, erwidert der über Rosas Stimme sichtlich verwunderte Gram und steckt sich die Serviette in sein aufgeknöpftes Hemd, von dessen breiter Brust graue Haare dicht auswuchern.

»Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Guten Appetit!«, sagt Bely und schaut auf seine Begleitung.

»Guten Appetit«, sagt Rosa Portero mit tiefer Stimme.

Auf Grams Teller liegt ein gegrillter Tintenfisch. Seine Tentakel ragen über den Rand. Bratkartoffeln liegen um das Weichtier herum, die Hälfte einer Zitrone.

»Ich könnte für Tintenfisch sterben, und Sie?«, sagt Gram und fährt fort, ohne auf Belys Antwort zu warten. »Wussten Sie, dass Tintenfische drei Herzen haben? Drei!«, ruft Gram theatralisch und reckt die Messerspitze in die Luft wie ein Ritter seine Lanze vor dem Zweikampf. »Und wussten Sie, dass die außergewöhnlich geschmeidig sind? Auch große Exemplare wie der hier können sich durch eine Öffnung ziehen, die so klein ist wie mein Daumen.« Gram hebt seine rechte Hand, in der er die Gabel hält, und spreizt seinen Daumen in Rosa Porteros Richtung. »Und intelligent sind sie, und wie!«, sagt er.

Tone bringt das Mineralwasser und zwei Gläser Wein, roten und weißen. »Brauchen Sie noch was, Chef? Wenn nicht …«

»Schon in Ordnung, mach ruhig Feierabend, ich werde zuschließen.« Gram winkt den Kellner fort. »Also, wo waren wir stehen geblieben. Ah, stimmt, bei der Intelligenz der Tintenfische. Denken Sie, dass wir Menschen wegen unserer Gehirne intelligent sind? Von wegen! Wir alle meinen, dass wir mit dem Hirn denken, aber der Tintenfisch ist der lebendige Beweis, dass dem nicht so ist. Der Tintenfisch hat ein ganz kleines Gehirn, doch ist er intelligent wie der Teufel. Wissen Sie, warum? Weil er einen intelligenten Körper hat. Sein ganzer Körper ist intelligent, nicht nur sein kleines Gehirn. Wir Menschen haben unsere Gehirne gewaschen und vertrauen blind der Wissenschaft, die uns das meiste doch bloß verhüllt oder im falschen Licht zeigt.« Gram wischt sich den Schweiß von der Stirn und stützt sich sichtlich erregt auf die Rückenlehne des...


Göritz, Matthias
Matthias Göritz, geboren 1969 in Hamburg, lebt heute als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften war er längere Zeit in Moskau, Paris, Chicago und New York. Für seine bisherigen Werke erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, zuletzt den Robert Gernhardt Preis (2011) und den William Gass Award (2014).

Šteger, Aleš
Aleš Šteger, geboren 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Ljubljana und veröffentlichte bislang fünf Lyrik- sowie mehrere Prosabände. Für seine Werke erhielt Šteger zahlreiche Auszeichnungen. Außerdem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Aleš Šteger, geboren 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Ljubljana und veröffentlichte bislang fünf Lyrik- sowie mehrere Prosabände. Für seine Werke erhielt Šteger zahlreiche Auszeichnungen. Außerdem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.



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