E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Temelkuran Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-455-17013-9
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
            ISBN: 978-3-455-17013-9 
            Verlag: Atlantik Verlag
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Sachbücher Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur (2019), Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Für Ayse … Ohne dich [...]
Sprich: Ich nehme meine [...]
Tunesien
Libyen
Ägypten
Libanon …
Über Ece Temelkuran
Impressum
1. Kapitel
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen zu schlafen. Doch dann hörte ich das Schlurfen von Pantoffeln auf den steinernen Hoteltreppen. Ich hörte, wie nackte Füße an Lederpantoffeln kleben blieben und sich mit einem Schmatzen wieder lösten. Und das trotz der Hochzeit, die ganz in der Nähe lautstark gefeiert wurde. Über spitze Freudenschreie und Feuerwerksraketen hinweg. Eine Frau. Leicht und jung. Dann ging noch eine Frau die Treppe hinauf. Ich hörte, wie klein ihre Füße waren. Ich hörte, dass beide Nachthemden trugen, hörte das Rascheln von Stoff: dünne Baumwolle. Ich hörte die Größe ihrer Nachthemden, hörte sogar, dass sie weiß waren. Aber in dieser Nacht war mir nicht nach Gesellschaft zumute. Ich hatte gerade erst meinen Job bei der Zeitung verloren. Ich war am Boden zerstört.
Außerdem hatte ich Hunger. Zu spät war mir klar geworden, dass das Mädchen am Empfang sich für meine unwillige Reaktion auf den Fehler, der ihr beim Einchecken unterlaufen war, postwendend revanchiert hatte. »Aber sicher doch«, hatte sie zu vorgerückter nächtlicher Stunde gesagt, mit einem leeren Ausdruck in den Augen, der sich erst im Nachhinein als teuflisch herausstellen sollte.
»Hat um diese Zeit noch irgendein Restaurant in der Altstadt geöffnet?«, hatte ich sie im Anschluss an unseren kleinen Disput gefragt. »Aber sicher doch!«, hatte sie erwidert, und so hatte ich mich im stockdunklen Labyrinth der Altstadt bald verlaufen. Aus jeder Gasse waren mir Schatten entgegengekrochen. Schatten, wie man sie immer dann sieht, wenn man mitten in der Nacht in eine fremde Stadt kommt und prompt die falsche Richtung einschlägt. Natürlich würde ich am nächsten Morgen merken, dass ich einfach nur in die andere Richtung hätte laufen müssen, um direkt im Zentrum zu landen. Doch das Schicksal einer Nachtreisenden lässt sich so leicht nicht überlisten. Mit Mühe und Not den Schatten entfliehend, rettete ich mich in mein Zimmer im Hotel , dessen Fenster eindeutig zur falschen Seite hinausging. Als nach vergeblichem Zappen durch saudische Fernsehkanäle voller Koranlesungen auch noch das Internet streikte und die einsam durchs Zimmer schwirrende Mücke sich nicht erschlagen ließ, nahm ich mir schließlich vor zu schlafen. In diesem Moment aber hörte ich die Pantoffeln.
Dann schallendes Gelächter. Ich hörte, wie eine der Frauen storchengleich einen Fuß gegen ihr Bein drückte. Ich hörte, wie ihr Pantoffel unter dem Fuß wegrutschte. Ich hörte Gesprächsfetzen. Dann griff eine der beiden nach den Jasminranken, die den Hof des Hotels überwucherten. Ich hörte, wie eine der Blüten abgerissen wurde und die Zweige zurückschlugen. So lange lauscht nur in die Nacht hinaus, wer sich davon überzeugen will, dass dort Abenteuerliches vor sich geht. Ich klemmte mir also den Whisky unter den Arm, den ich unterwegs am Flughafen gekauft hatte, und griff mir drei Gläser.
Als sie meine Schritte hörten, verstummten sie. Zwei Frauen, beide an die niedrige weiße Mauer gelehnt, die die Terrasse einfasste. Anlässlich dieser ersten Begegnung hatten wir alle jenes dümmliche Grinsen aufgesetzt, mit dem Touristen sich für ihr Fremdsein entschuldigen.
Ihre Nachthemden waren weiß. Und tatsächlich, die lässigere, kokettere der beiden, die mit den breiteren Hüften, hielt wie ein Storch einen Fuß gegen ihr Bein gedrückt. »Bei dem Lärm da unten kriegt man ja kein Auge zu«, sagte ich auf Englisch. »Wegen der Hochzeit, nicht wahr? – bitte, komm doch zu uns«, sagte die mit den Hüften. »«, echote die andere. Beide auf Arabisch. Dieses eine Wort reichte aus, mir ihre Herkunft zu verraten. Die kleine Fröhliche mit den breiten Hüften: Tunesierin. Die andere, mit dem härteren Akzent: Ägypterin. Die Ägypterin war maskulin, flachbrüstig wie ein Junge, groß, geheimnisvoll, ja, fast ein wenig zwielichtig. Die Tunesierin dagegen viel femininer, viel fraulicher. Dann explodierte eine Feuerwerksrakete und machte alle weiteren Floskeln fürs Erste überflüssig. Um besser sehen zu können, trat ich näher und stellte die Gläser auf die niedrige weiße Mauer. Mein Blick wanderte von einer zur anderen. Ja, wir würden alle Whisky trinken.
»Die Hochzeit ist von hier aus gar nicht richtig zu sehen«, meinte die maskuline Ägypterin.
»Dann schau doch mal da rüber«, erwiderte die fröhliche Tunesierin.
Und ich, die ich noch immer nichts entdecken konnte, stellte fest: »Das ist in Tunis wohl so üblich, dass keine Terrasse von einer anderen aus zu sehen ist, was?«
»Stimmt«, bestätigte die Tunesierin. »Die Architektur hier ist schlichtweg genial. Irgendwie schaffen wir es, alle auf einem Fleck zu wohnen und uns dennoch voreinander zu verstecken.«
Wieder versuchte ich, einen Blick auf die Hochzeit zu erhaschen, und schaute dabei an den beiden vorbei, die mich ausgiebig musterten. Doch erst als ich mich weit über die Brüstung lehnte, war auf einer der vielen rechteckigen Terrassen, auf die wir von oben herabblickten, das Fest zu sehen. In dem von Stromkabeln mit bunten Glühbirnen asymmetrisch durchschnittenen Karree tanzten erwachsene Frauen, während junge Mädchen Freudenschreie ausstießen und sich hinterher jedes Mal verschämt kichernd die mit Henna verzierten Hände vors Gesicht hielten. Die Braut sah mit ihrem ausladenden Satinkleid aus wie ein Fallschirmspringer, nach der Landung von feindlichen Truppen gestellt. Die Tänzerinnen dagegen glichen euphorischen Eingeborenen, denen ein Tier in die Falle gegangen war, das ein Festmahl abzugeben versprach.
»Glücklich wirkt die Braut ja nicht gerade. Wahrscheinlich hat sie Angst vor der Hochzeitsnacht«, sagte ich.
Die Tunesierin brach auf diese Plattitüde hin in schallendes Gelächter aus. Es war das gleiche Lachen, das ich schon von meinem Zimmer aus gehört hatte. »Genau das habe ich vorhin auch gesagt«, erklärte sie. »Sie wird ihr blaues Wunder erleben heute Nacht. Schocktherapie!«
Die Ägypterin lächelte gezwungen. »Möglicherweise dient ja die unter tunesischen Juden verbreitete Tradition, der Braut zwanzig Tage vor der Hochzeitsnacht jegliche Bewegung zu verbieten und sie ordentlich zu mästen, genau diesem Zweck. Um sie für die Strapazen der ersten Nacht zu wappnen.« Und um klarzustellen, dass sie mit der Tunesierin noch lange nicht so vertraut war, wie diese angedeutet hatte, fügte sie hinzu: »Wir haben uns übrigens auch gerade erst kennengelernt.« Anschließend fragte sie ernst: »Und woher kommst du?«
»Stimmt schon«, fiel ihr die andere ins Wort, »wir sind uns gerade erst begegnet, aber gefühlt kennen wir einander schon seit Ewigkeiten.«
Die Ägypterin ließ sich nicht beirren und fragte weiter: »Du bist Journalistin, nehme ich an?«
»Kann man das an meinem Nachthemd ablesen?«, wollte ich wissen.
»Nein, das Einzige, was man daran ablesen kann, ist dein Unterwäschegeschmack«, prustete die Tunesierin.
Ich schwieg. Leicht pikiert. Anzügliche Vertraulichkeiten waren nicht mein Fall. In der Hoffnung auf ein niveauvolleres Gespräch wandte ich mich wieder der Ägypterin zu.
»Ich war Journalistin. Zurzeit bin ich arbeitslos. Vielleicht werde ich ein Buch über den Arabischen Frühling schreiben, deshalb bin ich hier. Und du bist nicht zufälligerweise Wissenschaftlerin?«
In dem Moment schien die Frau mir gegenüber sich in ein kleines Mädchen zu verwandeln, das auf dem Nachhauseweg irgendetwas Lustiges erlebt und darüber kichern muss. Dann sachliches Nicken. »Ich heiße Maryam«, stellte sie sich vor. »Und , Amerikanische Universität Kairo, Historische Fakultät.«
Zwar war mein Ärger über die plumpe Vertraulichkeit der Tunesierin noch nicht ganz verflogen, doch beschloss ich, auch ihr noch eine Chance zu geben: »Und was machst du?«
»Ich bin erst heute Nacht hier angekommen«, erwiderte sie schlicht. »Aus New York.« Sie presste ihre Lippen ans Whiskyglas, lächelte und kostete mein gespanntes Schweigen noch eine Weile aus. Anschließend ließ sie blitzlichtartig und in Neonschrift ihren Namen aufflackern: »Ich heiße Amira.«
Am Himmel explodierte eine weitere Rakete. Wir folgten ihrer Bahn. Von dort oben musste die Stadt einem riesigen Kreuzworträtsel gleichen, zusammengesetzt aus hellen und dunklen Terrassenquadraten. In einem der hellen Quadrate war das H von Hochzeit bereits zu lesen, doch hätten, um das Wort zu vollenden, erst noch andere Terrassen beleuchtet werden müssen. Wir drei Frauen befanden uns in einem jener dunklen Quadrate, über die sich niemand je den Kopf zerbricht. In diesem Quadrat, in dem es mittlerweile feuchtfröhlich herging, sahen wir unsere Gesichter immer nur in jenem kurzen Moment aufblitzen, wenn die Raketen ihre größte Strahlkraft erreichten, und während sie wieder zur Erde stürzten und ihr Licht an unseren Gesichtern hinab zu unseren Bäuchen glitt, machten wir uns nach und nach mit den Schultern, Brüsten, Armen und Handgelenken der anderen bekannt. Maryam hätte man tatsächlich, wäre ihr Nachthemd nicht gewesen, für einen Jungen halten können. Mit ihrer tiefen Stimme hinterließ sie in mir den Eindruck von Stärke. Amira dagegen zappelte in ihrem Nachthemd wie ein Fisch im Netz. Bei jedem Windstoß erschauerte sie, als wäre sie geküsst worden. Zwischen den beiden hatte sich, noch bevor ich dazugestoßen war, bereits eine klare Rollenverteilung ergeben: Maryam war der Mann und Amira die Frau. Ihre Gegensätzlichkeit ließ die jeweiligen Charaktereigenschaften umso stärker hervortreten. So standen wir draußen auf dem dunklen Dach und beobachteten unsere Umgebung, ohne selbst gesehen zu werden, versteckt im schwarzen Quadrat eines riesigen Kreuzworträtsels.
Als das Feuerwerk zu Ende war, fragte ich...





