E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Thien Flüchtige Seelen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-10617-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-10617-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und Akrobatik, später studierte sie Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur. Ihr erstes Buch 'Einfache Rezepte', eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde mit vier kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für ihren Roman 'Flüchtige Seelen' erhielt Thien 2015 den LiBeraturpreis von Litprom. 'Sag nicht, wir hätten gar nichts' kam 2016 auf die Shortlist des Man Booker Prize und wurde ausgezeichnet mit dem Governor General's Literary Award und dem Scotiabank Giller Prize, den höchsten Literaturpreisen Kanadas. Madeleine Thien lebt in Montreal.
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IN ABGEHACKTEN SÄTZEN erzählt Hiroji mir, was geschehen ist. Es ist März vor knapp einem Jahr, nachts, und wir sitzen in seiner Wohnung.
Auf seinem Heimweg vom BRC, sagt Hiroji, erblickte er auf der Höhe des Café Esperanza einen älteren Japaner, der sich langsam bewegte und eine Regenjacke trug, aber weder Hut noch Handschuhe. Einen kurzen Moment lang sah der Mann ihn an. Ein Schock der Erkenntnis veranlasste Hiroji, stehen zu bleiben. Wie war so etwas möglich? Doch es konnte kein Irrtum sein.
Der Japaner war Mitte bis Ende sechzig. Sein einst dunkles Haar war jetzt komplett grau, und ein Streifen, eine Narbe, zog sich vom rechten Augenwinkel über seine Wange. Eine alte Verletzung, wie es aussah. Er hatte dieselbe hohe Stirn, sagte Hiroji, und schmale, dunkle Augen, doch sein Körper war gebrechlich und krumm geworden. Seine Jacke war viel zu dünn und sein Schal nutzlos, denn er baumelte ihm um den Hals wie ein ungebundener Schlips. Hiroji starrte den Fremden an und wusste sofort, dass es sein Bruder war. Dass es nicht sein Bruder sein konnte. Und es doch war.
»Warten Sie«, sagte der Mann. »Ich kenne Sie.«
»Ichiro«, sagte Hiroji. Kalte Luft verfing sich in seiner Lunge. »James.«
»Sie erinnern sich? Das ist erstaunlich. Kommen Sie, essen Sie mit mir.«
»Heute Abend? Ich habe etwas vor.« Hiroji wusste kaum, was er sagte. Der ältere Mann erschien ihm immateriell, wie die Reflexion einer Reflexion.
»Dann nur auf einen Kaffee. Bitte. Wir müssen, nach all den Jahren.«
In der Ferne blitzten auf einer elektronischen Anzeigetafel rote Ziffern auf. Er konnte sie gerade so erkennen: fast fünf Uhr nachmittags, minus 22 Grad Celsius. Hiroji spürte, wie seine Beine anfingen nachzugeben. »Gut. Auf einen Kaffee.«
Sie gingen durch die Tür des Café Esperanza. Auf der Theke stand eine Kuchenplatte mit gläsernem Deckel, unter dem sich ein halbes Dutzend Croissants kringelten. Hiroji kaufte sie alle, und der Ältere stürzte sich gleich gierig darauf und aß, ohne zu sprechen. Er tunkte die Croissants nacheinander in seinen Café au lait, bis nur noch Krümel auf dem Teller lagen. Dann leckte er an der Spitze seines Zeigefingers, drückte sie auf die verbliebenen Flöckchen und aß auch diese.
»Sie essen Croissants wie die Pariser«, sagte Hiroji.
Der Mann, Krümel in den Mundwinkeln, blickte auf, fast kindlich erfreut über den Gedanken. »Vielleicht war ich mal einer. Vielleicht war ich das in meinem anderen Leben.«
Im warmen Licht des Raums sah der Mann jünger aus. Er lächelte auf eine Weise, die impulsiv und ungewohnt wirkte.
»Verzeihen Sie«, sagte Hiroji verlegen. »Es tut mir sehr leid, aber ich glaube, ich kann mich nicht erinnern, wie wir uns kennengelernt haben.«
»Ich dachte, Sie wissen, wer ich bin! Sie haben meinen Namen genannt.«
»Sie kamen mir bekannt vor.«
Aufgeregt begann der Mann draufloszureden. Er sprach leise, und Hiroji musste sich vorbeugen, um alles zu verstehen. Der Mann beschrieb, wie er plötzlich auf nassem Boden aufgewacht war und sich vor Schmerzen gekrümmt hatte. Dinge waren zerbrochen, Blut klebte an seinen Fingern, aber er konnte sich nicht erinnern, was passiert war. Stunden-, vielleicht tagelang war er wie im Traum umhergewandelt und hatte nicht verstanden, wie sich die Dinge in der Welt bewegten. Autos kamen auf ihn zugerast. Es gab zu viele Stimmen, die zu viele Sprachen sprachen, und er wusste nicht, welche zu ihm gehörte. Der Magen tat ihm weh, und seine Beine fühlten sich hohl an, aber er wusste nicht, dass diese Leere Hunger war. Er hatte keine Erinnerungen, keine Vorstellungen, keine Ideen, nichts. Alles war ihm genommen worden, das begriff er, doch von wem und wann? Er ging auf die Pattullo Bridge und blieb lange dort stehen, und der Fluss unter ihm strömte und strömte, er sah auf dem Wasser Holz wippen, Baumstämme, Flöße, eine Möwe, die auf einem Stück Tau stand, und er hatte das Gefühl, beide Seiten des Flusses bewegten sich aufeinander zu wie die eines Schraubstocks. Jemand hatte ihn ausgetrickst, jemand war nachts gekommen und hatte ihn seiner ganzen Habe beraubt.
»Ich bin auf das Geländer geklettert«, erzählte er Hiroji. »Ich habe die Welt angeschaut und gedacht: Was jetzt? Was geschieht jetzt? Ich war nicht wütend. Ich wollte nur dastehen und meine Frage stellen. Ich wollte, dass mich jemand wahrnimmt.«
Mit wildem Blick starrte er auf die Lichter des Cafés.
Der Mann hatte immer noch Hunger. Hiroji machte die Kellnerin auf sich aufmerksam und fragte, ob es noch etwas zu essen gebe. Das Mädchen war jung und sah die beiden neugierig an. Sie brachte ihnen ein paar Scheiben Brot, einen riesigen Batzen Käse und eine kleine Schale Konfitüre. »Aus dem Kühlschrank des Besitzers«, sagte sie. »Aber er kommt erst nach dem Wochenende zurück.«
Der Mann aß mit Inbrunst.
»Jemand hat Sie gefunden und ins Krankenhaus gefahren«, sagte Hiroji. Er sah jetzt undeutlich einen Patienten vor sich, den er längst vergessen hatte.
Der Mann schluckte das Brot hinunter, das er im Mund hatte. Er langte nach einem Wasserglas, das nicht da war, dann ließ er seine Hand schlaff auf dem Tisch liegen. »Die anderen nannten mich John. Johnny Doe. Das war nicht nett, stimmt’s? Ein Name, der bedeutet, dass man ein Niemand ist. Zu nichts zu gebrauchen. Sie dagegen haben mich James genannt.«
»Aber das Ganze ist lange her, oder?«
Der Mann lächelte. »Das fragen Sie mich? Dann haben Sie wohl ein Problem, Herr Doktor. Sind Sie auch gestürzt und haben sich den Kopf aufgeschlagen? Es muss mindestens dreißig Jahre her sein.«
»Ich erinnere mich, dass wir Sie entlassen haben.«
»Es wurden alle möglichen Untersuchungen gemacht: verschiedene Tomographien, ein EEG. Für alle Fälle testete man mich sogar mit dem Lügendetektor.« Er nahm ein Stück Brot, wischte damit die restliche Konfitüre auf und fügte dann den letzten Schnitz Käse hinzu. »Ich habe eine Frau aus Saint John kennengelernt, im Theater. Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich könnte morgen da sein, aber ich habe kein Geld für den Bus.«
»Wo wohnen Sie?«
Der Ältere schüttelte den Kopf. Er starrte auf die Kellnerin, die, ihnen den Rücken zukehrend, die Geräte polierte.
»Ich zahle es Ihnen zurück«, sagte er. »Glauben Sie mir. Mein Wort darauf. Wenn ich in Saint John bleibe und Arbeit finde … das ist schwierig in meinem Alter, aber ich bin geschickt, sehr geschickt. Ich stamme nicht aus Vancouver, oder? Keiner kannte mich, aber Sie und ich, wir waren Freunde. Ich klinge amerikanisch, kalifornisch, sagten Sie. Vielleicht San Francisco, meinten Sie. Sie waren nett zu mir, als wäre ich ein richtiger Mensch und nicht eine Null. Überflüssig.«
Hiroji wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Erinnerungen an die Behandlung dieses Mannes waren dürftig, kaum vorhanden.
»Warten Sie einen Moment hier«, sagte er schließlich, als der Mann ihn weiterhin anblickte. »Gehen Sie nicht, bitte.«
Der Mann lächelte in seinen Schoß. »Oh, ich habe es nicht eilig.«
Hiroji ging über die Straße zu einem Geldautomaten und hob sechshundert Dollar ab. Er steckte sie in einen Umschlag, den er unter Schwierigkeiten zuklebte, dann rannte er, auf dem Eis rutschend, über den Bürgersteig, zwischen den Fußgängern mit ihren Einkaufstüten und Lebensmitteln hindurch. Er fiel hin, doch durch seinen Mantel spürte er keinen Schmerz. Im Café reichte er den Umschlag dem Mann, der ihn ernst entgegennahm. Dann zahlte er bei der Kellnerin und gab ihr ein großzügiges Trinkgeld, hielt für James oder Johnny oder Kalifornien ein Taxi an und gab auch dem Fahrer Geld. Alles, was er hatte, war Geld.
»Keine Sorge«, sagte der Mann, Hirojis Visitenkarte zwischen den Fingern. »Ich revanchiere mich. Warten Sie ein paar Tage.«
»Nein«, sagte Hiroji. »Es ist gut so.«
Die Räder des Taxis drehten sich auf dem Schnee, dann fuhr der Wagen davon.
»Ich bin drauflosgelaufen«, erzählte Hiroji mir. Die ganze Zeit über spulte er die Begegnung immer wieder im Kopf ab, bei der dieser Mann, dieser Patient, so gemessen gesprochen hatte wie früher sein Bruder, wenn er betrunken gewesen war, als wollte er seine Sätze klug dosieren. Er dachte, sein Bruder müsse noch irgendwo am Leben sein. Womöglich wanderte er einfach vor sich hin. Jetzt fiel ihm auch ein, dass man den Patienten – Johnny, James – überredet hatte, vom Geländer der Pattullo Bridge herunterzukommen. Er war damals fünfunddreißig gewesen, vielleicht älter. Jemand hatte ihn auf den Hinterkopf geschlagen, mit solcher Wucht, dass sein Gehirn gegen die Vorderseite seines Schädels geprallt und gequetscht worden war. Sie hatten ihm nicht helfen können. Jemand hatte unbedacht gewitzelt, die beiden jungen Männer, Hiroji Matsui und Johnny Doe, die beiden Japse, sähen aus wie Brüder. Das war nicht komisch gewesen, und keiner hatte gelacht.
Wir saßen an seinem Küchentisch. Hiroji hatte eine Flasche Sekt aufgemacht und trank ihn jetzt wie Leitungswasser. »Ich erinnere mich noch an den Namen des Arztes, der diesen Witz gemacht hat«, sagte er mit zitternder Stimme. »Er ist schon tot, aber ich erinnere mich. Ich erinnere mich.«
Er stellte sein Glas auf den Couchtisch, ging zum Sideboard und kehrte mit einer Mappe zurück. Darin waren Luftpostbriefe, die er von James aus Kambodscha erhalten hatte. Die Seiten waren Jahrzehnte alt und so spröde, dass sie fast zerkrümelten, die Rot-Kreuz-Insignien verblichen. »Ich bin...