E-Book, Deutsch, Band 2, 512 Seiten
Reihe: Krieg der Drachen
Thomas / Finn Flammendes Erbe
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99238-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Krieg der Drachen 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 512 Seiten
Reihe: Krieg der Drachen
            ISBN: 978-3-492-99238-1 
            Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Das Lied der Toten
Der Drache stieß lotrecht in die Tiefe.
Sein langer gezüngelter Schwanz ragte steil in den Nachthimmel, die fledermausartigen Schwingen presste er eng an den Schuppenleib, und aus dem aufgerissenen Schlund stoben Flammen.
Er war ein Gestalt gewordener Schrecken.
Und er wirkte fast lebensecht.
Magister Rasgath Tiefwasser klopfte sich den Schmutz von der Weste, rückte seine Nickelbrille zurecht und betrachtete aufmerksam die gewaltige Steinmetzarbeit, die das Mondlicht an den Außenmauern des Turms der Toten enthüllte. Sie war annähernd dreißig Schritt hoch; von der Plattform der runden Zinne bis hinab zu dem wuchtigen, hausgroßen Fundament mit dem doppelflügeligen Portal.
Da der hohe Turm aus dem schwarzen Basalt der Lindwurmhöhen gefertigt und an exponierter Stelle über der heutigen Hafenstadt Wyverhaven errichtet worden war, ragte er tagsüber wie ein schwarzer Dorn aus dem Stadtbild hervor. Ein unheimlicher Eindruck, der sich jetzt, im Mondlicht, noch verstärkte. Daran änderten auch die beiden luftigen und von Pfeilern verzierten Außengalerien nichts, die das Bauwerk ab einer Höhe von zwanzig Schritt ringförmig umschlossen. Hinzu kamen die schmalen, an Schießscharten gemahnenden Mauerdurchbrüche, die unregelmäßig in der Turmwand gähnten und dafür sorgten, dass sich der Westwind klagend in dem Bauwerk verirrte.
In Wyverhaven war das unentwegte, auf- und abschwellende Heulen des Windes als Lied der Toten bekannt. Kein Wunder, denn die Toten waren es, die das unheimliche Bauwerk bevölkerten – und sie waren es auch, die vielleicht den Schlüssel zur Rettung der Jungen Königreiche hüteten.
Nein, nicht vielleicht. Die ebenso riesige wie eigenwillige Abbildung des Drachen ließ gar keinen Zweifel daran. Umso befremdlicher erschien es Rasgath, dass er den allzu deutlichen Fingerzeig all die Jahre übersehen hatte. Immerhin handelte es sich um die imposanteste von Menschenhand gefertigte Darstellung eines Drachen in den Jungen Königreichen. Doch auch er hatte sie bislang als Mahnung missinterpretiert. Als Erinnerung an die fürchterliche Bedrohung, der dieser Teil der Welt über ein Jahrtausend lang ausgesetzt gewesen war – bis die Lindwürmer vor genau 420 Jahren besiegt worden waren.
Am Ende des Dritten Drachenkrieges.
Vermeintlich ausgelöscht.
Denn die Magierschaft hatte die Völker damals belogen.
Eine Lüge, an die Rasgath Tiefwasser selbst nur zu gern geglaubt hatte – bis ihn der schändliche Verrat seiner einstigen Magierkollegin Alruna von Greifenfels eines Besseren belehrt hatte. Alruna war in Wahrheit die Drachin Srazzz. Und noch immer konnte er es nicht fassen, dass sie ihn und die übrigen Zauberer all die Jahrhunderte über in Menschengestalt genarrt und so am Ende ausgetrickst hatte.
Das war vor zwei Wochen gewesen. Und nun war es nicht mehr zu leugnen: Die Drachen waren zurück.
Alruna war nicht allein. Im Verborgenen hatte sie weitere Drachen aufgezogen, und es war ihr gelungen, den finsteren Drachenkönig Yolsulgur aus dem Reich der Toten ins Diesseits zurückzuholen. Das veränderte alles. Denn der Drachenkönig war jetzt ein Wesen der Nacht. Eine monströse, untote Kreatur, die kaum etwas mit der Welt der Lebenden verband. Ja, es stand sogar zu befürchten, dass Yolsulgur durch die unheimliche Transformation weitaus mächtiger war als früher.
Rasgath Tiefwasser atmete tief die raue Seeluft ein, die von Westen kommend über das Plateau am Fuß des Turms strich. Scheiterte er also an seinem heutigen Vorhaben, dann war guter Rat teuer.
Er wollte gerade auf das Portal zuschreiten, als er hinter sich, dort, wo eine steile Treppe hinab ins Stadtgebiet führte, hektische Stiefelschritte vernahm. Lichtschein nahte.
Seine Ankunft war also nicht unbemerkt geblieben.
Sein Kollege Walmar der Weise hatte ihm einen seiner Sturmringe überlassen, dessen Magie ihm die rasche Anreise ermöglicht hatte. Die Windhose, die Rasgath über das Wolkenkamm-Gebirge getragen hatte, war offenbar selbst zu dieser Tageszeit auffällig genug gewesen, um aufmerksame Bürger der Hafenstadt aufzuschrecken.
»Stehen bleiben! Gebt Euch zu erkennen und sagt, was Ihr hier oben sucht!«, bellte eine Männerstimme im breiten Zungenschlag der Wyverhavener.
Widerstrebend wandte sich der Magier zur Treppe um und sah im Zwielicht drei Bewaffnete mit Hellebarden und Laternen das Plateau erklimmen. Die schweratmenden Männer trugen Topfhelme und grauschwarze, regenabweisende Kaputzenüberwürfe, deren hervorstechendstes Merkmal markante Zierleisten mit Metallknöpfen waren, die silbrig im Laternenlicht schimmerten.
Keine Soldaten, sondern einfache Nachtwächter.
Hinter ihnen zeichnete sich das verschattete Dächermeer Wyverhavens ab. Die Küstenstadt schmiegte sich an einen felsigen Hang und reichte über mehrere Höhenebenen hinab bis hinunter zum fast kreisrunden und von künstlichen Flutmauern umgebenen Hafenbecken samt Werften und Speichern. Die Hafenstadt war dort erbaut worden, wo der Reißwasser ins Westmeer mündete. Der Fluss entsprang dem Wolkenkamm-Gebirge und war zur Schneeschmelze kaum schiffbar. Dennoch hatte sich die etwas über zweitausend Einwohner beherbergende Küstenstadt in den letzten Jahrhunderten zum wichtigsten Umschlagsplatz für den Überseehandel mit Drachengebein entwickelt. Entgegen den Gepflogenheiten in anderen Teilen der Jungen Königreiche, war der Handel mit dem kostbaren Material hier noch immer erlaubt. Doch Drachengebein wurde zunehmend rar, und so lebten die hiesigen Händler inzwischen vornehmlich von dem, was die Waljäger oben in Walskar erbeuteten oder was über den Nebelpass an kostbaren und zuweilen verbotenen Waren aus den Reichen östlich des Wolkenkamm-Gebirges hierhergelangte, darunter Waffen aus Waldalether Stahl, Rauschpilze aus Kesselfurt, Tuche aus Kronberg und buntes Glas aus Albenhain. Der Niedergang Wyverhavens war dennoch kaum aufzuhalten. Die serpentinenartigen Gassen, die sich durch die Stadt zogen, waren baufällig, große Teile der Einwohnerschaft verarmt, und einzig im Stadtviertel der reichen Überseehändler, Werftbesitzer und Schiffseigner, das sich rund um die Burg des hiesigen Seekönigs schmiegte, war noch etwas von dem vergangenen Glanz zu erahnen. Seit die herrschenden Clans in dem Piratennest Harveth jedoch wieder auf Kaperfahrt gingen, schwand auch der verbliebene Reichtum.
Trotzdem mussten Stadt und Seekönig ihre Verpflichtungen erfüllten.
»Mein Name ist Magister Rasgath Tiefwasser und ich bin ein Abgesandter des Ordens der Stäbe!«, erklärte der Magier den näher kommenden Männern. Er klopfte mit seinem Zauberstab aus gedrechseltem Drachengebein auf den Boden und über dem Stabende erschien eine sanft leuchtende Lichtkugel, deren Helligkeit die Schatten auf dem Turmplateau vertrieb.
Verblüfft sahen ihn die drei Nachtwächter an.
Der älteste von ihnen, ein Mann mit Vollbart und vom Wetter gegerbtem Gesicht, senkte sogleich die Waffe.
»Ein Magier vom Orden der Stäbe?« Verlegen rückte er sich den Topfhelm zurecht. »Ich wusste gar nicht, dass der Orden noch existiert. Zumindest … dürfte es schon eine Weile her sein, seit einer von euch unsere Stadt besucht hat.«
»Was mich betrifft, ist es einhundertunddrei Jahre her«, erwiderte Rasgath Tiefwasser.
»Meine Güte, wie alt seid Ihr?«
Der Magier musterte ihn kühl. »Heute sind es 473 Jahre, fünf Monate und dreizehn Tage. Aber ich glaube kaum, dass das etwas zur Sache tut.«
Der Nachtwächter und seine Kameraden wechselten ungläubige Blicke. »In diesem Fall habt Ihr ja sogar den Dritten Drachenkrieg miterlebt.«
Rasgath Tiefwasser lächelte schmallippig. Dass der Magierorden heute nur noch aus ihm und Walmar bestand, musste der Mann nicht wissen. Escalia und der fette Goltar waren tot. Alruna hatte sich als Drache entpuppt, und wo Valeska nach ihrer Flucht vom Drachenthron geblieben war, entzog sich seiner Kenntnis. Valeska war schon immer ein selbstsüchtiges Miststück gewesen, das die Zauberei weniger aus akademischen Zwecken betrieb, sondern um sich zu bereichern. Um den magischen Schutz der Jungen Königreiche war es also schlecht bestellt.
Auf ihre ehemaligen widerspenstigen Adepten würde Rasgath nicht setzen. Alle waren sie magische Dilettanten, ausgebildet allein zu dem Zweck, ihr Leben für das Wohl der Jungen Königreiche zu opfern. Bedauerlicherweise war das missglückt und die Adepten flüchtig. Nur bei seiner eigenen Adeptin Ambra spürte Rasgath, dass sie den Kampf am Drachenthron nicht überlebt hatte. Walmar und er mussten sich also allein auf ihre eigenen Kräfte verlassen.
»So oder so, Ihr solltet dankbar sein, dass ich Eure Stadt angesichts der heraufziehenden Bedrohung mit einem Besuch beehre«, sagte Rasgath.
Die Männer warfen sich irritierte Blicke zu.
»Welche Bedrohung?«, fragte der Bärtige.
»Der Meister unseres Ordens, Walmar der Weise, hat doch bereits vor zwei Wochen Botschaften überall in die Jungen Königreiche entsandt«, erklärte Rasgath Tiefwasser misstrauisch. »Auch zu Eurem König. Ihr solltet also wissen, wovon ich spreche.«
»Entschuldigt, Herr«, meldete sich einer der Jüngeren zu Wort, »was auch immer Ihr meint, wir wurden nicht eingeweiht.«
»Wie bitte?« Alarmiert marschierte Rasgath Tiefwasser an den Bewaffneten vorbei zum Rand des Plateaus, nestelte an seiner Brille und warf einen genaueren Blick auf das Stadtgebiet. Zwar schob sich in diesem Moment eine Wolke vor den Mond, dennoch konnte er erkennen, dass im Hafenbecken statt der erhofften Kriegsschiffe lediglich drei hochseetaugliche Handelssegler vor Anker lagen. Die Stadt machte überhaupt einen verschlafenen Eindruck.
Erbost...




