E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Thompson In die finstere Nacht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-07281-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-07281-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In die finstere Nacht ist eines von Thompsons eindringlichsten Werken: eine gnadenlose Psychostudie über einen Profikiller, der bei seinem letzten Auftrag mehr und mehr die Kontrolle verliert und seinem blutigen Untergang entgegensteuert.
Jim Thompson wurde 1906 in Anadarko, Oklahoma, als James Myers Thompson geboren. Er begann früh zu trinken und schlug sich als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler durch. Obwohl er mit bereits 15 Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkauft hatte, konnte er erst seit Beginn der fünfziger Jahre vom Schreiben leben. Für Hollywood verfasste er zahlreiche Drehbücher, u.a. für so namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick. Thompson gilt als zentraler Vertreter des Noir-Genres. Er starb 1977 in Los Angeles, seine Asche wurde im Pazifischen Ozean verstreut.
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1.
Als ich in Chicago umgestiegen war, hatte ich mir eine leichte Erkältung eingefangen, und die drei Tage in New York, die ich warten musste, bis der Boss mich empfing – drei Tage mit Schnaps und Weibern satt –, hatten die Sache nicht unbedingt besser gemacht. Als ich in Peardale ankam, fühlte ich mich hundsmiserabel. Zum ersten Mal seit Jahren fand ich in meinem Auswurf wieder leichte Spuren von Blut.
Ich trat aus dem kleinen Bahnhof und inspizierte die Main Street von Peardale. Sie war vielleicht vier Blocks lang, teilte die Stadt in zwei heruntergekommene Hälften und endete am Lehrerkolleg, auf dessen fünf Hektar großem, schlecht in Schuss gehaltenem Campus ein halbes Dutzend Klinkerhäuser verstreut lagen. Das größte davon hatte drei Stockwerke. Die Wohnheime sahen ziemlich schäbig aus.
Ich hustete ein paarmal. Um dem entgegenzuwirken, zündete ich mir eine Zigarette an. Ich fragte mich, ob ich mir auch ein paar Drinks genehmigen sollte, um meinen Kater zu bekämpfen. Ich hatte sie nötig. Ich packte meine beiden Koffer und machte mich auf den Weg.
Wahrscheinlich lag es an meiner Laune, aber je weiter ich nach Peardale hineinkam, desto weniger mochte ich es. Die ganze Stadt verströmte Fäulnis und Verfall. Industrie gab es hier offenbar keine, lediglich einige Geschäfte für landwirtschaftlichen Bedarf. Und in einer fünfundneunzig Meilen von New York entfernten Stadt gab es natürlich auch keine Pendler. Das Lehrerkolleg machte die Sache zweifellos ein bisschen besser, aber garantiert nicht viel. Es lastete etwas Trostloses auf dieser Stadt, etwas, das mich an kahle Männer erinnerte, die sich die letzten Schläfenhaare quer über den Kopf kämmen.
Ich ging ein paar Blocks weiter, fand aber keine Bar, weder auf der Main Street noch in den Seitenstraßen. Schwitzend und von leichtem Schüttelfrost ergriffen, stellte ich die Koffer ab und zündete mir eine frische Zigarette an. Und hustete wieder. Im Stillen verfluchte ich den Boss und belegte ihn mit allen erdenklichen Schimpfwörtern.
Ich hätte alles dafür gegeben, wieder an der Tankstelle in Arizona stehen zu können.
Aber so lief es leider nicht. Entweder gelang es mir, die dreißig Riesen vom Boss aufzutreiben, oder ich war erledigt.
Vor einem Schuhgeschäft blieb ich stehen und erhaschte im Schaufenster einen Blick auf mein Spiegelbild. Was nicht viel hermachte. Nicht, dass ich hässlich gewesen wäre. Es lag einzig und allein an meiner Größe. Ich sah aus wie ein kleiner Junge, der sich vergeblich bemüht, als Mann durchzugehen. Denn ich maß gerade mal eins fünfundfünfzig.
Ich wandte mich vom Schaufenster ab, sah dann aber doch nochmal hinein. Ich wollte keinen wohlhabenden Eindruck erwecken. Allerdings musste man ja nicht im Geld schwimmen, um ein Paar anständige Schuhe zu tragen. Neue Schuhe hatten schon immer einen merkwürdigen Reiz auf mich ausgeübt. Sie gaben mir das Gefühl, jemand zu sein, auch wenn ich nicht danach aussah. Also betrat ich den Laden.
Gleich neben dem Eingang befand sich eine Vitrine mit Socken und Haltern. Ein rundlicher, älterer Typ, vermutlich der Besitzer, stand darübergebeugt und las Zeitung.
Er sah kaum zu mir auf, sondern deutete nur mit dem Daumen über die Schulter.
»Geradeaus die Straße hoch, Junge«, sagte er, »die roten Ziegelhäuser da.«
»Was?«, entgegnete ich. »Ich …«
»Einfach hochgehen, Junge. Dort kriegst du alle wichtigen Informationen.«
Wenn es etwas gibt, was ich nicht ausstehen kann, dann, dass mich einer »Junge« nennt. Wenn es auf der ganzen gottverdammten Welt überhaupt etwas gibt, was ich absolut nicht ausstehen kann, dann dass mich einer »Junge« nennt. Ich hob die Koffer so hoch wie möglich und knallte sie mit voller Wucht auf den Boden. Das jagte dem Mann einen solchen Schreck in die Glieder, dass ihm fast die Brille von der Nase gerutscht wäre.
Dann marschierte ich zu den Anprobestühlen und setzte mich.
Rotgesichtig und ein bisschen betreten trottete der Ladenbesitzer hinter mir her und ließ sich auf den Hocker vor mir sinken.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte er vorwurfsvoll. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mein Temperament im Zaum halten.«
Er hatte recht, ich würde lernen müssen, mich besser zu beherrschen. Ich grinste. »Schon klar. Ich mag es nur nicht, wenn mich einer ›Junge‹ nennt. Wahrscheinlich ginge es Ihnen ähnlich, wenn die Leute ›Fettsack‹ zu Ihnen sagen würden.«
Er warf mir einen finsteren Blick zu, beließ es aber bei einem kehligen Lachen. Er war kein schlechter Kerl. Nur so ein neunmalkluger Kleinstädter, der die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte. Ich verlangte ein Paar Halbschuhe Größe siebenunddreißig mit Absätzen. Er machte sich in seinem Regal auf die Suche und versuchte dabei mich auszuhorchen.
Ob ich das Lehrerkolleg besuchen wolle. Ob es dafür nicht schon ein bisschen spät im Semester sei. Ob ich schon eine Unterkunft hätte.
Ich sagte, ich hätte mich wegen einer Krankheit verspätet und würde im Gästehaus von J. C. Winroy wohnen.
»Bei Jake Winroy«, entfuhr es ihm. Er sah mich durchdringend an. »Warum gehen Sie nicht … ich meine, warum wollen Sie dort wohnen?«
»Hauptsächlich wegen des Geldes. Es war das billigste Angebot für Kost und Logis, das man mir genannt hat.«
»Ja, ja«, nickte er, »aber wissen Sie auch, warum es so billig ist, junger Mann? Weil niemand sonst dort wohnen will.«
Ich ließ die Kinnlade fallen und schaute ihn besorgt an. »Himmel, Sie wollen doch nicht andeuten, dass es sich um den Winroy handelt?«
»Oh doch, Sir«, nickte er triumphierend. »Höchstpersönlich. Der Mann, der die Schmiergelder für den Pferdewettenring ausbezahlt hat.«
»Mein Gott, ich dachte, der sitzt im Gefängnis.«
Er belächelte mich mitleidig. »Da leben Sie aber ganz schön hinter dem Mond, mein Lieber. Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«
»Bigelow. Carl Bigelow.«
»Tja, da haben Sie wohl einiges nicht mitbekommen, Carl. Jake ist jetzt schon seit gut sechs, sieben Monaten wieder draußen. Hatte wahrscheinlich genug vom Knast. Hat’s wohl nicht gepackt, obwohl die schweren Jungs ihn mit Geld zugeschüttet haben, damit er brav seine Zeit absitzt und die Klappe hält.«
Ich behielt meine besorgte Miene, sah ihn sogar ein bisschen verängstigt an.
»Verstehen Sie, ich will nicht behaupten, dass Sie bei den Winroys nicht gut aufgehoben wären. Die beiden haben ja schließlich schon einen Kostgänger, allerdings keinen Studenten, sondern einen Kerl, der drüben in der Bäckerei arbeitet, und der scheint ganz zufrieden. Offenbar hat sich seit Wochen kein Detective mehr blicken lassen.«
»Wird das Haus etwa überwacht?«, fragte ich verblüfft.
»Na klar. Damit Jake nicht umgebracht wird. Es ist nämlich so, Carl« – und er verklickerte es mir wie jemand, der mit einem geistig zurückgebliebenen Kind spricht – »in diesem Buchmacherprozess ist Jake der Hauptbelastungszeuge. Der Einzige, der mit dem Finger auf die ganzen korrupten Politiker und Richter zeigen kann. Und seitdem er sich bereiterklärt hat, gegen diese Leute auszusagen, haben die Cops Angst, er könnte umgelegt werden.«
»H-h-hat d-d-das …« Meine Stimme zitterte. Es machte langsam richtig Spaß, mich mit diesem Clown zu unterhalten. Ich musste mich beherrschen, nicht laut loszulachen. »Hat das denn schon mal jemand versucht?«
»Mmhmm … So, nun stehen Sie mal eben auf, Carl. Passt er? Gut, dann probieren wir den anderen. Nein, nein, das hat noch niemand versucht. Und je länger man darüber nachdenkt, desto besser versteht man auch warum. So wie es im Moment aussieht, will die Öffentlichkeit nämlich gar nicht unbedingt, dass diese Buchmacher vor Gericht kommen. Denn was ist schon so schlimm daran, bei einem Buchmacher zu wetten, wenn es auf der Rennbahn auch erlaubt ist? Aber ein paar Wetten anzunehmen ist eine Sache, Mord eine andere. Das würde die Öffentlichkeit nicht akzeptieren. Diese Buchmacher wären ganz schnell weg vom Fenster. Das würde einen solchen Wirbel verursachen, dass die Politiker gezwungen wären, den ganzen Saustall auszumisten, ganz egal, wie ungelegen ihnen das käme.«
Ich nickte. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Man konnte Jake Winroy nicht ermorden. Zumindest nicht so, dass es wie ein Mord aussah.
»Was wird denn Ihrer Meinung nach jetzt passieren?«, fragte ich. »Werden die Ja… Mr. Winroy so einfach vor Gericht aussagen lassen?«
»Na sicher doch«, erwiderte er höhnisch. »Wenn er es noch erlebt. Wenn der Fall vor Gericht kommt, wird er aussagen – in, sagen wir mal, vierzig oder fünfzig Jahren … Wollen Sie sie anbehalten?«
»Ja, und schmeißen Sie die alten einfach weg.«
»So läuft es nämlich. Verzögern. Vertagen. Das haben sie schon zweimal gemacht. Und machen es weiter. Und ich wette hundert Dollar, dass der Fall nie vor Gericht kommt.«
Den Hunderter hätte er verloren. Der Gerichtstermin stand fest. In drei Monaten sollte die Verhandlung beginnen. Und sie würde nicht mehr verschoben...