Thor | Vorhang auf für Johanna! | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 239 Seiten

Thor Vorhang auf für Johanna!


Novität
ISBN: 978-3-8251-6159-0
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 239 Seiten

ISBN: 978-3-8251-6159-0
Verlag: Urachhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Junge springt über den hohen Zaun eines Waisenhauses und geht in gestohlenen Mädchenkleidern Richtung Stadt. Aus Johan wird Johanna. Wird er in der großen Welt zurechtkommen? Und wer ist er eigentlich? Wo gehört er wirklich hin? Als »Johanna« wird er Ankleiderin bei einer reisenden Theaterkompanie. Die Welt des Theaters mit ihren Schicksalsdramen, Verwechslungen und Hosenrollen fasziniert ihn, steckt er doch selbst in einer Rolle. Doch jemand verfolgt ihn, jemand, der verhindern will, dass er erfährt, wer er wirklich ist … Ein hochspannendes, absolut stimmiges Geflecht aus historischer Schilderung, Theater-, Freundschafts-, Identitätsfindungs- und Liebesgeschichte. Lesevergnügen auf hohem Niveau!

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Weitere Infos & Material


1. Die Flucht 2. Der Engel 3. Die Theatertruppe 4. Der Offizier 5. Die Karten 6. Der Junge 7. Das Mädchen 8. Die Mütze 9. Der Brand 10. Die Beerdigung 11. Die Abreise 12. Ein Zuhause


Erstes Kapitel DIE FLUCHT
»Los, Johan! Klettern!« Sie standen unter mir um den Baumstamm herum, eine eifrige Schar von etwa zehn Jungen in meinem Alter und auch älter. »Klettern! Na, was ist?!« Ich hatte es ein paar Meter in den Baum hinauf geschafft, von Ast zu Ast. Aber bis zu meiner Mütze, die dort oben baumelte, war es noch einmal so weit. Der Anführer, einer der älteren Jungen, Frettchen genannt, weil er mit seiner blassen Haut, seinen weißen Augenbrauen und den rötlichen Augen an einen weißen Iltis erinnerte, hetzte mich weiter. »Die Mütze, Johan! Willst du deine Mütze nicht holen?« Zögernd richtete ich mich auf, griff nach dem Ast über mir und hievte mich nach oben. Gleich würde alles Gewicht an meinen Armen hängen. Ich spürte, wie die Rinde mir die Haut am Bauch aufschrammte, als mein Hemd hochglitt. »Klettern, Johan! Traust du dich etwa nicht?« Meine Füße ließen den Ast los, auf dem ich gestanden hatte, jetzt trugen nur noch die Arme mein ganzes Gewicht. Ich zog das eine Bein hoch und versuchte, mich mit dem Knie auf den nächsten Ast zu stützen, reichte aber nicht ganz hinauf. »Höher! Klettern!« Mit aller Kraft zog ich mich nach oben und hob gleichzeitig das Bein, spürte den rauen Ast an meinem bloßen Knie, verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber hinunter auf den Kies. Ringsum höhnisches Gelächter. »Nicht einmal halbwegs geschafft!« Jetzt hatten sie ihren Spaß gehabt, genau das bekommen, was sie wollten. Ich blieb auf dem Kies liegen und hörte, wie sie davonzogen. Als sie verschwunden waren, setzte ich mich auf und befühlte Arme und Gelenke. Nichts schien gebrochen zu sein, keines der Fußgelenke verstaucht. Schürfwunden an den Knien, Ellbogen und Händen, doch das war ich ja gewohnt. Nach dem Mittagessen, bevor unsere Nachmittagsarbeit anfing, hatten wir Kinder immer eine Stunde frei, um auf dem kiesbedeckten Hof vor dem Waisenhaus zu spielen. In den Spielen der Jungen ging es stets darum, wer am schnellsten rennen, am höchsten klettern und sich als Stärkster behaupten konnte. Sie machten Ringkämpfe, im Winter seiften sie einander mit Schnee ein. Mit hölzernen Stöcken, die als Schwerter dienten, spielten sie Krieg, oder sie wetteiferten, wer sich am höchsten in den großen Baum hinauftraute. Der Baum wuchs direkt neben dem Bretterzaun, der den Hof des Waisenhauses einfasste. Von dort oben konnte man die Welt außerhalb sehen, die wir sonst nur sonntags flüchtig wahrnahmen, wenn wir in Reih und Glied zur Kirche marschierten und nach dem Gottesdienst wieder zurück. Mir selbst wurde beim Klettern schwindelig. Ich war klein und dünn für mein Alter und wurde bei allen Ringkämpfen regelmäßig besiegt. Rennen konnte ich recht schnell, aber nicht schnell genug, um nicht von Jungen mit längeren Beinen eingeholt zu werden. Es gab viele, die mir gern einen extra kräftigen Schlag mit dem Holzstock verpassten oder den Schneeball mit Kies vermischten, der das Gesicht aufkratzte. Nasenbluten und blaue Flecken waren der Preis, den ich zu zahlen hatte, weil ich zu den auserwählten Jungen gehörte, die, statt vormittags zu arbeiten, meinten, mit ihren Schulbüchern und ihren Rechenaufgaben angeben zu können. Meine Mütze hing immer noch im Baum. Ich war nicht derjenige, der sie dort hinaufgeworfen hatte, aber ich würde die Schuld dafür bekommen und bestraft werden, weil ich unachtsam mit dem Eigentum des Waisenhauses umgegangen war. Eine Tracht Prügel. Kein Abendessen. Alleine schlafen, und zwar in der dunklen Abstellkammer, wo die Scheuereimer und Bürsten aufbewahrt wurden. Vielleicht sollte ich es mit einem Stein versuchen? Wenn ich genau träfe, würde die Mütze sich vom Zweig lösen und herunterfallen. Ich musste eine Weile suchen, bis ich einen Stein fand, der die richtige Größe hatte. Ich war so in die Suche vertieft, dass ich nicht merkte, wie die anderen Kinder sich paarweise oder in Gruppen auf den Eingang zubewegten. Mit dem Stein in der Hand ging ich zum Baum zurück, stellte mich schräg darunter und versuchte den Wurfwinkel zu berechnen. Das könnte klappen. Im selben Augenblick, als ich den Stein losschleuderte, packte mich jemand am Arm. Die Wurfrichtung wurde verfälscht, und statt in die Baumkrone zu fliegen, fiel der Stein in einem krummen Bogen über den Zaun. Ich hörte ihn dumpf auf der Straße aufschlagen. »Was fällt dir ein, Steine zu werfen, du Lümmel!« Vor Wut war der Lehrer rot im Gesicht. Sein Griff um meinen Arm wurde härter. Eine Ohrfeige landete brennend auf meiner Wange. Mein linkes Ohr war plötzlich wie taub. »Ausgerechnet du! Wo du mehr im Kopf hast als der Rest der hiesigen Schlingel zusammen. Und was hast du überhaupt hier draußen verloren, die Pausenglocke hat doch schon geläutet? Du solltest jetzt im Spinnsaal sein.« Es hatte keinen Sinn, etwas zu erklären. Der Lehrer würde mir nicht glauben, und wenn es zu den anderen Jungen durchsickerte, dass ich gepetzt hatte, würden sie mich am nächsten Tag verprügeln. »Ich habe die Glocke nicht gehört«, war alles, was ich herausbrachte. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« »Steine über den Zaun werfen! Wenn jemand den an den Kopf bekommen hätte!« Der Lehrer brummte und schimpfte weiter, während er mich zum Eingang zerrte, mit unverändert hartem Griff um meinen Arm. »Rauf mit dir! Jetzt mach, dass du davonkommst!« Ich erhielt einen unsanften Stoß in Richtung Treppe und rannte nach oben, an dem Stockwerk vorbei, wo die Schlafsäle sich befanden, und weiter hinauf ins Dachgeschoss. Die Tür zum Spinnsaal war wie immer zu und abgeschlossen. Ich musste fest klopfen, bis die Spinnmeisterin aufmachte. »Wo bist du gewesen? Die anderen haben schon längst mit der Arbeit angefangen!« Zwei Stockhiebe trafen meinen Rücken. Die Schläge schmerzten, im linken Ohr hörte ich immer noch ein dumpfes Klopfen, und meine Wange fühlte sich empfindlich und geschwollen an. Ich hastete zu meinem Spinnrad, nahm einen gekardeten Wollbüschel und begann zu arbeiten. Das Garn lief durch meine Finger, während ich taktfest das Pedal trat und nicht daran zu denken versuchte, was nach dem Ende des Arbeitstages auf mich zukam. Frettchen und einer seiner Kumpane, die unmittelbar vor mir saßen, drehten sich um und grinsten boshaft, während sie mir mit Gesten und Mienen deutlich machten, was mich erwartete: noch mehr Prügel, wenn der Direktor des Waisenhauses entdeckte, dass die Mütze fehlte. Das heißt, falls ich nicht erzählte, wie alles sich abgespielt hatte, doch dann würden Frettchen und die anderen mich verprügeln, weil ich gepetzt hatte. Als die Glocke zum Abendessen läutete, kam die Spinnmeisterin an meinen Platz und musterte das gesponnene Garn. »Das ist ungleichmäßig«, sagte sie. Ich selbst konnte keine Fehler am Garn erkennen, aber es lohnte sich nicht zu widersprechen. »Erst kommst du zu spät, und dann arbeitest du auch noch schlampig. So was können wir nicht dulden. Dieses Garn hier muss noch einmal gezwirbelt werden, und das hier auch.« »Das mache ich morgen«, flüsterte ich. »Morgen? Oh nein, mein Lieber, das machst du jetzt. Du bleibst hier und arbeitest, bis es dunkel wird. Dann kannst du auf einem der Wollsäcke schlafen, ich habe nämlich anderes zu tun, als herzukommen und dich herauszulassen.« Nachdem die anderen Kinder mit ihren Holzschuhen die Treppe hinuntergepoltert waren, lag der Spinnsaal einsam und verlassen da. Das Licht des Frühlingsabends genügte, um arbeiten zu können, aber in den Ecken lauerten dunkle Schatten. Die Spinnmeisterin hatte die Tür abgeschlossen, vor dem nächsten Morgen würde mich niemand herauslassen. So blieb mir wenigstens erspart, an diesem Tag noch mehr Prügel einstecken zu müssen. Ich arbeitete, solange es hell genug war. Im Takt mit dem surrenden Spinnrad und dem Treten des Fußes dachte ich immer wieder nur das eine: Ich muss fort. Fort von hier. Muss fort. Fort von hier. Fort, fort von hier! An die Zeit vor dem Waisenhaus konnte ich mich nicht erinnern. Ich war ja noch so klein gewesen, kaum zwei Jahre alt, als ich dorthin kam. Als der Waisenhausdirektor den kleinen Jungen damals nach seinem Namen gefragt hatte, konnte der Junge nicht antworten. Vielleicht hatte er seinen Namen vergessen, oder er hatte nie gewusst, dass er einen Namen hatte. Die unbekannte Person, die das Kind in einer Oktobernacht vor dem Tor zurückgelassen hatte, gab sich nicht zu erkennen und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Zettel mit dem Namen des Kindes an das schmutzige Jäckchen zu heften. Ins Register wurde ich als Johan Herbst eingetragen, nach der Jahreszeit, in der ich angekommen war. Zehn Jahre später war ich elf Jahre alt, bald zwölf, eines von ungefähr hundert blassen, ewig verschnupften Waisenhauskindern in abgetragenen graubraunen Kitteln und klappernden Holzschuhen. Wenn ich morgens in dem Bett aufwachte, das ich mit einem anderen Jungen teilte, und mich in dem großen Schlafsaal umsah, war es manchmal, als hätte ich vergessen, wer ich war. Ich hätte irgendeiner von all diesen Jungen sein können, die ihre Füße widerwillig auf den kalten Fußboden stellten und anfingen, Hosen, Hemden und Kittel anzuziehen. Mit unseren kurz geschorenen Haaren sahen wir alle gleich aus, ein Fremder hätte uns kaum voneinander unterscheiden können. Die Haare wurden so kurz geschoren, um den Läusen leichter beizukommen, die Mädchen dagegen durften ihre...


Kicherer, Birgitta
Birgitta Kicherer, geboren 1939 in Stockholm, wuchs in Schweden und Deutschland auf. Nach einem Grafikstudium arbeitete sie zunächst als Buchillustratorin bevor sie Anfang der 70er Jahre ihre Tätigkeit als Übersetzerin begann. Kicherer übersetzt vorwiegend aus dem Schwedischen, ebenso jedoch auch aus dem Norwegischen, Dänischen und Englischen. Zahlreiche ihrer Übersetzungen wurden mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 1999 erhielt sie zudem den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk.
Für die Übersetzung des Romans ›Stadt der Sonne‹ von Tove Jansson erhielt Birgitta Kicherer 2017 ein Arbeitsstipendium des DÜF, zudem ist sie Trägerin des Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreises (1993).

Thor, Annika
Annika Thor, geboren 1950 in Göteborg, ist gelernte Bibliothekarin und machte sich als Film- und Fernsehkritikerin einen Namen, bevor sie zum Schreiben kam. Seit 20 Jahren verfasst sie Drehbücher und Theaterstücke, meist für Kinder und Jugendliche. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem schwedischen August-Preis, der Nils-Holgersson-Plakette, dem Astrid-Lindgren-Preis und der Elsa-Beskow-Plakette ausgezeichnet.

Annika Thor, geboren 1950 in Göteborg, ist gelernte Bibliothekarin und machte sich als Film- und Fernsehkritikerin einen Namen, bevor sie zum Schreiben kam. Seit 20 Jahren verfasst sie Drehbücher und Theaterstücke, meist für Kinder und Jugendliche. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem deutschen Jugendliteraturpreis, dem schwedischen August-Preis, der Nils-Holgersson-Plakette, dem Astrid-Lindgren-Preis und der Elsa-Beskow-Plakette ausgezeichnet.



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