Tóibín | Mütter und Söhne | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Tóibín Mütter und Söhne

Erzählungen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-25912-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-446-25912-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Geschichten von Menschen, die mit ihrem Leben zurechtkommen müssen, nachdem etwas passiert ist: Die Söhne in Toibins erstem Erzählungsband sind Diebe, Priester, Bauern, die Mütter Folksängerinnen, Alkoholikerinnen oder Geschäftsfrauen, aber alle unterhalten hochkomplizierte Beziehungen zueinander. Der hochgerühmte Autor Colm Toibin ist eine der spannendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur aus Irland. Frei von Sentimentalität und Klischees zeichnet er hier Figuren, die sich dem Tod eines geliebten Menschen oder der Enthüllung eines so schrecklichen Geheimnisses wie Kindesmissbrauch zu nähern versuchen.

Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy geboren, ist einer der wichtigsten irischen Autoren der Gegenwart. Bereits sein erster Roman 'Der Süden' (1994) wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem IMPAC-Preis, dem David Cohen Prize for Literature und dem Würth-Preis für Europäische Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt 'Long Island' (Roman, 2024) sowie 'Vinegar Hill' (Gedichte, 2025). Er wurde für 2022-2024 zum Laureate for Irish Fiction ernannt.
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Der Gebrauch der Vernunft


Die Stadt war eine große Leere. Er stand auf dem Balkon einer der Dachgeschosswohnungen auf der Charlemont Street. Die weite öde Fläche unter ihm war leer. Er schloss die Augen und dachte an die anderen Wohnungen in diesem Geschoss, jetzt am Nachmittag größtenteils leer, so wie die kleinen kahlen Badezimmer leer waren und die offenen Treppenhäuser leer waren. Er stellte sich die Häuser vor, die in langen Streifen von Vororten vom Zentrum ausstrahlten: nach Norden Fairview, Clontarf, Malahide; nach Süden Ranelagh, Rathmines, Rathgar. Er dachte über die Selbstsicherheit dieser Straßen nach, über ihre Stärke und Solidität, und dann ließ er seine Gedanken durch die Zimmer von Vorstadthäusern schweifen, Schlafzimmer, den ganzen Tag leer, Parterrezimmer, die ganze Nacht lang leer, die langen Gärten hinter den Häusern, aufgeräumt, gestutzt, auch sie den ganzen Winter lang und einen großen Teil des Sommers lang leer. Die traurigen Dachböden, ebenfalls leer. Wehrlos. Niemand würde einen Eindringling bemerken, der über eine Mauer kletterte, durch einen Garten huschte, um über die nächste Mauer zu klettern, einen unscheinbaren Mann, der die Rückseite des Hauses nach Lebenszeichen, nach einer Alarmanlage oder einem Wachhund absuchte und dann lautlos ein Fenster aufstemmte, hineinschlüpfte, vorsichtig ein Zimmer durchquerte, nach einem sicheren Fluchtweg suchte. Er würde eine Tür öffnen, ohne ein Geräusch zu machen, so auf der Hut, dass er fast unsichtbar wäre.

Er dachte an die Leere der Clanbrassil Street, durch die seine Mutter zum »Dock« ging. Es war so, als ob selbst die Luft, die sie umgab, und auch der Bürgersteig und die Backsteine der Gebäude sich der Gefahr bewusst wären, die sie darstellte, und ihr aus dem Weg gingen. Das blonde Haar ungekämmt, schlurfte sie in Pantoffeln zur Gastwirtschaft. Ein unechter Goldring, unechte Armreifen und auffällige goldene Ohrringe, die sich mit dem Rot ihres Lippenstifts, dem Grün ihres Lidschattens, dem Blau ihrer Augen bissen. Jetzt drehte sich seine Mutter um, um zu sehen, ob ein Auto kam, damit sie die Straße überqueren konnte, und stellte, wie er sich ausmalte, fest, dass die Straße vollkommen leer war, ohne jeglichen Verkehr, dass die Welt ihr zu Gefallen entleert worden war.

Während sie sich der Gastwirtschaft näherte, wusste seine Mutter, dass sich ihre Nachbarn vor ihren unerwarteten Liebenswürdigkeiten ebensosehr fürchteten wie vor ihren Wutausbrüchen und ihren Alkoholkollern. So konnte ein Lächeln ihrerseits ebenso unwillkommen sein wie ein finsterer Blick. Zumeist trug sie eine gleichgültige Miene zur Schau. Weder auf der Straße noch im Pub brauchte sie zu drohen, man wusste, wer ihr Sohn war, und man glaubte, er sei ihr leidenschaftlich ergeben. Er wusste nicht, wie sie es fertigbrachte, alle glauben zu lassen, er würde selbst die geringfügigste Kränkung seiner Mutter rächen. Auch ihre Drohungen waren leer, dachte er, leerer als alles andere.

Er stand auf dem Balkon und rührte sich nicht von der Stelle, als sein Besucher, der sich dem Gebäude durch die verborgene Seitentür des Komplexes genähert hatte, auftauchte. Er ließ, wie er es jede Woche tat, Detective Inspector Frank Cassidy an sich vorbei in die kleine Wohnung ein, die seiner Schwägerin gehörte und von ihm nur einmal in der Woche benutzt wurde. Cassidy trug, was er immer anhatte, und sein gerötetes Gesicht zeigte eine Mischung aus verstohlenem Schuldbewusstsein und geschäftsmäßiger Selbstsicherheit. Er zahlte Cassidy jede Woche einen Betrag, der entweder zu hoch oder zu niedrig war, jedenfalls hinlänglich falsch, um ihm das Gefühl zu geben, dass Cassidy ihn eher zum Narren hielt als dass er seine eigenen Leute verriet. Als Gegenleistung lieferte ihm Cassidy Informationen, die ihm größtenteils schon bekannt waren. Trotzdem hatte er immer das Gefühl, dass Cassidy, sollten ihm die Gesetzeshüter jemals zu nahe kommen, ihn dies schon wissen lassen würde. Er würde es, wie er glaubte, aus Gefälligkeit tun oder aber, damit er in Panik geriet. Oder vielleicht auch beides. Er selbst sagte Cassidy nichts, aber er konnte nicht wissen, ob seine Reaktion auf eine bestimmte Information eines Tages nicht alles verraten würde, was Cassidy brauchte.

»Sie beobachten die Wicklow Mountains«, sagte Cassidy anstelle einer Begrüßung.

»Sagen Sie ihnen, dass sie nur ja die Augen offen halten sollen. Die Schafe fressen Gras. Das verstößt gegen das Gesetz.«

»Sie beobachten die Wicklow Mountains«, sagte er noch einmal.

»Von einem bequemen Sessel in der Harcourt Street aus«, sagte er.

»Wollen Sie es ein drittes Mal hören?«

»Sie beobachten die Wicklow Mountains.« Er imitierte Cassidys schleppenden Midland-Tonfall.

»Und sie haben einen jungen Kerl auf Ihren Fall angesetzt. Mansfield heißt er, und ich schätze, Sie werden noch einiges von ihm hören.«

»Das haben Sie mir schon letzte Woche gesagt.«

»Ja, aber er hat sich schon an die Arbeit gemacht. Er sieht nicht aus wie ein Polizist. Er sucht nach Juwelen.«

»Erzählen Sie mir nächste Woche etwas Neues.«

Nachdem Cassidy die Wohnung verlassen hatte, ging er wieder auf den Balkon und ließ den Blick noch einmal über die rußige Welt schweifen. Als er sich abwandte, fiel ihm etwas ein, eine deutliche Erinnerung an den Bennett’s-Juwelenraub. Sie hatten fünf Angestellten, alles Männer, befohlen, sich mit dem Gesicht an die Wand zu stellen, als einer von ihnen gefragt hatte, ob er sein Taschentuch herausholen dürfte.

Er hielt sie mit einer Pistole in Schach, allein, während er darauf wartete, dass die anderen die übrigen Mitarbeiter zusammentrieben. Er hatte dem Typ mit einem nachgemachten, schleppenden amerikanischen Akzent gesagt, wenn er sich die Nase putzen müsse, solle er wirklich besser sein Taschentuch herausholen, aber wenn er irgend etwas anderes heraushole, sei er ein toter Mann. Er hatte in einem beiläufigen Ton gesprochen, um zu verstehen zu geben, dass er keine Angst hatte, sich mit einer so dummen Frage abzugeben. Aber als der Typ das Taschentuch herausholte, war das ganze Kleingeld in seiner Tasche mit herausgefallen, und Münzen waren überall auf den Fußboden geprasselt. Die Männer sahen sich um, bis er sie anschrie, sie sollten sich augenblicklich wieder zur Wand drehen. Eine Münze rollte ein Stück weiter; seine Augen folgten ihr, und als er sich bückte, um die anderen Münzen aufzulesen, ging er hin und hob auch die auf. Dann schlenderte er zurück und händigte dem Mann, der sich die Nase hatte putzen müssen, die Münzen aus. Das bereitete ihm ein Gefühl der Ruhe, der Erleichterung, fast des Glücks. Er würde Schmuck im Wert von über zwei Millionen Pfund rauben, aber er gab einem Mann sein Kleingeld zurück.

Er lächelte bei dem Gedanken, als er in die Wohnung zurückging, sich die Schuhe auszog und sich auf das Sofa legte; jetzt, wo Cassidy gegangen war, würde er noch ein, zwei Stunden warten. Er erinnerte sich auch, dass sich während dieses Raubüberfalls eine der weiblichen Angestellten geweigert hatte, sich in die Herrentoilette bringen zu lassen.

»Sie können mich erschießen, wenn Sie wollen«, hatte sie gesagt, »aber da gehe ich nicht rein.«

Seine drei Kameraden, Joe O’Brien mit seiner Balaklava-Mütze, Sandy und dieser andere Typ, hatten plötzlich nicht gewusst, was sie tun sollten, und hatten sich zu ihm gewandt, als ob er ihnen vielleicht wirklich befehlen könnte, sie zu erschießen.

»Bringt sie und ihre Freundinnen auf die Damentoilette«, hatte er leise gesagt.

Er hob den Evening Herald auf und sah sich noch einmal das Foto von Rembrandts Bildnis einer alten Frau an, und er fragte sich, ob das Gemälde ihn an diese Geschichte erinnert hatte oder ob umgekehrt die Geschichte ihn daran erinnert hatte, sich wieder das Bild anzusehen. Daneben war ein Artikel, in dem es hieß, die Bullen würden mehrere Spuren verfolgen, die zur Wiederauffindung des Gemäldes führen könnten. Die Frau auf dem Gemälde sah ebenfalls stur aus, wie die Frau in der Schmuckfabrik, aber älter. Die Frau, die sich geweigert hatte, in die Herrentoilette zu gehen, war von der Sorte, die man sonntags abends mit einer Gruppe Freundinnen vom Bingo zurückkommen sah. Sie hatte der Frau auf dem Gemälde überhaupt nicht ähnlich gesehen. Er rätselte, worin die Verbindung zwischen den beiden bestehen mochte, bis ihm aufging, dass abgesehen von der Sturheit überhaupt keine bestand. Die Welt, dachte er, spielte seinem Verstand Streiche.

Dein Verstand ist wie ein Haus, in dem es spukt. Er wusste nicht, woher er das hatte, ob ihm das jemand gesagt, ob er es irgendwo gelesen hatte, oder ob es eine Zeile aus einem Lied war. Das Haus,...


Tóibín, Colm
Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy geboren, ist einer der wichtigsten irischen Autoren der Gegenwart. Bereits sein erster Roman Der Süden (1994) wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert. Bei Hanser erschienen zuletzt der Henry-James-Roman Porträt des Meisters in mittleren Jahren (2005), Mütter und Söhne (Erzählungen, 2009), Marias Testament (Roman, 2014), Liebe und Tod (Hanser-Box, 2014), Brooklyn (Roman, 2016) und Nora Webster (Roman, 2016). Seine Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.?a. mit dem IMPAC-Preis.

Bandini, Giovanni
Giovanni und Ditte Bandini arbeiten seit 1985 als Schriftsteller und freie Übersetzer. Unter anderem haben sie Seamus Heaney, Matt Ruff, Cathleen Schine, Kiran Nagarkar und Neel Mukherjee ins Deutsche übertragen.



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