Tóibín Nora Webster
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25421-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-446-25421-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy geboren, ist einer der wichtigsten irischen Autoren der Gegenwart. Bereits sein erster Roman 'Der Süden' (1994) wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem IMPAC-Preis, dem David Cohen Prize for Literature und dem Würth-Preis für Europäische Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt 'Long Island' (Roman, 2024) sowie 'Vinegar Hill' (Gedichte, 2025). Er wurde für 2022-2024 zum Laureate for Irish Fiction ernannt.
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1. KAPITEL
»Sie müssen die doch langsam überhaben. Hören sie denn überhaupt nicht mehr auf zu kommen?« Tom O’Connor, ihr Nachbar, stand an seiner Haustür und blickte sie erwartungsvoll an.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Gehen Sie einfach nicht mehr an die Tür. So würde ich das machen.«
Nora schloss das Gartentörchen.
»Sie meinen es gut. Die Leute meinen es gut«, sagte sie.
»Abend für Abend«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, wie Sie das aushalten.«
Sie fragte sich, ob sie wohl ins Haus zurückgehen konnte, ohne ihm noch einmal antworten zu müssen. Er sprach in einem neuen Ton zu ihr, einem Ton, den er sich vorher nie herausgenommen hätte. Er sprach so, als sei sie ihm irgendwie Rechenschaft schuldig.
»Die Leute meinen es gut«, wiederholte sie, aber diesmal machte es sie traurig, das zu sagen, sie musste sich auf die Lippe beißen, um die Tränen zurückzuhalten. Als sie Tom O’Connors Blick sah, begriff sie, dass sie niedergeschlagen, ja besiegt gewirkt haben musste. Sie ging ins Haus.
Es war schon beinahe acht Uhr abends, als es klopfte. Im Hinterzimmer brannte der Ofen, und die zwei Jungs machten am Tisch ihre Hausaufgaben.
»Du gehst aufmachen«, sagte Donal zu Conor.
»Nein, du.«
»Einer von euch geht«, sagte sie.
Conor, der Jüngere, trat in den Flur. Als er die Tür öffnete, konnte sie eine Stimme hören, eine Frauenstimme, aber keine, die ihr bekannt vorkam. Conor führte die Besucherin in das vordere Zimmer.
»Es ist die kleine Frau aus der Court Street«, flüsterte er ihr zu, als er zurückkam.
»Was für eine kleine Frau?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht.«
Als Nora ins Wohnzimmer kam, schüttelte May Lacey traurig den Kopf.
»Nora, ich habe bis jetzt gewartet. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut wegen Maurice.«
Sie nahm Noras Hand und hielt sie fest.
»Und er war doch so jung. Ich kannte ihn schon als kleinen Jungen. Wir kannten sie alle in der Friary Street.«
»Ziehen Sie doch den Mantel aus und kommen Sie mit nach hinten«, sagte Nora. »Die Jungs machen gerade ihre Aufgaben, aber das können sie auch hier am Elektroofen tun. Sie gehen sowieso bald ins Bett.«
May Lacey, unter deren Hut dünne graue Haarsträhnen hervorsahen, den Schal noch immer um den Hals, nahm im Hinterzimmer Nora gegenüber Platz und fing an zu reden. Nach einer Weile gingen die Jungs nach oben; als Nora ihn rief, war Conor zu schüchtern, um herunterzukommen und gute Nacht zu sagen, aber kurz darauf kam Donal ins Zimmer und setzte sich zu ihnen und beobachtete May Lacey aufmerksam, ohne etwas zu sagen.
Es war mittlerweile klar, dass sonst niemand mehr kommen würde. Nora war erleichtert darüber, dass es ihr erspart blieb, sich um Gäste kümmern zu müssen, die sich gegenseitig nicht kannten, oder die sich nicht mochten.
»Jedenfalls«, fuhr May Lacey fort, »lag Tony also in Brooklyn im Krankenhaus, und da kommt doch dieser Mann in das Bett neben seinem, und sie geraten ins Plaudern, und Tony hörte ihm an, dass er Ire war, und erzählte ihm, dass seine Frau aus dem County Wexford stammt.«
Sie hielt inne und schürzte die Lippen, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern. Plötzlich fing sie an, eine Männerstimme zu imitieren. »Ach, genau da komme auch ich her, sagte der Mann, und dann sagte Tony, dass seine Frau aus Enniscorthy wäre; ach, und genau da komme auch ich her, sagte der Mann. Und er fragte Tony, woher genau in Enniscorthy sie stamme, und Tony sagte, sie käme aus der Friary Street.«
May Lacey ließ Noras Gesicht nicht aus den Augen, wodurch sie gezwungen wurde, Interesse und Überraschung zu heucheln.
»Und der Mann sagte, genau da bin ich auch her. Ist das nicht unglaublich!«
Sie verstummte und wartete auf eine Antwort.
»Und er erzählte Tony, bevor er aus der Stadt weggezogen sei, hätte er dieses Eisending gemacht – wie soll man das nennen? –, so ein Gitter oder Geländer auf dem Fenstersims von Gerry Cranes Haus. Und ich bin hin und habe es mir angesehen, und es ist tatsächlich da. Gerry wusste gar nicht, wie oder wann es da hingekommen ist. Aber der Mann im Bett neben Tony in Brooklyn, der sagte, er habe es gemacht, er sei Schweißer. Ist das nicht ein Zufall? Ausgerechnet in Brooklyn.«
Als Donal ins Bett ging, machte Nora Tee. Sie trug ihn mit Keksen und Kuchen auf einem Tablett ins Hinterzimmer. Nachdem sie alles umständlich hergerichtet hatten, nippte May Lacey an ihrem Tee und nahm das Gespräch wieder auf.
»Natürlich hielten meine Leute alle große Stücke auf Maurice. In ihren Briefen fragten sie immer nach ihm. Bevor Jack fort ist, war er mit ihm befreundet. Und natürlich war Maurice ein großartiger Lehrer. Die Jungs sahen zu ihm auf. Das haben die Leute ständig gesagt.«
Während sie ins Feuer sah, versuchte Nora, nicht zurückzudenken, und fragte sich, ob May jemals zuvor in diesem Haus gewesen war. Sie glaubte, nein. Sie kannte sie schon ihr Leben lang, wie so viele andere in der Stadt, mit denen man Grüße und Höflichkeiten austauschte oder bei denen man, wenn es Neuigkeiten gab, stehenblieb und redete. Sie kannte ihre Lebensgeschichte bis hin zu ihrem Mädchennamen und der Stelle auf dem Friedhof, an der sie einst begraben werden würde. Nora hatte sie einmal auf einem Konzert singen hören, sie erinnerte sich an ihren näselnden Sopran – es war »Home, Sweet Home« oder »Oft in the Stilly Night« gewesen, eins von diesen Liedern.
Sie nahm nicht an, dass May Lacey, außer zum Einkaufen oder sonntags zur Messe, viel aus dem Haus ging.
Jetzt schwiegen sie, und Nora dachte, dass May vielleicht bald gehen würde.
»Es war nett von Ihnen, mich zu besuchen«, sagte sie.
»Ach, Nora, es hat mir sehr leid getan wegen Ihrem Verlust, aber ich dachte, ich warte lieber, ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen.«
Sie lehnte eine weitere Tasse Tee ab, und als Nora mit dem Tablett in die Küche ging, dachte sie, dass May jetzt vielleicht aufstehen und ihren Mantel anziehen würde, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Nora ging nach oben und vergewisserte sich, dass die Jungs schliefen. Sie lächelte in sich hinein, als sie sich vorstellte, sie würde sich jetzt ebenfalls ins Bett legen und einschlafen, während May Lacey unten, sich selbst überlassen, ins Feuer starrte und vergeblich auf sie wartete.
»Wo sind eigentlich die Mädchen?«, fragte May, sobald Nora sich gesetzt hatte. »Ich sehe sie überhaupt nicht mehr, früher waren sie ständig unterwegs.«
»Aine ist im Internat in Bunclody. Sie gewöhnt sich allmählich ein«, sagte Nora. »Und Fiona macht ihre Lehrerausbildung in Dublin.«
»Sie fehlen einem, wenn sie weggehen«, sagte May Lacey. »Sie fehlen mir alle, ehrlich, aber es ist komisch, am meisten muss ich an Eily denken, obwohl ich auch Jack vermisse. Da war etwas, ich weiß nicht, ich wollte Eily einfach nicht verlieren. Nach Roses Tod – Sie wissen das alles, Nora – dachte ich, sie würde nach Hause zurückkommen und endgültig bleiben und sich hier irgendwo Arbeit suchen, und dann eines Tages, wo sie gerade ein, zwei Wochen wieder zurück war, da fiel mir auf, wie still sie war, und das sah ihr gar nicht ähnlich, und sie fing am Tisch an zu weinen, und da erfuhren wir die ganze Geschichte, dass ihr Bekannter in New York sie nicht hatte heimfahren lassen wollen, wenn sie ihn nicht vorher heiratete. Und da hat sie ihn geheiratet, ohne auch nur einem von uns was zu sagen. ›Tja, Eily, das war’s dann also‹, sagte ich. ›Dann musst du wohl zu ihm zurück.‹ Und ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen oder mit ihr reden, und später schickte sie mir Fotos von ihm und sich zusammen in New York, aber ich brachte es nicht fertig, sie mir anzusehen. Sie waren das Letzte auf der Welt, was ich sehen wollte. Es hat mir immer leid getan, dass sie nicht geblieben ist.«
»Und mir hat es leid getan zu hören, dass sie zurückgefahren ist, aber vielleicht ist sie dort ja glücklich«, sagte Nora und fragte sich im selben Moment, als May Lacey mit einem verletzten Ausdruck zu Boden sah, ob man so etwas besser nicht sagte.
May Lacey fing an, in ihrer Handtasche zu kramen. Sie setzte sich eine Lesebrille auf.
»Ich dachte, ich hätte Jacks Brief mitgenommen, aber ich muss ihn zu Hause gelassen haben«, sagte sie.
Sie musterte ein Blatt Papier und dann ein anderes.
»Nein, ich habe ihn nicht dabei. Ich wollte ihn Ihnen zeigen. Da war etwas, was er Sie fragen wollte.«
Nora sagte nichts. Sie hatte Jack Lacey seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.
»Vielleicht finde ich den Brief ja noch und schicke ihn Ihnen«, sagte May.
Sie stand auf, um zu gehen.
»Ich glaube nicht, dass er jetzt nach Hause kommt«, sagte sie, während sie ihren Mantel anzog. »Was würde er hier schon machen? Die haben ihr eigenes Leben, drüben in Birmingham, und sie haben mich zu sich eingeladen und alles, aber ich hab Jack gesagt, dass ich gern zu Gott heimkehren würde, ohne vorher England gesehen zu haben. Und doch denke ich, dass er hier gern etwas hätte, einen Ort, den er besuchen kann, und vielleicht auch Eilys Kinder oder einige von den anderen.«
»Er kann Sie ja besuchen«, sagte Nora.
»Er dachte, Sie würden vielleicht Cush verkaufen«, sagte May, während sie ihren Schal zurechtstrich. Sie sprach so, als sei nichts weiter dabei, aber als sie Nora jetzt ansah, war ihr Blick hart und konzentriert, und ihr Kinn fing an zu zittern.
»Er hat mich gefragt, ob Sie es verkaufen würden«, sagte sie und schloss entschieden den Mund.
»Ich habe keine Pläne«, sagte Nora.
May schürzte wieder die Lippen. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Hätte ich bloß den Brief...