Tilly | Why? | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 231 Seiten

Tilly Why?

Was passiert, wenn Leute Gründe angeben ... und warum
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86854-993-5
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Was passiert, wenn Leute Gründe angeben ... und warum

E-Book, Deutsch, 231 Seiten

ISBN: 978-3-86854-993-5
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit einer Einführung von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner Menschen geben von klein auf Begründungen an oder fordern von anderen Gründe ein, und dies tun sie ein Leben lang. Der namhafte Soziologe, Historiker und Politikwissenschaftler Charles Tilly untersucht die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen zu anderen Menschen aus den von ihnen angegebenen Gründen aufbauen, verhandeln oder beenden. Unabhängig von dem, was sie sonst noch tun, wenn sie Gründe angeben, gestalten Menschen durch Begründungen ihr soziales Leben. Das Buch handelt nicht davon, ob angegebene Begründungen richtig oder falsch, gut oder schlecht, plausibel oder unglaubwürdig sind. Vielmehr konzentriert es sich auf den sozialen Prozess des Begründens. Jede Art von Begründung hat bestimmte Eigenschaften und variiert im Inhalt - je nachdem, welche sozialen Beziehungen die Gebenden und die Nehmenden von Gründen miteinander verbinden. Insofern hat jede neben anderen Konsequenzen auch Auswirkungen auf ihr soziales Miteinander: Begründungen bestätigen eine bestehende Beziehung, sie bringen sie wieder in Ordnung, erheben Anspruch auf eine neue Beziehung oder bestreiten einen solchen Anspruch. Ebenso handeln Menschen, die Gründe geben oder nehmen, damit ihren Status zueinander aus, ob sie gleichrangig oder ungleich sind. In allen Fällen hängt jedoch die Akzeptanz von angegebenen Begründungen davon ab, ob sie zu den sozialen Beziehungen passen, die zwischen den Beteiligten vorherrschen. Tilly beschreibt forschend, gleichsam einfühlend, was geschieht, wenn Menschen in ihrem Umfeld Gründe angeben, Gründe präsentiert bekommen oder solche miteinander aushandeln. Angereichert mit Anekdoten über alltägliche soziale Erfahrungen bietet Tilly den Leserinnen und Lesern eine faszinierende Geschichte über die Bedeutung von Begründungen in ihrem Leben. In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann. Sozialforschung weiterdenken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik. Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.

Charles Tilly (1920-2008), Soziologe, Historiker, Politologe, lehrte während seiner Laufbahn an einer Reihe von Universitäten, zuletzt lange an der Columbia University. Tilly veröffentlichte über fünfzig Bücher und Monografien sowie Hunderte wissenschaftliche Artikel. Seine Forschung gibt Einblicke in eine Reihe von Themen, wie Revolutionen, europäische Nationalstaatsbildung, Demokratie, soziale Bewegungen und kategorische Ungleichheiten.
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Warum Gründe angeben?


Die ersten Beobachter versuchten sich einfach zusammenzureimen, was da vor sich ging. Am Morgen des 11. September 2011, um 8.19 Uhr, rief die Flugbegleiterin Betty Ong beim Reservierungsbüro der US-Fluggesellschaft American Airlines an, die in Cary, North Carolina, für den Südosten des Landes zuständig war. Ongs Flug AA 11 war um 7.59 Uhr in Boston nach Los Angeles gestartet. Ong erreichte Nydia Gonzalez und teilte mit, dass Flugzeugentführer ihre Maschine gekapert hätten. Zwei Flugbegleiterinnen seien niedergestochen, mindestens ein Passagier getötet und sie und andere mit einer Substanz besprüht worden, die in den Augen brenne und Atembeschwerden hervorrufe.3

Um 8.27 Uhr leitete Gonzalez Ongs Anruf an Craig Marquis in der Verkehrsleitzentrale von American Airlines in Fort Worth, Texas, weiter. Um dieselbe Zeit meldeten Fluglotsen, dass die Maschine bei Albany, New York, eine scharfe Wende nach Süden genommen habe. »Sie fliegen nach New York!«, rief Marquis aus, so erinnert er sich. »Rufen Sie Newark und [den John F. Kennedy Airport in New York] an und teilen Sie den Leuten mit, sich auf eine Flugzeugentführung einzustellen«, ordnete er an, in der Annahme, dass die Hijacker das Flugzeug dort landen würden. »In meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir nicht vorgestellt, dass das Flugzeug in ein Gebäude rasen würde«, sagt Marquis.4 Als erfahrener Dienstleiter ordnete er die Entführung von Flug AA 11 naheliegenderweise in die dramatischsten früheren Szenarios ein, bei denen Luftpiraten Geld, Asyl oder die Freilassung politischer Gefangener gefordert hatten. Sie hätten das Flugzeug gekapert, so nahm er an, um mit den als Geiseln genommenen Crew-Mitgliedern und Fluggästen Gegenleistungen zu erpressen. Um dieselbe Zeit meldeten Fluglotsen in Boston der Leitstelle der US-Flugaufsicht, dass die Maschine wahrscheinlich Kidnappern in die Hände gefallen sei.5 Betty Ong, die mit ihrer Schilderung der Ereignisse an Bord im Flüsterton fortfuhr, gab um 8.38 Uhr durch, dass sich die Maschine im Sinkflug befinde. Um 8.44 Uhr riss die Verbindung abrupt ab.6

Wie die Entführer von Flug AA 11 bald bewiesen, hatte sich Craig Marquis bei seiner Begründung der Ereignisse geirrt. Zwei Minuten nachdem Gonzalez den Telefonkontakt zu Betty Ong verloren hatte, schaute Chefinspektor Kevin McCabe von der US-Zollbehörde in Elizabeth, New Jersey, aus seinem Bürofenster in östliche Richtung. »Um 8.46 Uhr«, so Steven Brill, dem er den Ablauf später berichten sollte, »trank er gerade Kaffee und telefonierte, als er das erste Flugzeug ins World Trade Center krachen sah. Weil er gesehen hatte, wie groß die Maschine war, dachte er an einen möglichen Anschlag. Er schaltete das Fernsehgerät ein und rief die New Yorker Zollbehörde im World Trade Center an, um herauszufinden, was vor sich ging.«7

Wenige Minuten nachdem McCabe das Hauptquartier angerufen hatte, berichtete Bryant Gumbel für CBS News aus Manhattan. Er hatte soeben erfahren, dass ein unbekanntes Flugzeug im World Trade Center eingeschlagen war. Um 8.52 Uhr präsentierte er seinen ersten Augenzeugen, Stewart Nurick, der in einem Restaurant in SoHo bedient hatte. »Ich sah im wahrsten Sinn des Wortes ein …«, sagte er. »Es sah aus wie ein kleines Flugzeug. […] Ich hörte ein paar Geräusche, es sah so aus, als prallte es vom Gebäude ab, und dann sah ich nur noch oben am Gebäude einen gewaltigen Feuerball. Und nur noch viel Rauch und herabfallende Trümmer oder Glas.«8 Einen Augenblick später interviewte Gumbel Wendell Clyne, Türsteher am Marriott World Trade Center Hotel:

»GUMBEL: Okay, Sie standen also draußen. Sagen Sie uns, was sie gesehen und gehört haben.

CLYNE: Zuerst hörte ich eine Explosion. Und ich stellte mir einfach vor, dass es ein vorbeifliegendes Flugzeug wäre. Und ganz plötzlich stürzte Zeug herab, Ziegelsteine, Papier und alles Mögliche. Also bin ich irgendwie nach innen gerannt, um vor den Trümmern und dem Glas in Deckung zu gehen. Als es vorbei war, hörte ich einen Mann schreien. Ich schaute hin und sah, dass der Mann lichterloh brannte, rannte also zu ihm und versuchte, die Flammen an ihm auszuschlagen, während er schrie. Ich sagte ihm, er solle sich auf dem Boden hin und her wälzen, aber er sagte, er könne nicht. Dann kam ein anderer Mann […] und schlug die Flammen an ihm aus.«9

Es war ungefähr zwei Minuten nach neun Uhr.

Gumbel schaltete zu einer dritten Augenzeugin, Theresa Renaud, die von ihrer Wohnung an der 8th Avenue und 16th Street aus, gut drei Kilometer nördlich des Zentrums, das World Trade Center im Blick hatte. Sie berichtete:

»Vor rund zehn Minuten gab es ungefähr im 80. Stock eine große Explosion – sieht so aus, als wären vier bis acht Stockwerke betroffen. Aus der Nordseite und aus der Ostseite des Gebäudes schlagen hohe Flammen heraus. Die Explosion war sehr laut, gefolgt von Flammen, und es sieht so aus, als brennte es im Gebäude immer noch.

Oh, da ist noch eins – da ist noch ein Flugzeug eingeschlagen. [Entsetzter Aufschrei] O mein Gott! Da ist eben noch ein Flugzeug eingeschlagen – es hat das andere Gebäude getroffen, ist mitten hineingerast. Mein Gott, mitten ins Gebäude.

GUMBEL: Jetzt in [Turm 2]?

RENAUD: Ja, ja, mitten ins Gebäude … Das war doch definitiv … Absicht.

GUMBEL: Warum sagen Sie, dass es definitiv Absicht war?

RENAUD: Weil es direkt hineingeflogen ist.«10

Nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs ins World Trade Center eilte der Filmemacher Jules Naudet, der gerade eine Dokumentation über die Feuerwehr im Zentrum Manhattans drehte, mit dem Bataillonschef zum Schauplatz der Katastrophe. Während er die Feuerwehrleute bei ihrem Einsatz in der Lobby des zuerst getroffenen Nordturms filmte, schlug das zweite Flugzeug in den anderen Turm ein: »Wir hörten plötzlich draußen eine Explosion, und als ich mich umdrehte und aus dem Fenster blickte, sah ich brennende Trümmer auf den Hof herabregnen. Dann hörte ich einen Funkspruch, dass ein weiteres Flugzeug in Turm 2 eingeschlagen sei. Jeder Gedanke, es könnte sich einfach um ein furchtbares Unglück handeln, war verflogen: New York wurde angegriffen.«11 Auch Washington, D.C., wurde Opfer eines Anschlags. Es herrschte absolutes Chaos.

Als an diesem Septembermorgen die entführten Verkehrsflugzeuge ins World Trade Center in New York, ins Pentagon in Washington und auf einem Feld in Pennsylvania einschlugen, gab es überall auf der Welt ein Bedürfnis der Menschen, Gründe zu erfahren. Warum hatte jemand diese abscheuliche Gewalttat begangen? Warum hatten die Täter die Vereinigten Staaten ins Visier genommen? Warum hatten die amerikanischen Behörden den Angriff nicht verhindert? Rasch schwenkten alle, die sich zunächst nur einen Reim auf die augenblicklichen Geschehnisse zu machen versucht hatten, auf eine Suche nach Gründen für das Desaster um. Unmittelbar Beteiligte standen vor der zweifachen Herausforderung, Gründe für das schreckliche Unglück als Ganzes wie auch für die besonderen Ereignisse zu finden, die sie erlitten, beobachtet oder verursacht hatten.

Ohne groß Fragen zu stellen, machten sich die Rettungskräfte vor Ort zunächst an ihre Routineaufgaben. Erst bei der Arbeit selbst suchten sie ernsthaft nach triftigen Gründen, die das Desaster vor ihren Augen erklären konnten. So schob beispielsweise Gary Smiley, Sanitäter der New Yorker Feuerwehr, im Brooklyner Zentrum Überstunden, als er um 8.48 Uhr in seiner Ambulanz über Funk erfuhr, dass ein Flugzeug in den 110-stöckigen Nordturm (Turm 1) des World Trade Centers eingeschlagen war. Nur Minuten später raste seine Mannschaft über die Brooklyn-Brücke nach Manhattan.

Smiley richtete zwischen beiden Türmen einen Triage-Bereich ein. Als er eine Verletzte, die soeben aus Turm 1 herausgekommen war, über die Straße transportierte, hörte er plötzlich eine Frau »Flugzeug« schreien. Er blickte nach oben und sah das zweite Flugzeug in den Südturm (Turm 2) hineinrasen. Es war 9.03 Uhr, ganze 17 Minuten nach dem ersten Einschlag. Weil Trümmer auf sie herabstürzten, drückte er die Frau auf halben Weg über die Straße auf den Boden und warf sich über sie. Ein abgetrennter menschlicher Arm landete brennend auf seinem Rücken. »Es war pures Chaos«, berichtete er später. »Alle rannten durcheinander. Dann machte es klick, und mir wurde klar, was hier vor sich ging. Ich war 1993, nachdem im Gebäude eine Bombe explodiert war, dabei gewesen und hatte mich im Hotel an der Straße gegenüber schließlich um eine Hundertschaft an Leuten gekümmert. Ich wusste also, dass dies ein Anschlag war. Und das machten wir dann auch den Leuten klar, und deswegen setzten sie sich in Bewegung.«12 Smiley überlegte sich zunächst Gründe für das Geschehen und teilte diese dann anderen mit. Nach...



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