E-Book, Deutsch, 223 Seiten
Tjutjunnyk Drei Kuckucke und eine Verbeugung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86337-227-9
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 223 Seiten
ISBN: 978-3-86337-227-9
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hryhir Tjutjunnyk wurde 1931 im Gebiet Poltawa in der Zentralukraine in eine Bauernfamilie hineingeboren. Als Tjutjunnyk sechs Jahre alt war, fiel sein Vater Mychajlo einer Säuberungswelle zum Opfer. Der Zweite Weltkrieg und die schwere Nachkriegszeit überschatteten Kindheit und Jugend des Autors, der bei Verwandten im Donbass aufwuchs und schon früh gezwungen war, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dazu arbeitete er nach einer Schlosserlehre in der Kolchose, im Bergwerk und in Fabriken. Nach seinemWehrdienst bei derMarine in Wladiwostok schrieb sich Tjutjunnyk in einer Abendschule ein, verfasste erste Kurzgeschichten und ging später an die Universität Charkiw, wo er 1962 ein Philologiestudium abschloss. Danach arbeitete er zunächst als Lehrer, Redakteur und Drehbuchautor, bevor er sich mehr und mehr dem Schreiben widmete. Trotz zahlreicher Auszeichnungen fühlte sich der Schriftsteller, der an sich und sein Schaffen die höchsten Ansprüche stellte, in der bürokratisierten literarischen Landschaft der Sowjetukraine und unter dem Druck, den die Sowjetmacht auf die künstlerische Kreativität ausübte, nie zu Hause und sah sich nicht in der Lage, sein Talent umfassend zu realisieren. 1980 ging er in den Freitod. 1989 wurde ihm posthum der Taras-Schewtschenko-Preis zuerkannt, diewichtigste staatliche Auszeichnung für herausragendeWerke der ukrainischen Kunst und Kultur.
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Himmelsrand
Die Fährte
Ich nehme den steilen Weg vom verkrauteten Anlegeplatz am Dnipro zum Himmelsrand, so nah scheint er schon, wie in einem gigantischen Tor steht er zwischen den Flanken der Steilufer, heilig und festlich vor Einbruch der Nacht – über sich die dünne, violette Sichel des jungen Monds mit einem einzigen Stern, auch er violett.
Es dämmert.
Auf dem taufeuchten, grau glitzernden Gras am Abhang weiden Pferde. Zwei. Eines weiß, das andere braun. Gehören wohl dem Förster. Da taucht auch schon sein Haus unter der Felswand am Abhang auf, der großzügige Hof, darin ein Leiterwagen mit Heu, eine weißgekalkte Scheune. Und auf der Feuerstelle im Hof brennt das Feuer, darüber hängt der Kessel – Abendessen.
Ich kann hören, wie die Pferde das junge Gras mahlen, wie sie gemächlich genießen, dankbar.
»Grüß euch, Pferde!«, rufe ich ihnen leise zu. Sie heben die Köpfe von ihrer Weide, sehen mich lange an, und ihre Augen sind mondhell und freundlich, wie bei allen arbeitenden Tieren.
Weit habe ich zu gehen. Aber das ist nicht schlimm. Ich werde dafür vieles sehen, vieles hören.
Ich werde die Steige und die Trampelpfade des Frühlings sehen, die wie Äste vom Stamm nach allen Seiten abzweigen vom Weg – in die Dörfer, die Weiler, zum Dnipro und seinen Buchten, wo die Fischer Haselzweige schneiden für Angelruten, Kinder Sauerampfer pflücken für Suppe und junge Leute Maiglöckchen suchen oder Flieder, der am vollsten blüht bei den alten Feuerstätten oben auf den Steilufern und zwischen ihren Flanken.
Ich werde Lieder hören, denn es ist heute Sonntag, bestimmt wird jemand singen, ob nun allein oder mit anderen. Und wenn ich durch Schepeliwkowa komme, ein kleines Dorf am Weg, werden in den Gärten hinter den Flechtzäunen die Pärchen tuscheln, noch Kinder fast, Schüler, und sie werden flüstern. Nicht laut reden, oh nein … Sehnlichst wünschen sie sich, erwachsen zu sein, und darum wird geflüstert. Ein Flüstern in der Dämmerung ist die Stimme der nahenden Volljährigkeit, des Erwachsenendaseins. Weil Flüstern – Geheimnis ist. Flüstern ist – gezügelte Freude, die sich losreißt aus der Brust …
Dann kommen die Seen und die mit Entengrütze überwucherten Teiche Die werde ich unversehens, im milchig-blauen Dunst, erreichen und darum herumwandern. Ankündigen werden die Seen sich aber schon, wenn ich sie noch gar nicht sehen kann: Da flattern Flügel im Kalmus, da quakt erschrocken eine Ente und schnattert den Mond an, sein Licht.
Dann werde ich abweichen vom Weg. Entweder nach links abbiegen oder nach rechts. Sollte dieses Abenteuer mir nicht zusagen, werde ich keine Zeit haben, es zu bedauern ob der Sorge: Wohin muss ich jetzt? Alles um mich her wird einschlafen oder schon im Schlafe liegen, ich aber werde in der Bredouille sein, und um meine Irrfahrt zu beenden – mich auf den Boden legen mit der Brust auf die noch vom Tag warme Erde und lange durch die Grashalme hindurch in die Ferne spähen. Wenn meine Sicht sich dann schärft, mein Blick sich gewöhnt haben wird an die verspäteten Dunstschwaden über den Talkesseln, werde ich den Himmelsrand wieder zwischen den Steilufern sehen und dann ziehe ich weiter.
Und so, langsam meinen Weg verfolgend, werde ich Onkel Ihors aus Lehm gestampftes Wächterhäuschen erreichen. Aus dem Unterstand für das Vieh kommt Wärme, Milchduft, die Kühe seufzen im Schlaf, und Onkel Ihor sitzt in seinem Häuschen und flicht einen Korb aus entrindeten Weidenzweigen. Oder er streicht einen schon geflochtenen an, mit roter und grüner Farbe. Den Rand grün, das darunter verlaufende Band rot. Oder umgekehrt. Damit sie einen froh machen. Die Körbe sind Onkel Ihors Leidenschaft und sein Zubrot.
»Wie ein Akkordeonspieler auf einer Hochzeit: spielen nach Herzenslust und Lohn kassieren obendrein. Die Forstwacht ist halt meine offizielle Arbeit, sozusagen, wie jeder eine hat.« So sagt er.
Ich habe Onkel Ihor sehr gern, dabei kenne ich ihn eigentlich nicht. Kenne nicht einmal seinen Namen. Ihor habe ich mir nur ausgedacht. Weil Leute, die Ihor heißen, durchweg vernünftige und freundliche Menschen sind, wie ich finde. Natürlich, ich könnte ihn aushorchen über sein Leben, aber einen hart arbeitenden und schweigsamen Menschen zu bedrängen – das ist schäbig, als tränke man Wasser aus einem fremden Brunnen, ohne den Besitzer des Hofs um Erlaubnis zu fragen, als bliebe man stehen und belauschte die Jugend, wenn sie flüstert in den Gärten.
Ich kenne nur die Worte, die Onkel Ihor mir absichtslos geschenkt hat, sich keinen Begriff davon machend, was er mir da mitgegeben hat. Aus diesen Worten, und mehr noch aus der Art, wie er sie sagte, habe ich den guten Menschen herausgehört. Ist das nicht Grund genug, ihn zu verehren?
Der Nebel war damals so dick, dass er alles zudeckte: den Dnipro wie das Land. Ich war auf einem Pfad unterwegs, auf dem ich mich nicht auskannte, ging ohne Sicht, ging in die Ferne ohne ein Ziel. Mir entgegen kam aus dem Nebel ein Mann, ein Bündel neuer Körbe über der Schulter, graue Brauen unter einer alten Schirmmütze aus Walkloden, Hände groß wie Schmiedehämmer und jungenhafte, blassblaue Augen.
»Geht’s hier irgendwo zurück zum Weg?«, fragte ich ihn nach einem Gruß.
Der Mann ließ die grün und rot bemalten Körbe zu Boden gleiten, nahm die Mütze ab, fuhr sich mit der flachen Hand über die feuchte Stirn und den schütteren, grauen Haarschopf und setzte sie wieder auf. Erst dann sagte er:
»Sollte schnell gehen, oder?«
»Stimmt«, sagte ich.
»Weg gibt’s keinen, nur eine Fährte, wenn du gut hinguckst, findest du sie.«
»Die Körbe – haben Sie die auf dem Markt gekauft?«
»Was sollte ich mit so vielen Körben? Hab sie selber geflochten und bemalt. Und wer zahlt, kriegt einen. Ich bring sie jetzt nur zu mir nach Hause, weil ich nicht mehr weiß, wohin damit in meiner Lehmhütte. Die ist gleich da hinten, wo der Zaun steht.«
»Dann danke ich herzlich«, sagte ich.
»Dank mir nicht, hilf mir lieber mit der Last«, gab der Onkel zurück, und als das Bündel wieder über seiner Schulter baumelte, lächelte er: »Früher hat man gesagt: Möge Gott uns helfen! Und heutzutage heißt’s – red, was du willst, helfen musst dir schon selbst. Na dann, alles Gute.«
Und er ging, vielleicht zehn Schritte (risch-ripp, machten die Körbe über seiner Schulter, risch-ripp), dann blickte er sich um. Seine Augen waren auf eine nicht durchtriebene Art klug.
»Folg der Fährte, vergiss das nicht, hörst du?«
Nein, Onkel. Bis heute habe ich das nicht vergessen.
Birnen aus dem Tümpel
Der Birnbaum und der Tümpel – bei Oma Marfa sind das zwei gleichaltrige Geschwister: Die Grube gegraben und die Birne dort gepflanzt hat ihr erster Mann, Ulas, der im ›deutschen‹ Krieg auch gleich wieder umkam.
»So habe ich auf immer ein Geschenk von ihm, als er jung war. Die Birne trägt, bis heute trägt sie, und der Tümpel fließt auch nicht davon, ich hab das Wasser vor der Tür, ich hol’s mir mit dem Schlüssel.«
Als ich das erste Mal bei Oma Marfa auf den Hof kam, um etwas zu trinken, da schöpfte ich das Wasser auch schon mit diesem ›Schlüssel‹, einer dünnen Akazienholzkette mit einem Haken daran, verzwirbelt wie ein langer Bart, damit man den Kübel im Wasser nicht verlor. Damals war August, die Hitze so brüllend, dass man bei jeder Bewegung zerfloss.
»Geht das, bei Ihnen einen Schluck zu trinken?«, hatte ich die Alte gefragt, die unter dem Birnbaum saß und eine Bluse bestickte.
»Wenn das nicht ginge, würde ich hier wohl kaum wohnen!«
Flink stand sie auf, legte ihr Nähzeug auf dem Gras ab, rollte wie ein Ball ins Haus, um einen Becher zu holen (»Ich hole geschwind einen Becher«). Sie war stark gebeugt, als hätte sie sich im Garten einst nach einer Zwiebel gebückt und sich danach nie wieder aufgerichtet.
Beim Wasserschöpfen schlug der Kübel zunächst dumpf mit der Wand gegen Birnen, die im Wasser trieben, dann füllte er sich. Als ich aus dem hölzernen Becher trank, sagte Oma Marfa so lieb und freundlich und gänzlich ungekünstelt: »Trink, auf deine Gesundheit. Zu dieser Stunde herumlaufen – könntest den Schlag kriegen, so heiß scheint die Sonne«, und sie sah mich von unten, unter ihrem Buckel hervor, an und lächelte so weise, wie nur Alte und Kinder das können.
Zusammen mit dem Wasser hatte ich auch zwei Birnen an Land gezogen.
»Fallen die alle von allein ins Wasser?«, fragte ich.
»Manche fällt selbst, die anderen werfe ich hinein, damit sie schön kühl sind … Mittags nach dem Unterricht kommen hier die Schulkinder vorbei, die holen sie sich bis zur letzten alle, kleine Schleckermäuler! Wegzehrung für euch! Fischt ruhig noch ein paar heraus, warm schmecken sie nicht halb so gut!«
Da saß sie schon wieder unter dem Birnbaum und stickte. Ohne Brille. Ich fragte sie, ob sie gut sehen könne.
»Aber ja doch, wie als ich jung war«, sagte sie, gekrümmt über ihrer Arbeit. »Als ich siebzig war, oder vielmehr noch nicht ganz fünfundsiebzig, da hab ich richtig schlecht gesehen, so schlecht, dass mein Nachbar Tereschko, Gott hab ihn selig, mir Augengläser gekauft hat, als er in Kyjiw war. Und jetzt seh ich wie ein junges Ding!« Oma Marfa lächelte still und wohlig in sich hinein, nickte mit dem Kopf über den roten Kreuzchen ihrer Stickerei.
»Wie alt sind Sie denn...