Tokarczuk | Unrast | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Tokarczuk Unrast


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70044-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-311-70044-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Noch nie wurde so viel gereist wie heute. Und doch hat sich das Reisen seine Poesie bewahrt. Aber was heißt es, in dieser rasenden Welt ein Körper in Bewegung zu sein? Nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit zu reisen? Da ist die Erzählerin, die unentwegt auf Wanderschaft ist, zu Fuß, im Auto, im Flugzeug und in Gedanken. Oder Eryk, den es als Fährmann in den hohen Norden verschlagen hat und der irgendwann mit seinen verdutzten Passagieren Kurs aufs offene Meer nimmt. Da ist der junge Mann, der langsam dem Wahnsinn verfällt, als Frau und Kind während eines Urlaubs plötzlich verschwinden, um ebenso plötzlich wieder aufzutauchen. Und schließlich Chopins Schwester, die ihren Bruder abgöttisch geliebt hat und nun sein Herz auf eine letzte Reise nach Warschau begleitet. »Unrast« ist eine Wundertüte voller Mythen, Bekenntnisse, Notizen und Gedanken über das Reisen, die Verbindung zwischen Leib und Seele, über Leben und Tod, Entwurzelung und Migration - ein Potpourri unterschiedlichster Geschichten, die alle einem geheimen Fahrplan folgen und eine gemeinsame Destination haben.

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.
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Die Welt im Kopf


Meine erste Reise unternahm ich zu Fuß, quer über die Felder. Meine Abwesenheit wurde lange nicht bemerkt, und so kam ich ziemlich weit. Ich ging durch den ganzen Park, dann über Feldwege, durch Maisfelder und über feuchte Wiesen mit Butterblumen und einem Netz von Entwässerungsgräben – bis hin zum Fluss. Der Fluss war in diesem Tiefland ohnehin allgegenwärtig, er durchtränkte die Grasschicht und leckte an den Feldern.

Ich kletterte auf den Deich und sah ein bewegliches Band, einen Weg, der über die Grenzen des Blickfelds, über die Grenzen der Welt hinausfloss. Und wenn man Glück hatte, konnte man Kähne darauf sehen, große, flache Boote, die stromauf und stromab fuhren, ohne auf die Ufer zu achten, auf die Bäume, die Menschen, die auf dem Deich standen und wahrscheinlich als unstete, nicht weiter beachtenswerte Orientierungspunkte erschienen, Zeugen der anmutigen Bewegung der Boote. Ich träumte davon, später, wenn ich groß sein würde, auf einem solchen Kahn zu arbeiten oder – besser noch, überhaupt ein Kahn zu werden.

Es war kein großer Fluss, es war nur die Oder, aber ich war ja damals auch klein. Sie hatte ihren Platz in der Hierarchie der Flüsse, wie ich später auf der Landkarte nachprüfte, und war eher unbedeutend, aber machte sich doch bemerkbar, eine Edelfrau aus der Provinz am Hof der Königin Amazonas. Mir jedoch reichte sie vollauf, sie kam mir riesig vor. Sie floss nach Belieben, nie reguliert, zu Überschwemmungen neigend, unberechenbar. An manchen Stellen stieß sie am Ufer auf Hindernisse unter der Wasseroberfläche, dort bildeten sich Strudel im Wasser. Sie strömte dahin, zog vorüber, mit ihren Zielen befasst, die irgendwo weit im Norden, jenseits des Horizonts lagen. Man konnte den Blick nicht auf ihr ruhen lassen, sie zog ihn mit sich fort, auf den Horizont zu, so dass man das Gleichgewicht verlor.

Sie schenkte mir keine Beachtung, war mit sich beschäftigt, ein unstetes wanderndes Gewässer, in das man nie zweimal steigt, wie ich später lernte.

Jedes Jahr forderte der Fluss seinen gesalzenen Lohn dafür, dass er die Kähne auf seinem Rücken trug, denn jedes Jahr ertrank jemand darin: sei es ein Kind beim Baden an einem heißen Sommertag, sei es ein Betrunkener, den es irgendwie auf die Brücke verschlagen hatte und der dort trotz des Geländers ins Wasser gefallen war. Die Ertrunkenen wurden lange und mit großem Aufwand gesucht, die ganze Gegend hielt den Atem an. Taucher kamen, das Militär stellte Motorboote. Den belauschten Gesprächen der Erwachsenen zufolge waren die schließlich gefundenen Leichen aufgedunsen und bleich, das Wasser hatte alles Leben aus ihnen gewaschen und ihre Gesichtszüge so verwischt, dass die Angehörigen die Toten nur mit Mühe erkennen konnten.

Als ich so in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird, als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann. Von da an wurde der Fluss zur Nadel, die in meiner sicheren, steten Landschaft stak: im Park, in den Beeten, wo die Gemüse in verschämten Reihen standen, in dem Gehweg aus Betonplatten, wo Himmel und Hölle gespielt wurde. Die Nadel durchstach sie alle, bezeichnete vertikal eine dritte Dimension, sie hatte ein Loch gemacht, und die kindliche Welt erwies sich als ein Aufblasspielzeug, aus dem pfeifend die Luft entwich.

Meine Eltern waren nicht ganz vom sesshaften Schlag. Immer wieder zogen sie um, von einem Ort zum anderen, bis sie sich schließlich für längere Zeit in einer Provinzschule niederließen, weitab von jeder ordentlichen Straße und Eisenbahnstation. Jedes Überschreiten der Gartengrenze, jeder Ausflug in die kleine Stadt war schon eine Reise. Einkäufe, Papiere, die im Gemeindeamt eingereicht werden mussten, immer derselbe Friseur am Markt vor dem Rathaus, der immer denselben erfolglos gewaschenen und gebleichten Kittel trug, auf dem die Färbemittel für die Haare seiner Kundinnen kalligraphische Flecken hinterlassen hatten, chinesische Schriftzeichen. Mama ließ sich die Haare färben, der Vater wartete an einem der beiden Tische draußen vor dem Café »Nowa« auf sie und las Zeitung. Er las die Lokalzeitung, in der die Rubrik »Kriminalfälle« mit Berichten über Marmeladen- und Gewürzgurkenraub aus irgendwelchen Kellern immer das Interessanteste war.

Comparative overview of important rivers (undatiert)

Ihre Ferienausflüge unternahmen sie zaghaft, mit einem bis unters Dach voll gepackten Skoda. Lange vorbereitet, an Vorfrühlingsabenden geplant, wenn der Schnee gerade getaut, die Erde aber noch nicht wieder erwacht war und sie sich auch bis auf weiteres nicht den Pflügen und Hacken hingeben, sich noch nicht befruchten lassen und die Zeit der Menschen vom Morgen bis zum Abend in Anspruch nehmen würde.

Sie gehörten zu einer Generation, die mit Wohnwagen unterwegs war, einen Hausersatz hinter sich herzog. Einen kleinen Gasherd, Klappstühle, einen Klapptisch. Eine Plastikschnur zum Aufhängen der Wäsche, wo man Halt machte, hölzerne Wäscheklammern. Wasserfestes Wachstuch für den Tisch. Ein Picknick-Set für die Reise, bestehend aus bunten Tellern, Besteck, Salzfässchen und Gläsern – alles aus Plastik.

Irgendwo unterwegs, auf einem Flohmarkt, wie ihn er und meine Mutter besonders gerne besuchten (wenn sie sich zufällig einmal nicht gerade gegenseitig vor Kirchen und Denkmälern fotografierten), hatte mein Vater einen Wasserkocher aus der Armee erstanden, einen Kupferbehälter mit einem Rohr in der Mitte, in das man eine Handvoll kleingebrochenes Reisig legen und anzünden konnte. Obwohl es auf den Campingplätzen Stromanschlüsse gab, kochte er das Wasser immer in diesem Teekessel, der qualmte und ewig brauchte. Er kniete über dem heißen Gefäß und lauschte stolz auf das Bullern des kochenden Wassers, das er dann auf die Teebeutel goss – ein echter Nomade.

Sie hielten an den dafür bestimmten Orten, auf Campingplätzen, immer in Gesellschaft anderer Leute ihres Schlags, und hielten Schwätzchen mit den Nachbarn über die Socken hinweg, die an den Zeltschnüren trockneten. Mit Hilfe des Reiseführers legte man Reiserouten fest, wobei die Sehenswürdigkeiten sorgfältig aufgelistet wurden. Bis Mittag Baden im Meer oder in einem See, am Nachmittag ein Ausflug zu den Ruinen und Überresten von Städten, zum Abschluss das Fertigabendessen, meistens aus Eingewecktem bestehend: Gulasch, Frikadellen, Klopse in Tomatensauce. Dazu brauchte man nur noch Reis oder Nudeln zu kochen. Ewiges Sparen, der Zloty steht schlecht, das ist der rote Heller der Welt. Orte suchen, wo es Stromanschluss gibt, dann wieder unwillig packen, um weiterzureisen, jedoch immer in der metaphysischen Umlaufbahn des eigenen Heims. Sie waren keine echten Reisenden, denn sie reisten, um zurückzukehren. Und immer kehrten sie erleichtert heim, hatten das Gefühl, eine Pflicht gut erfüllt zu haben. Sie kamen zurück und nahmen den Stapel Briefe und Rechnungen von der Kommode. Machten große Wäsche. Langweilten die heimlich gähnenden Freunde mit ihren Fotos zu Tode. Das sind wir in Carcassone. Und hier ist meine Frau, vor der Akropolis.

Dann führten sie das ganze Jahr ein sesshaftes Leben, dieses merkwürdige Leben, in dem man morgens da weitermacht, wo man am Abend aufgehört hat, in dem die Kleidung ganz vom Geruch der eigenen Wohnung durchdrungen ist und die Füße unermüdlich ihren Pfad auf dem Teppich treten.

Das ist nichts für mich. Offenbar fehlt mir irgendein Gen, das beim Menschen dazu führt, nach kurzer Zeit an einem Ort Wurzeln zu schlagen. Ich habe es oft versucht, aber meine Wurzeln waren flach, jeder beliebige Windstoß konnte mich ausreißen. Ich konnte nicht sprießen, diese den Pflanzen eigene Fähigkeit fehlt mir. Ich ziehe keine Säfte aus der Erde, ich bin ein Anti-Anteus. Meine Energie schöpft sich aus der Bewegung – aus dem Ruckeln von Autobussen, dem Dröhnen von Flugzeugen, dem Schaukeln von Fähren und Zügen.

Ich bin handlich, klein und kompakt. Mein Magen ist anspruchslos, mein Bauch fest, meine Lungen sind kräftig, meine Armmuskeln stark. Ich nehme weder Medikamente noch Hormone und trage keine Brille. Vierteljährlich schere ich mir die Haare mit dem Rasierapparat, ich benutze so gut wie keine Schminke. Ich habe gesunde Zähne, vielleicht nicht ebenmäßig, doch ganz, nur eine alte Plombe ist da, ich glaube im Sechser links unten. Leberwerte normal. Bauchspeicheldrüsenwerte normal. Die Nierenfunktion rechts und links hervorragend. Meine Bauchschlagader in der Norm. Meine Harnblase genau richtig. Hämoglobin: 12.7; Leukozyten: 4.5; Hämatokrit: 41.6; Thrombozyten: 228; Cholesterin: 204; Kreatinin: 1.0; Bilirubin: 4.2; und so weiter. Mein IQ – wenn man an so etwas glaubt – ist 121, das reicht. Ich habe eine außergewöhnlich gut entwickelte räumliche Vorstellungskraft, die fast eidetisch ist, dafür ist mein laterales Denken schlecht ausgeprägt. Kein stabiles Persönlichkeitsprofil, wahrscheinlich wenig vertrauenswürdig. Alter: psychologisch. Geschlecht: grammatisch. Bücher kaufe ich lieber im Taschenbuch, um sie ohne Bedauern auf Bahnsteigen liegen zu lassen, für die Augen anderer. Ich sammle nichts.

Ich habe mein Studium abgeschlossen, aber im Grunde habe ich keinen Beruf erlernt, was ich sehr bedaure: Mein Großvater war Weber, er bleichte die gewebte Leinwand, indem...


Tokarczuk, Olga
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.



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