E-Book, Deutsch, Band 16, 412 Seiten
Reihe: Tolstoi-Friedensbibliothek B
Tolstoi / Bürger Pädagogische Schriften
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-6225-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gesamtausgabe: zwei Teile in einem Band - Übersetzungen von Otto Buek
E-Book, Deutsch, Band 16, 412 Seiten
Reihe: Tolstoi-Friedensbibliothek B
ISBN: 978-3-7583-6225-5
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Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die "Schule von Jasnaja Poljana" auf dem Landgut Leo N. Tolstois kann in keiner Darstellung zur Geschichte der Reformpädagogik übergangen werden. Die vorliegende Neuedition enthält u.a. alle Grundtexte zu dem berühmten Schulmodell 1859-1862. Vereinigt sind in einem Band beide Teile der erstmals 1907 erschienenen deutschen Gesamtausgabe von "Pädagogischen Schriften" des russischen Dichters (Redaktion: Raphael Löwenfeld, Übersetzungen: Otto Buek). Tolstoi, seit Jugendtagen ein Verehrer von Jean-Jacques Rousseau, lehnte Erziehung als Zwang und Indoktrination ab: "Die einzige Grundlage der Erziehung ist die Erfahrung und ihr einziges Kriterium ist die Freiheit." Misstrauen entmutigt uns Menschen und führt zur Starre. Kinder lernen rein gar nichts, wenn sie in regelrechten Verhören examiniert und mit Strafandrohungen eingeschüchtert werden. Begegnung - statt Reglementierung - und Methodenvielfalt - statt Dogmatismus - sollten in Jasnaja Poljana walten. "Nur die Freiheit seitens der Schüler, zu wählen, was und wie man lernen soll", kann "eine Grundlage für den Unterricht abgeben". "Der Lehrer strebt stets unwillkürlich danach, die Methode des Unterrichts zu wählen, die ihm am bequemsten" erscheint. Indessen ist "nur diejenige Unterrichtsart die richtige, mit der die Schüler zufrieden sind." Der Staatsmacht waren das Wunder eines freien Lehrens und Lernens in Jasnaja Poljana sowie die beteiligten Studenten suspekt. Sie ließ 1862 die Räume des Grafen polizeilich durchsuchen und verschaffte sich sogar Zugang zu den persönlichsten Aufzeichnungen. Der Unterricht musste eingestellt werden. Doch Tolstoi versuchte nur ein Jahrzehnt später einen Neuanfang, erarbeitete ein bahnbrechendes "ABC-Buch" und galt gegen Ende seines Lebens als Pionier einer Pädagogik, die der Herrschaft von Menschen über Menschen nicht dienlich ist. Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 16 (Signatur TFb_B016) Herausgegeben von Peter Bürger, Editionsmitarbeit: Ingrid von Heiseler
Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."
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VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS der Tolstoi-Friedensbibliothek „Die Schule erscheint dem Kinde mit Recht als ein Institut, wo ihm Dinge beigebracht werden, die niemand verstehen kann, wo man es gewöhnlich zwingt, … eine ihm fremde Sprache zu sprechen, wo der Lehrer in den Schülern meist seine geborenen Feinde sieht, die aus eigener Bosheit … nicht auswendig lernen wollen, was er selbst auswendig weiß …“ LEO N. TOLSTOI (?S. 29) Die „Schule von Jasnaja Poljana“ auf dem Landgut Leo N. Tolstois kann in keiner Darstellung zur Geschichte der Reformpädagogik übergangen werden. Die vorliegende Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek enthält u. a. alle ‚Grundtexte‘ zu dem berühmten Modellversuch 1859-1862. Vereinigt sind jetzt in einem Band beide Teile der erstmals 1907 erschienenen deutschen Gesamtausgabe von „Pädagogischen Schriften“ des russischen Dichters, die Raphael Löwenfeld herausgegeben hat (Primärbibliographie ?S. 399-400). Alle Übersetzungen stammen von Otto Buek. Wir legen den gemeinfreien Text der zweiten Auflage von 1911 zugrunde. Paul H. Dörr hat in seiner 1994 erschienenen Neubearbeitung (d. h.: der dritten Auflage) der Löwenfeld-Ausgabe auf eine Unstimmigkeit bei der Datierung des Berichtes zu Tolstois Reformschule (?S. 217-331) hingewiesen: Die einzelnen Bausteine dieses Berichtes sind in Tolstois eigener Zeitschrift schon im Januar, März und April 1862 veröffentlicht worden. Die Überschrift lautet jedoch: „Die Schule von Jasnaja Poljana im November und Dezember des Jahres 1862“. Richtig muss es wohl heißen: „… des Jahres 1861“. In Band TFb_A010 unserer Editionsreihe (?S. 409-411) sind außerdem noch zwei weitere ‚pädagogische Texte‘ Tolstois zugänglich: der ‚Aufsatz‘ „Über religiöse Erziehung“ (13.12.1899) und die kleine Sammlung „Über Bildung und Erziehung“ (dt. 1902), bestehend aus einem 1901 verfassten Brief an Pavel Birjukov sowie einer von Vladimir Certkov bearbeiteten Zusammenstellung von Auszügen aus den Briefen und Tagebüchern für die Jahre 1887-1901. Einen Überblick zu allen Editionen von pädagogischen Schriften Tolstois für eine deutschsprachige Leserschaft bietet der bibliographische Anhang des vorliegenden Bandes; hier haben wir Vollständigkeit angestrebt (?S. 400-402). Die Sekundärliteratur – unselbständige Veröffentlichungen oder Monographien über Tolstois pädagogische Ansätze und Schriften – wird nicht nach dem Alphabet, sondern chronologisch aufgeführt (?S. 402-407). Hier können sich alle, die es interessiert, eine erste Orientierung mit Blick auf die Geschichte der Rezeptionen bzw. Diskurse sowie entsprechender Forschungen im deutschsprachigen Raum verschaffen. Wer besonders Tolstois Bericht über die berühmte Schule von Jasnaja Poljana kennenlernen möchte, mag im Band gleich mit der Lektüre des zweiten Teils – ab Seite 217 – beginnen. Zu Tolstois eigenen Unterrichtserfahrungen in Kindertagen gehörten u.a. die Peitschendrohungen seines französischen Hauslehrers Prospère Saint-Thomas. Drei literarische Werke aus den 1850er Jahren (Kindheit – Knabenalter – Jünglingsjahre) erschließen auch autobiographische Hintergründe der Opposition gegen eine gewalttätige, strafende Pädagogik. Im Herbst 1849 initiierte der von eigenen Studien nach Jasnaja Poljana zurückgekehrte sehr junge Graf für kurze Zeit einen Dorfschulbetrieb für Bauernkinder. Die patriarchalische Sorge für Untergebene, an sich in jener Zeit kein ganz ungewöhnliches Phänomen, spiegelt sich literarisch in Tolstois Erzählung „Der Morgen eines Gutsbesitzers“ (entstanden 1852 bis 1856). Erst nach Kaukasusreise, Teilnahme am Krimkrieg und Ausscheiden aus dem Militärdienst unternimmt Leo N. Tolstoi 1858/59 seinen zweiten Versuch einer Schulgründung. Die Ernsthaftigkeit dieser Unternehmung wird unterstrichen zunächst durch entsprechende ‚Studienabsichten‘ während einer zweiten Reihe von Auslandsreisen (Deutschland, Frankreich, England) ab Juli 1860. In Russland ist die Dringlichkeit einer ‚Schulreform‘ vielen bewusst. Wo gibt es im Ausland Vorbilder, brauchbare Modelle? Tolstoi – damals noch Sympathisant der slawophilen ‚Volkstümlichkeit‘ und nur moderat antiklerikal – gehört keineswegs zu den nach Westeuropa blickenden ‚Fortschrittsgläubigen‘, was aber mitnichten aus Freiheitsfeindlichkeit resultiert. Die deutschen Verhältnisse in Kissingen stoßen ihn besonders ab: „War in einer Schule. Entsetzlich. Gebet für den König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder“ (Tagebuch, 17. Juli 1860). Der Graf gründet eine eigene pädagogische Zeitschrift mit dem Titel ‚Jasnaja Poljana‘, von der 1862 zwölf Ausgaben erscheinen können. (Bis auf den letzten Text stammen alle im vorliegenden Band versammelten Aufsätze aus dieser Zeitschrift.) Das Innenministerium ist alarmiert; im Erziehungsministerium liegt allerdings auch eine z. T. wohlwollende Stellungnahme vor. Leo N. Tolstoi, seit Jugendtagen ein Verehrer von Jean-Jacques Rousseau, lehnt ‚Erziehung‘ als Zwang und institutionalisierte Indoktrination ab. Er wendet sich gegen jenes vermeintliche „Recht, das einem Menschen oder einer kleinen Anzahl von solchen zugestanden wird, aus andern genau solche Menschen zu machen, wie sie wollen“ (?S. 122). Die Widerstände gegen seine Sichtweise bleiben zunächst noch unerklärlich: „Ich begriff nicht, daß ich mit meiner Frage: ‚Woher wißt ihr, was und wie ihr lehren sollt?‘ – einem Menschen glich, der etwa in einer Versammlung türkischer Paschas, die sich darüber beraten, wie man mehr Steuern aus dem Volke herauspressen könne, plötzlich folgende Frage an sie richtete: ‚Meine Herren, um zu wissen, wie hoch man jeden besteuern soll, muß man erst die Frage lösen: Worauf beruht unser Recht der Steuererhebung?‘ …“ (?S. 366-367). Der herrschenden Klasse steht es nicht zu, per Diktat von oben einen ‚Lehrplan‘ vorzugeben: Es „gehört in der Volksschule das Recht, zu bestimmen, was man lernen soll, von welcher Seite wir diese Frage auch betrachten mögen – dem Volke, d. h. entweder den Schülern selbst oder den Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken, und daher können wir nur vom Volke eine Antwort auf die Frage erhalten, was wir die Kinder in der Volksschule lehren sollen“ (?S. 368). „Ich bin überzeugt, daß sich die Schule nicht in die Erziehung einmischen darf, die nur Sache der Familie ist, daß die Schule nicht belohnen und bestrafen darf, weil sie kein Recht dazu hat, daß die beste Polizei und Verwaltung der Schule darin besteht, den Schülern volle Freiheit zu lassen, ob und wie sie lernen und miteinander verkehren wollen“ (?S. 226). Die überkommenen Beweggründe („Triebfedern“) des Lernens in Institutionen sind in Frage zu stellen: „Der … häufigste: das Kind lernt, um nicht bestraft zu werden; … um belohnt zu werden; … um besser zu sein als andere; … um eine vorteilhafte Stellung in der Welt einzunehmen. Diese Gründe, die von allen anerkannt werden, lassen sich unter drei Kategorien bringen: erstens, das Lernen auf Grundlage des Gehorsams; … der Eitelkeit und drittens, um der materiellen Vorteile willen und aus Ehrgeiz“ (?S. 183). Tolstois eigener Ansatz wider das Gefüge von Gehorsam und Kampf um Geltung ist libertär: „Wir wissen, daß unsere Grundüberzeugung darin besteht, daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“ (?S. 46). Misstrauen entmutigt uns Menschen. Direktive Schulkonzepte bewirken nicht Förderung, sondern Blockade: „Die Pädagogik befindet sich in der Lage einer Wissenschaft, die davon handelte, wie der Mensch gehen muß. Gäbe es eine solche Wissenschaft, so würden die Menschen Regeln suchen, wie man die Kinder belehren und ihnen vorschreiben solle, einen Muskel zu kontrahieren, einen anderen auszustrecken usw. usw.“ (?S. 353). Einem „Schüler ganz bewußt neue Begriffe und Wortformen zu geben, das ist meiner Ansicht nach ebenso unmöglich und überflüssig, wie ein Kind das Gehen nach Gesetzen des Gleichgewichts zu lehren“ (?S. 260). „Ich überzeugte mich, daß es geheime Tiefen der Seele gibt, die uns verschlossen sind und bis zu denen wohl das Leben, aber keine Moralpredigt und keine Strafen dringen“ (?S. 228). „Sowie ich dem Kinde die volle Freiheit gab und aufhörte, es zu belehren, schuf es ein poetisches Werk von solcher Schönheit wie es kein zweites in der russischen Literatur gibt. Und daher können wir meiner Überzeugung nach nicht schreiben und schriftstellern lehren, am wenigsten aber Unterricht in der Abfassung...




