E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Tremblay Das Haus am Ende der Welt
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-23975-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-23975-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Tremblay hat den Bram Stoker, Britisch Fantasy und Massachusetts Book Award gewonnen und ist Autor zahlreicher Romane, Essays und Kurzgeschichten, die in Los Angeles Times, Entertainment Weekly online und »Year’s Best«-Anthologien erschienen sind. Er hat einen Master-Abschluss in Mathematik, und lebt mit seiner Familie außerhalb von Boston.
Weitere Infos & Material
1
Das Mädchen mit den dunklen Haaren kommt die hölzerne Vordertreppe herunter und setzt sich in die vergilbte Lagune aus knöcheltiefem Gras. Eine warme Brise lässt Halme, Laub und die krabbenförmigen Blätter der Kleeblüten erzittern. Das Mädchen beobachtet die Wiese vor dem Haus und hält Ausschau nach den zuckenden mechanischen Bewegungen und hektischen Sprüngen der Grashüpfer. Das Einmachglas, das sie vor ihrer Brust umklammert hält, riecht ein bisschen nach Traubengelee und ist innen noch klebrig. Sie schraubt den belüfteten Deckel auf.
Wen hat Papa Andrew versprochen, die Grashüpfer wieder freizulassen, bevor sie in ihrem selbst gebauten Terrarium gekocht werden. Aber erst mal wird es den Grashüpfern gut gehen, denn sie achtet genau darauf, das Glas nicht direkt in die Sonne zu stellen. Allerdings macht Wen sich Sorgen, ihre Schützlinge könnten sich an den scharfen Kanten der Luftlöcher verletzen, die sie von außen in den Deckel gestochen hat. Also wird sie zunächst kleinere Grashüpfer fangen, die weder so hoch noch so stark springen können und außerdem mehr Beinfreiheit im Glas hätten. Sie wird mit sanfter, beruhigender Stimme auf die Grashüpfer einreden und dadurch hoffentlich verhindern, dass sie in Panik geraten und sich gegen die gefährlichen Metallstalaktiten werfen. Wen ist zufrieden mit ihrem aktualisierten Plan und rupft eine Handvoll Gras mitsamt Wurzeln aus. Zurück bleibt eine kleine Narbe im Vorgarten, diesem Meer aus Grün und Gelb. Vorsichtig bugsiert sie das Gras ins Einmachglas, richtet es ordentlich her und wischt sich die Finger an ihrem grauen Wonder-Woman-T-Shirt ab.
In sechs Tagen ist Wens achter Geburtstag. Ihre Väter fragen sich (nicht wirklich heimlich, denn sie hat die beiden darüber reden gehört), ob es tatsächlich der Tag ihrer Geburt ist oder bloß der Stichtag, den das Waisenhaus im chinesischen Hubei festgelegt hat. Für ihr Alter liegt sie auf der 56. Perzentile für die Körpergröße und der 42. für das Körpergewicht, zumindest ist das der Stand von vor sechs Monaten, als sie zuletzt beim Kinderarzt war. Da hatte sie Dr. Meyer aufgefordert, ihr die Bedeutung dieser Zahlen genau zu erklären. So froh sie war, über der Fünfziger-Linie für die Größe zu liegen, hat es sie doch geärgert, beim Gewicht darunter zu liegen. Wen ist nicht nur sehr direkt und resolut, sondern auch athletisch und drahtig. Oft schlägt sie ihre Väter bei Rätseln oder den aufwendig inszenierten Wrestlingpartien auf deren Doppelbett. Sie hat große dunkelbraune Augen und buschige Augenbrauen, die fast wie von selbst herumwackeln. Am rechten Rand ihres Oberlippengrübchens ist ganz schwach eine Narbe auszumachen, aber nur bei besonderen Lichtverhältnissen und wenn man weiß, wonach man sucht (hat man ihr zumindest gesagt). Die dünne weiße Linie ist das letzte Anzeichen der Hasenscharte, die man ihr im Alter zwischen zwei und vier Jahren in mehreren Operationen korrigiert hat. Sie erinnert sich an den ersten und an den letzten Besuch im Krankenhaus, aber nicht an die Male dazwischen. Es stört sie, dass diese Krankenhausaufenthalte und Prozeduren irgendwo in ihrem Kopf verloren gegangen sind. Wen ist freundlich, aufgeschlossen und so albern wie jedes andere Kind in ihrem Alter, schenkt ihr rekonstruiertes Lächeln aber nicht jedem. Man muss es sich schon verdienen.
Es ist ein wolkenloser Sommertag im Norden von New Hampshire, kaum eine Handvoll Meilen von der kanadischen Grenze entfernt. Das Sonnenlicht schimmert zwischen den Blättern der Bäume hindurch, die großmütig auf das kleine Ferienhaus herabschauen, den einsamen roten Fleck am Südufer des Gaudet-Sees. Wen stellt ihr Einmachglas im Schatten neben der Vordertreppe ab. Mit ausgebreiteten Armen watet sie ins Grasmeer hinaus, als müsse sie sich über Wasser halten. Immer wieder wischt sie mit dem rechten Fuß in weitem Bogen durch die Spitzen der Halme, wie Papa Andrew es ihr gezeigt hat. Er ist auf einem Bauernhof in Vermont aufgewachsen und dementsprechend ein echter Experte im Grashüpferfinden. Er hat gesagt, dass ihr Fuß wie eine Sense funktionieren soll, ohne dabei wirklich die Wiese zu mähen. Da Wen nicht wusste, was das bedeutet, hat er ihr ausführlich erklärt, was das für ein Werkzeug ist und wie man es benutzt. Er hat sein Smartphone gezückt und wollte Bilder von Sensen suchen, bis beiden einfiel, dass man hier draußen in der Hütte keinen Empfang hat. Also hat Papa Andrew ihr stattdessen eine Sense auf eine Serviette gemalt; ein Messer wie eine Mondsichel an einem langen Stock, wie es vielleicht ein Krieger oder Ork aus den -Filmen tragen würde. Das Ding sah sehr gefährlich aus, und Wen konnte nicht recht begreifen, warum Leute so ein furchtbar riesiges Werkzeug brauchen, um Gras zu schneiden. Trotzdem fand sie die Idee großartig, sich vorzustellen, dass ihr Bein der Schaft und ihr Fuß das lange gebogene Messer ist.
Ein brauner Grashüpfer, der beinahe so groß ist wie ihre Hand, flieht mit laut schabenden Flügeln vor ihrem Fuß und prallt von ihrer Brust ab. Wen stolpert ein wenig und stellt sich vor, von dem Zusammenstoß fast zu Boden zu gehen.
Sie kichert und sagt: »Okay, du bist zu groß.«
Mit ihrem Sensenfuß setzt sie die forschenden Schwünge fort. Ein viel kleinerer Grashüpfer springt so hoch, dass sie ihn irgendwo am Zenit seiner elliptischen Bahn gen Himmel aus den Augen verliert, aber dann sieht sie ihn keine zwei Meter neben sich landen. Er ist leuchtend grün wie ein Tennisball und hat genau das richtige Format, kaum größer als die Samenbüschel am Kopfende der langen Grashalme. Wenn sie ihn nur erwischen kann. Seine Bewegungen sind hastig und schwer vorauszuahnen, immer wieder springt er davon, als die zitternde Falle ihrer Hände gerade zuschnappen will. Sie lacht und folgt ihm auf seinem fieberhaften Zickzackkurs durch den Vorgarten. Sie ruft ihm zu, dass sie ihm nichts Böses will, dass sie ihn bald wieder freilassen wird und nur mehr über ihn erfahren möchte, damit sie all den anderen Grashüpfern dabei helfen kann, auch so gesund und fröhlich zu sein.
Endlich bekommt Wen den Miniaturakrobaten an der Grenze zwischen Wiese und Kiesweg zu fassen. Dieser Grashüpfer in der sanften Höhle ihrer Hände ist der erste, den sie je gefangen hat. Flüsternd triumphiert sie: »Ja!« Der Grashüpfer ist so leicht, dass sie ihn nur spürt, wenn er versucht, zwischen ihren geschlossenen Fingern hindurchzuspringen. Die Versuchung, ihre Hände einen Spaltbreit zu öffnen, um hineinzuspähen, ist überwältigend, aber Wen widersteht ihr tapfer. Sie rennt quer über die Wiese, setzt den Hüpfer ins Einmachglas und schraubt schnell den Deckel zu. Er springt wie ein Elektron umher, klopft hell gegen Glaswand und Blechdeckel, hält dann aber unvermittelt inne, lässt sich auf der grünen Innenausstattung nieder und ruht sich aus.
Wen betrachtet ihn. »Alles klar. Du bist Nummer eins.« Sie zieht ein handflächengroßes Notizbuch aus ihrer Gesäßtasche, dessen Vorderseite bereits sorgfältig in leicht verwackelte Zeilen und Spalten mit den entsprechenden Überschriften eingeteilt ist. Dann notiert sie die Nummer eins, einen Schätzwert der Größe (den sie nicht ganz zutreffend mit »5 cm« angibt), die Farbe (»grün«), Junge oder Mädchen (»Mädchen, Caroline«) und das Niveau des Tatendrangs (»sehr hoch«). Sie stellt das Glas wieder an seinen schattigen Platz und spaziert zurück auf die Wiese. Schnell hat sie vier weitere Grashüpfer von ähnlicher Größe gefangen: zwei braune, einen grünen und einen, der irgendwo dazwischenliegt. Alle werden nach Freundinnen aus der Schule benannt – Liv, Orvin, Sara und Gita.
Als sie sich gerade auf die Pirsch nach dem sechsten Hüpfer begeben will, hört sie, dass jemand den unendlich langen Waldweg entlangjoggt. Die unbefestigte Straße schlängelt sich an ihrem Ferienhaus vorbei und verläuft ein Stück am Ufer des Sees, bevor sie zwischen den Bäumen verschwindet. Als sie vor zwei Tagen angekommen sind, haben sie genau einundzwanzig Minuten und neunundvierzig Sekunden gebraucht, um auf dieser Straße die Hütte zu erreichen. Wen hat es gemessen. Zugegeben, Papa Eric ist natürlich wie immer viel zu langsam gefahren.
Das Geräusch der stampfenden Füße auf Erde und Schotter ist jetzt lauter. Irgendetwas Großes stapft da die Straße entlang. Etwas richtig Großes. Vielleicht ein Bär. Sie musste Papa Eric versprechen, sofort zu rufen und ins Haus zu laufen, wenn sie ein Tier sieht, das größer ist als ein Eichhörnchen. Soll sie jetzt aufgeregt sein oder Angst haben? Die Bäume drängeln sich so dicht aneinander, dass sie noch nichts erkennen kann. Wen steht fluchtbereit mitten auf der Wiese. Ist sie schnell genug, rechtzeitig die Tür zu erreichen, falls es wirklich ein gefährliches Tier sein sollte? Sie hofft, dass es ein Bär ist. Sie will unbedingt einen sehen. Falls nötig, kann sie sich einfach totstellen. Der Vielleicht-Bär hat den von Baumstämmen verborgenen Anfang der Auffahrt erreicht. Wens Neugier schlägt in Verärgerung um, sich mit wem oder was auch immer befassen zu müssen, das da kommt, denn schließlich steckt sie mitten in einem wichtigen Projekt.
Ein Mann biegt um die Ecke und marschiert so forsch die Auffahrt herauf, als käme er nach Hause. Wen ist nicht sonderlich gut darin, die Größe von Erwachsenen einzuschätzen, denn sie leben alle weit über ihr in den Wolken, aber dieser Mann ist auf jeden Fall größer als ihre Väter. Er mag sogar der größte Mann sein, den sie je gesehen hat, außerdem ist er so breit wie zwei Baumstämme, die man aneinandergeschoben hat.
Der Mann winkt mit einer Hand, die genauso gut eine Bärentatze sein könnte, und lächelt Wen an. Durch die Erfahrungen ihrer vielen Lippenrekonstruktionen hat Wen sich lange darauf verlegt,...