E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Tschajkowska All die Frauen, die das hier überleben
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7099-8403-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-7099-8403-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Natalja Tschajkowska ist eine ukrainische Autorin. Sie hat mehrere Kurzgeschichten und Romane verfasst; 2020 gewann sie mit ihren Texten den Literaturwettbewerb 'Crown of the Word'. Neben dem Schreiben arbeitet sie in der Kommunikationsbranche und spricht auf Social Media über Bücher und Motivation. Mit 'All die Frauen, die das hier überleben' erscheint das erste Mal eines ihrer Werke auf Deutsch.
Autoren/Hrsg.
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September
Montag
Draußen ist es düster, am Himmel sind schwere Wolken aufgezogen. Ich glaube, es wird regnen.
Maksym macht sich für die Arbeit fertig, ich dagegen hülle mich in seinen blauen Frotteebademantel und schaue meinem Mann zu. Er holt ein weißes Hemd aus dem Schrank, wählt eine passende Krawatte und zieht seine Hose an.
„Ich wollte heute meine Sachen herholen. Könntest du mir dabei helfen?“, frage ich.
„Eher nicht. Ich habe heute viel zu tun. Du musst ohne mich auskommen“, sagt er und steckt sein Hemd in die Hose.
„Gut. Ich kriege das schon irgendwie hin“, sage ich und denke über verschiedene Varianten nach, mit denen ich die Situation lösen könnte. Es ist eigentlich nur eine Tasche, doch die ist schwer. Aber das ist nichts verglichen mit der Reaktion von Bohdana, wenn sie sieht, dass ich die Sachen alleine schleppe. Um nicht ihren Ärger abzubekommen, sollte ich es also vor dem Mittagessen machen, während sie noch bei der Arbeit ist.
„Sag bloß, du hast viel Gepäck“, sagt Maksym, während er sein Spiegelbild genaustens inspiziert. Manchmal glaube ich wirklich, er liest meine Gedanken.
„Nein, nicht viel.“
„Du siehst ja selbst, dass die Wohnung klein ist. Wenn wir sie vollstopfen, können wir uns nicht mehr rühren.“
Mir bleibt nichts anderes, als zuzustimmen, also stoße ich ein „Ja“ hervor und sehe mich um.
Die Wohnung gehört Maksyms Onkel, der seinem Neffen netterweise diese paar Quadratmeter vermietet. Was würde mein Vater sagen, wenn er die derart winzigen Kämmerchen sähe?
Es ist wirklich nicht viel Platz, aber mir gefällt es hier. Überall herrscht Ordnung: Auf dem Regal stehen in gerader Linie Duftwässer und Cremes, die vor und nach der Rasur aufgetragen werden. Im Kleiderschrank ist alles fein säuberlich gefaltet, auch die Küche beeindruckt mit auf Hochglanz polierten Töpfen.
„Warum hast du dir heute nicht freigenommen?“, frage ich.
„Wozu?“, wundert sich Maksym.
„Na ja, wir könnten zusammen sein. Der erste Tag unseres Ehelebens …“
„Werden wir noch lange genug“, antwortet er und konzentriert sich auf die Krawatte. „Gefällt es dir hier?“
„Ja, es gefällt mir“, sage ich mit einem aufrichtigen Lächeln, „eine Junggesellenhöhle, weder Topfpflanzen noch Bilder oder Blumensträuße in Vasen“, sage ich und schaue mich dabei noch einmal um. Aber als ich meinen Blick zu Maksym lenke, sehe ich bewölkte graue Augen. Ich hätte erwartet, dass er über meinen Witz lacht. Aber …
„Eine Höhle ist ein Ort, an dem Tiere leben“, sagt er mit stählerner Stimme, kaltem Blick. Die Augen scheinen ihre Farbe zu ändern und auf dem Gesicht erscheint ein zorniger Ausdruck.
Ich erstarre für einen Augenblick. Haben ihn meine Worte verletzt?
„Entschuldige“, flüstere ich mit blutleeren Lippen, „entschuldige, so habe ich das nicht gemeint.“
Der Zorn weicht langsam aus seinem Gesicht.
„Entschuldige“, wiederhole ich ein ums andere Mal. Maksym zieht Lederschuhe an, holt ein Jackett aus dem Schrank und bleibt an der Tür stehen.
„Bist du wütend?“, frage ich den Tränen nah.
„Nicht mehr“, sagt er, küsst mich auf die Wange und geht. Doch ich sehe, dass er sauer ist und mir keineswegs verziehen hat.
Eine bedrückende Stille senkt sich auf mich, und Tränen steigen in mir auf, an denen ich zu ersticken glaube.
Ich habe mit meinem unpassenden Witz alles vermasselt. Warum musste ich das sagen? Warum war ich nicht einfach still?
***
Jaroslawa sitzt mir im Café gegenüber und nippt an ihrem Tee. Unser Tischchen steht am Fenster, von wo aus der Flickenteppich der Stadt zu sehen ist. Neunstöckige Gebäude strecken sich in die Höhe, Schaufenster glitzern, Passanten schreiten eilig über die rechteckigen Pflastersteine. Ich glaube, sie bemerken dabei nicht, dass das Pflaster in Form eines Stickmusters verlegt wurde. Die Menschen haben es sich angewöhnt, zu eilen, zu rennen, sich nicht umzusehen, die Welt rundherum nicht wahrzunehmen.
Eine große, schlanke Frau zieht einen kleinen Jungen an der Hand, der sich weigert weiterzulaufen, ein schlaksiger, glatzköpfiger Mann wedelt mit seiner Aktentasche, als hätte er gerade einen lang ersehnten Job ergattert, und eine alte Großmutter tritt vor der Apothekentür von einem Fuß auf den anderen. Das Leben läuft unablässig weiter.
Ich aber freue mich über die Gelegenheit, durchzuatmen und Jaroslawas Gesellschaft zu genießen. Wir haben uns seit fast drei Monaten nicht gesehen, was für alte Freundinnen eine ziemlich lange Zeit ist. Daher haben sich viele Gesprächsthemen angesammelt.
Sie hat mich gegen drei Uhr nachmittags angerufen und vorgeschlagen, Tee zu trinken. Ich habe gerade meine Sachen ausgepackt, mein beliebtes Pilaw gekocht und die Wohnung auf der Suche nach einer Beschäftigung durchwandert.
Jaroslawa hat sich verändert: eine neue Frisur, manikürte Nägel, die Augen geschminkt und ein Kleid mit tiefem Ausschnitt.
„Kyjiw hat dich verändert“, ziehe ich meine Freundin auf.
„Kyjiw hat damit nichts zu tun“, lacht Jaroslawa und strahlt mich mit einem blendend weißen Lächeln an.
„Was ist dann das Geheimnis?“
„Ich habe mich verliebt“, sagt sie, als rezitiere sie ein Gedicht.
„Schon wieder?“ Ich kann es mir nicht verkneifen, das zu fragen, denn ich kenne ihre Schwäche. Die Männer in Jarosla was Leben wechseln so oft, dass ich mich, wenn wir uns auch nur eine Woche nicht sehen, in ihrem Liebeschaos nicht mehr zurechtfinde.
„Diesmal stimmt alles“, ruft sie und beginnt detailliert zu beschreiben, wie sie Ihor getroffen hat, das erste Date, seine Geschenke und wie er um Hand und Herz angehalten hat.
„Er hat dir also einen Antrag gemacht?“, frage ich, aufrichtig verwundert.
„Hat er, und ich habe Ja gesagt.“
„Das ist neu. Das kommt unerwartet“, sage ich offen.
„Mach dich ruhig lustig. Die Hochzeit findet im November statt, wir haben schon das Restaurant gebucht. Und du wirst meine Trauzeugin sein.“
Sie schwärmt weiter, ich aber verstumme. „Du wirst meine Trauzeugin sein“ – die Worte wirbeln in meinem Kopf umher. Ich schäme mich vor meiner Freundin. Sie hat eine solche Missachtung von meiner Seite nicht verdient.
„Jaroslawa“, unterbreche ich sie, „ich habe es noch nicht geschafft, dir zu sagen … Es ist so …“ Wie schwer es ist, die richtigen Worte zu finden, um nicht als noch größeres Scheusal zu erscheinen.
„Was ist passiert?“, fragt sie besorgt. „Ist etwas mit deinem Vater? Mit Andrij? Sag schon.“
„Ich habe geheiratet.“ Eigentlich verkünde ich eine freudige Nachricht, aber ich fühle mich wie Judas: Ich küsse und begehe gleichzeitig Verrat. Im Mund Bitterkeit, es schmeckt nach Verlogenheit.
„Oh“, ruft Jaroslawa und beugt sich über ihr Schokogebäck. Nimmt die Serviette in die Hand und faltet sie zu einem Fächer, zerknüllt sie dann und legt sie vor sich auf den Teller. „Wann ist das denn passiert?“
„Gestern.“ Meine Worte sind mir selbst zuwider.
Wir sind seit unserer Kindheit miteinander befreundet. Soweit ich zurückdenken kann, war Jaroslawa immer da. Unsere Eltern wohnen in der Nachbarschaft, zwischen ihren Häusern liegen nicht mehr als zweihundert Meter. Unsere Freundschaft ähnelt ein wenig meiner Freundschaft mit Bohdana, dauert aber schon länger, ist seit Jahren erprobt, tiefer und sorgloser. Wir haben Spielsachen, Äpfel und Kekse geteilt … Uns von den ersten Küssen erzählt, über Jungs diskutiert, die wir mochten, uns gegenseitig Tränen wegen einer unglücklichen Liebe abgewischt … Lange Telefongespräche, Unterstützung in schweren Momenten und die zuverlässige Schulter der Freundin … Mamas Krankheit, meine Trauer und die Auseinandersetzungen mit meinem Vater … Und sie, meine Jaroslawa, war immer für mich da. Immer.
Und jetzt das: Ich heirate, ohne ihr irgendetwas davon zu sagen. Ich bin ein schlechter Mensch. Wieder denke ich, dass es falsch war, Maksym nachzugeben und nur im engsten Kreis zu feiern.
„Du warst lange weg“, beginne ich, mich zu rechtfertigen.
„Natürlich. Drei Monate. Aber wir haben doch oft telefoniert.“ Diese Zurechtweisung habe ich verdient. Ich nehme den Schlag hin.
„Es tut mir leid“, beginne ich wieder, „wir kennen uns noch gar nicht so lange.“
„Bist du schwanger, Marta?“ Jaroslawa geht mögliche Szenarien durch.
„Nein. Bloß Maksym, mein Mann … Na ja, alles ging so schnell. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht,...




