E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Tschan Eine Reise später
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99200-142-2
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-99200-142-2
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fußball-Nationalmannschaft. Zuletzt erschienen: Polarrot (Braumüller 2012).
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DURCHSAGE
„Basel, ihre nächsten Verbindungen: ICE nach Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt, Hannover, Hamburg, Abfahrt 15 Uhr 06, Gleis 10; IC nach Olten, Bern, Spiez, Interlaken Ost, Abfahrt 14 Uhr 59, Gleis 6; EC nach Milano Centrale …“ Dass dies Astrids Stimme sein könnte, nahm Schmied erst im Nachklang wahr.
Zwei Tage später war er wieder mit dem Zug unterwegs. Dass ihn Astrids Stimme im Zugabteil begrüßte und ihm eine schöne Fahrt wünschte, bemerkte er nicht. Auch nicht auf der Rückreise. Aber in dem Augenblick, als er seinen Fuß auf eine der längs gerippten Eisenplatten der Rolltreppe setzte, die ihn vom Bahnsteig hoch zur Passerelle brachte, setzte sich Astrids Stimme in seinem Ohr fest. Das Echo ihrer Zugansagen pflanzte sich in seinem Kopf fort, verklang langsam – und verlangte unverhofft und dringlich nach Auffrischung. Schmied drehte am Ende der Rolltreppe gleich wieder um, fuhr mit der gegenüberliegenden nach unten zu den Geleisen, setzte sich auf eine Bank und wartete auf die nächste Durchsage: „Gleis 7, Achtung, Zug fährt ein, bitte zurücktreten.“
Typisch Astrid. Eine perfekte Ansage. Sie ließ keinen Zweifel aufkommen, dass die angesagten Züge alle ihre Zwischen- und Endstationen auf die Minute genau erreichen würden. Sie nahm einen an der Hand und man würde ihr vertrauensvoll nach Hamburg, Neapel oder sogar Wladiwostok folgen. Astrids Stimme vermittelte jene Sicherheit, die alle Unwägbarkeiten einer Reise beiseiteschob, egal ob an deren Ende bereitstehendes Glück wartete oder sich mitgeschleppte Abgründe auftun würden. Darüber gab sie zwar keine Auskunft, das fiel nicht in ihren Zuständigkeitsbereich, aber es gab keine andere als Astrids Stimme, die derart bestimmt die Gewissheit schürte, alles würde gut werden, bestiege man nur den Zug.
Einer Aufforderung, der Schmied nachkam, neugierig, ob Astrid ihn auch beim Antritt der Reise begrüßen und auf der Fahrt begleiten würde. „Das Zug-Team der SBB heißt Sie im Intercity nach Zürich willkommen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.“
Schmied setzte sich in einen Sessel. Noch bevor der Zug die letzten Weichen hinter sich gelassen und endgültig die Geleise nach Zürich gefunden hatte, erklang ihre Stimme erneut: „Möchten Sie eine Erfrischung oder einen kleinen Snack? In der Mitte der Zugkomposition erwartet Sie das Rail-Bistro mit ausgesuchten Köstlichkeiten.“
Schmied tat, was Astrid empfahl: Er ging ins Bistro, bestellte sich einen Kaffee an der Theke, nahm eine dieser in Plastik verpackten Köstlichkeiten, ein staubtrockenes Linzertörtchen, stellte sich an einen der Bistrostehtische, spülte mit der dünnen Brühe die verpappte, am Gaumen festklebende Mehlmarmeladenmasse hinunter und wartete sehnsüchtig auf Astrids Stimme. Oder darauf, sie leibhaftig anzutreffen.
„Ihre Fahrkarte, bitte.“ Schmied erschrak. Er erschrak noch mehr, als ihm die energisch freundliche Schaffnerin den exorbitant hohen Zuschlag für einen im Zug gekauften Fahrschein erläuterte.
Schmied zahlte anstandslos.
„Eine Frage: Spricht diese Frau schon lange in den Zügen?“, fragte Schmied die Schaffnerin.
„Welche Frau?“
„Die aus dem Lautsprecher. Hier, im Zug, am Bahnhof. Die Durchsagefrau.“
„Ah, die. Keine Ahnung. Ich höre das gar nicht. Ich muss mich auf meine eigenen Durchsagen konzentrieren. Vergessen Sie das nächste Mal nicht, einen Fahrschein am Bahnhof zu lösen. Oder online, das geht auch. Kommt um einiges günstiger.“
Schmied wandte sich an den Tamilen hinter der Theke: „Entschuldigung, ist diese Stimme, welche die Durchsagen macht, schon alt, oder besser, schon lange hier?“
„Frau aus Lautsprecher? Die alle zu mir schickt?“
„Ja, genau.“
„Weiß nicht. Hat mal gewechselt, glaube ich. Alte war mehr sexy.“
„Aber die ist doch auch sexy.“
„Hat wenig Boden. Zu nichts.“
„Zu nichts?“
„Ja, zu nichts. Keine Charakter, kein Whisky, keine Zigaretten. Wie Alupapier von weißer Schokolade.“
„Haben Sie eine Ahnung. Sie hat immer gut getrunken und gut geraucht.“
„Ah, Sie kennen Frau?“
„Ja.“
„Und, gute Frau?“ Der Tamile lächelte verschmitzt.
„Weiß nicht.“
„Was, weiß nicht. Nicht in Bett mit ihr?“
„Eh …“
„Also gut oder schlecht?“, löcherte der Mann hinter der Theke Schmied mit neugierigen Augen weiter.
„Also hören Sie mal, das geht Sie gar nichts an.“
„Sie haben gefragt nach Lautsprecherfrau.“
„Ja, schon, aber trotzdem …“
„Noch Kaffee, Espresso, Bier, Mineral?“
Schmied schüttelte den Kopf und machte sich in den nächsten Waggon auf, setzte sich an einen freien Platz und starrte aus dem Fenster.
Astrid, wie lange hatte er sie schon nicht mehr gesehen? Zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre? Zwanzig, wahrscheinlich. Zum letzten Mal an Max’ Beerdigung. Und wie lange war es her, seit ihre Liebe geendet hatte, damals, ein paar Tage nach ihrer Frankreichreise, bei einer WG-Party, auf den knarrenden Stufen eines Treppenhauses mit staubigen Gummibäumen? Dreißig Jahre?
Es war ein heißer Tag. Die von der Augusthitze ausgetrocknete Landschaft flog am Zugfenster vorbei. Überall hielten Sonnenblenden die Wärme von den Wohnungen fern. Menschen schlichen von Schatten zu Schatten, Kinder badeten im Fluss und Bauarbeiter mit glänzenden, nackten Oberkörpern flickten dampfende Straßen.
Astrid, die Stimme der Bahn. Wie kam das? Was hatte sie all die Jahre gemacht, dass sie unter wahrscheinlich Tausenden Bewerberinnen und Bewerbern ausgesucht worden war, Millionen von Reisende sicher an ihre Bestimmungsorte zu begleiten, sie vor einfahrenden Zügen zu schützen und ihnen mit zuckersüßen Worten den Ärger über Verspätungen und Zugausfälle zu nehmen? Im Fernsehen hatte er sie nie gehört, im Radio auch nicht. War sie Schauspielerin geworden? Hatte sie tatsächlich ihren Traum verwirklicht, von dem er immer abgeraten hatte, da er sie für zu untalentiert gehalten hatte? Vielleicht war sie in Deutschland oder Österreich auf der Bühne gestanden? Wäre sie im städtischen Theater aufgetreten, hätte er dies mitbekommen. Oder sie hatte bei einer freien Truppe gespielt. Das wäre nicht bis zu ihm gelangt.
Er war überrascht, wie präsent er die Geschichte mit ihr wieder vor sich hatte. Wie er sie kennen- und lieben gelernt hatte, die Trennungen und Versöhnungen im Jahresrhythmus, die langen Gespräche, die Innigkeit und Wärme, die wüsten Streitereien und seine Eifersuchtsdramen. Er hatte gedacht, es sei alles irgendwo in seiner Seele ausbruchsicher verwahrt, abgelegt für immer, ausgeheilte Wunden, schmerzfreie Narben, die kaum mehr zu sehen waren, die weißen Tücher der Zeit über alles gelegt. Aber jetzt, mit dieser Durchsage im Zug, kamen all die Bilder und Geschmäcker wieder hoch, zogen wie die Landschaft draußen, manchmal klar, manchmal, der Geschwindigkeit Tribut zollend, verschwommen an seinem inneren Auge vorbei.
Astrid meldete sich wieder. Der Zug erreiche in wenigen Minuten Zürich und fahre dann weiter bis nach Sargans und Chur. Er stieg aus, kaufte eine Fahrkarte, ließ sich von Astrid zum nächsten Zug auf Gleis 14 führen, stieg ein, kaufte im Bistrowagen ein kühles Bier, suchte sich einen Platz und hing weiter seinen Gedanken nach.
Er würde sie gerne wiedersehen, ja er würde sie sogar gerne wieder lieben. Trotz allem, was sie ihm angetan hatte, trotz allem, was er ihr angetan hatte. Er war sich sicher, sie würden nun, dreißig Jahre später, anders miteinander umgehen. Jetzt ginge es schließlich um anderes, das Kräftemessen wäre vorbei, die Felder der Schmerzen würden gemieden werden, die Toleranzschwellen wären geweitet, Testosteron- und Östrogenausschüttungen hätten nicht mehr den gleichen Einfluss auf das Getriebe der Zweisamkeit. Man würde wohl entspannt miteinander umgehen, rücksichtsvoll, die Minenfelder des anderen aus Erfahrung meiden, um die wiedergewonnene Vertrautheit nicht zu gefährden.
Zumindest stellte es sich Schmied so vor, als der Zug, der ihn nach Hause brachte, sich in Bewegung setzte.
Er könnte sie anrufen, sagen, dass er sie am Bahnhof gehört hatte und darob dermaßen überrascht gewesen war, dass er in den falschen Zug eingestiegen war. Er würde sie nach ihrem jetzigen Leben fragen und ein wenig aus dem seinen erzählen. Vielleicht hatte sie gerade keinen Partner, war solo, wie er, der sich vor sechs Monaten endlich von Monika getrennt...




