E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Tügel Wege zur Weisheit
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-400782-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Traum vom richtigen Leben
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-10-400782-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hanne Tügel ist 1953 geboren. Nach einer Ausbildung zur Verlagskauffrau und einem Pädagogikstudium hat sie die Hamburger Journalistenschule absolviert und arbeitet seit 25 Jahren als Journalistin mit einer Vorliebe für Themen am Schnittpunkt von Wissenschaft und Gesellschaft. Seit 1995 ist sie Redakteurin bei GEO. Dort war sie verantwortlich für Titelgeschichten wie »Kreativität« und »Meditation« und die außerordentlich erfolgreiche Serie »Weisheit«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das Ideal
1 Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht. Die Weisheit als Paradox – einfach und geheimnisvoll; leicht zu erkennen, schwer zu erringen
Der Weise auf dem Wasserbüffel und der Passwächter: 5000 Zeichen mit Langzeitwirkung
Man weiß nicht so genau, wann er gelebt hat. Manche sind sich sogar nicht völlig sicher, ob er überhaupt existiert hat. Sicher aber gibt es das ein Werk, bestehend aus 5000 Schriftzeichen, entstanden um das 5. Jahrhundert vor Christus, das ihm zugeschrieben wird. Die Legende über seinen (wahrscheinlichen) Verfasser ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Und weil eine Prise Mystik die Begebenheit adelt, eignet sie sich ideal als Einstieg in das große Thema Weisheit.
Der Held ist ein älterer Gelehrter. Angesprochen wird er als Laozi, Alter Meister. Er hat als Archivar in der Bibliothek des Königs von Chou im Norden Chinas gearbeitet. Nun verlässt er seine Heimat, weil er den Verfall des Reichs vorausahnt und zieht hinter die Berge. Auf chinesischen Tuschezeichnungen ist ein Wasserbüffel sein Begleiter und Gepäckträger, ein kräftiges, aber auch sanftes, gemächliches und gemütliches Tier. Die beiden pilgern nach Westen. Als sie auf dem Weg einen Passwächter treffen, verwickelt der den alten Archivar in ein Gespräch über seine Einsichten. Auf Drängen des Wissbegierigen schreibt Laozi ihm auf, was er wesentlich findet, bevor er endgültig ins Gebirge entschwindet. So entsteht das , das angeblich nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
Die Szene strahlt Einfachheit, Freundlichkeit, Ruhe aus. Im Alter die Heimat zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen, weil es angemessen erscheint – so handelt einer, der Mut besitzt und Seelenfrieden gefunden hat. Arroganz ist ihm fremd, er ziert sich nicht, als er um Rat gefragt wird. Aber er missioniert auch nicht. Er ist bescheiden und hätte seine Weisheit für sich behalten, hätte es nicht jemand gegeben, der begierig war, sie zu hören. Bertolt Brecht hat der Begegnung ein Denkmal gesetzt und dieses Detail in seiner Ballade betont: »Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/dessen Name auf dem Buche prangt!/Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./Darum sei der Zöllner auch bedankt:/Er hat sie ihm abverlangt.« Das wird nicht immer mitbedacht, wenn es um Weisheit geht. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss sie ein offenes Ohr finden.
Worin besteht die Weisheit des ? Die 81 Kapitel der Textsammlung sind selbst für diejenigen, die das Original lesen können, alles andere als leicht verständlich. Nicht minder dunkel sind die Übertragungen. Die Hauptrolle in Laozis Buch spielt das »unnennbare« Dao. In den verschiedenen deutschen Übersetzungen wird es umschrieben als »Rechter Weg«, als »Sinn«, als »Urquell des Seins« oder als das »große Eine, in dem die Gegensätze aufgehoben sind«.
Im Groben ist das Werk eine einzige Warnung, dass die tiefgründigen Wahrheiten jenseits des Vermittelbaren liegen. Dass deshalb diejenigen schweigen, die um sie wissen: »Wer weiß, redet nicht/wer redet, weiß nicht.« Es geht hier, soviel ist schnell klar, nicht um Allerweltskenntnisse, es geht um das Wesentliche. Und natürlich lassen sich die Wissenden manchmal doch zum Reden verführen, sonst gäbe es auch das Daodejing nicht. Ihr Kunstgriff besteht darin, Einsichten in Metaphern zu kleiden. Konkret genug, um eine Ahnung zu geben von den Schätzen, die zu heben sind. Um bei Zuhörern und Lesern die Sehnsucht zu wecken, sich auf den Weg zu begeben und irgendwann selbst zu den Eingeweihten zu zählen, zu den Wissenden, die in sich ruhen – selbst dann, wenn um sie herum das Chaos tobt.
Ein Kapitel spricht von denen, die das geschafft haben, von den »alten Weisen«, die im Dao bewandert sind. In einer modernen Nachdichtung des Salzburgers Bodo Kirchner lautet die Stelle: »Ihre Haltung war/behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter/vorsichtig, wie bei drohender Gefahr/zurückhaltend, wie willkommene Gäste/nachgebend, wie schmelzendes Eis/einfach, wie rohes Holz/offen, wie ein weites Tal/anspruchslos, wie trübes Wasser.«[1]
Wie bitte? Ein Weiser soll trübem Wasser ähneln? Das erscheint als bizarrer Vergleich. Laozis Erklärung beinhaltet eines der Paradoxa, die das Daodejing berühmt gemacht haben: »Wer wie trübes Wasser sein kann/kann in Stille zur Klarheit gelangen/Wer in Bewegung behutsam ist/kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen.«
Das Wasser, allgegenwärtig, unscheinbar und wunderbar, stillt Durst, nährt Pflanzen, erfrischt und reinigt. In dem alten chinesischen Text wird es an verschiedenen Stellen gerühmt. Es sei bereit, allen Wesen zu dienen. Es bleibe an Orten, die Menschen verachten. Es gleiche dem Dao, denn: »Nichts in der Welt/ist nachgiebiger und weicher als Wasser/doch nichts ist besser/um Hartes und Starkes zu überwinden.« Die Lehre daraus: Das Weiche kann das Harte besiegen, das Schwache überwindet das Starke. Und die melancholische Erkenntnis: »Obwohl jeder es weiß/handelt keiner danach.«
Was bedeutet es, einer Weisheitslehre zu folgen, die ihre Anhänger auffordert, wie trübes Wasser zu sein? Laozis Lösung ist typisch asiatisch. Er rät zur Praxis des Schweigens, der Demut, der Innenschau: »Beende das Gerede/schließe die Türen/dämpfe den Eifer/löse die Verwirrung/mindere den Glanz/finde den Grund.«
Vom Daoismus, der chinesischen philosophischen Schule, die nach diesen Prinzipien ausgerichtet ist, wird noch die Rede sein. Die Lehre unterscheidet sich in vielen Aspekten von Weisheitswegen anderer Kulturkreise. Doch einen Punkt, an dem sich alle treffen, beleuchtet das Daodejing und die Legende seiner Entstehung besonders gut: Weisheit ist keine theoretische, sondern eine angewandte Kunst. Sie erschöpft sich nicht in Gerede, kann sogar ohne Worte auskommen; sie misst sich am Tun. Dabei folgt sie Laozis Paradox: Sie ist einfach und geheimnisvoll zugleich, leicht zu erkennen, schwer zu erringen. Und sie erfordert persönlichen Einsatz, wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne viele Jahrhunderte nach Laozi gesagt hat: »Es mag sein, dass wir durch das Wissen anderer gelehrter werden. Weiser werden wir nur durch uns selbst.«
Ehrlich, nett und rätselhaft: vom Psychogramm der Weisen, dem Mangel an modernen Weg-Weisern und der Notwendigkeit von Selbstversuchen
Schön gesagt, schwer zu verwirklichen. Die Weisheit ruft laut auf der Straße, aber ihr Ruf erreicht die Ohren der Menschen nicht, hieß es bei Salomo. Ganz ähnlich klingt die Klage Laozis: Jeder kenne sie, aber aus dieser Kenntnis folge kein entsprechendes Handeln. Wieder ein Paradox. Weisheit scheint ein durchaus greifbarer Schatz zu sein, destilliert aus Lebens- und Welterfahrung, aus den bedeutendsten Erkenntnissen und Überlieferungen. Eigentlich steht der Gebrauch jedem offen, es gibt nur eine Hürde: Man muss sich gewissermaßen selbst dazu überlisten, den Schatz zu heben.
Und das ist verwirrend und verzwickt. Denn wie dabei vorzugehen ist, steht in keinem Lehrbuch. Weisheit lässt sich nicht studieren, trainieren und anschließend beherrschen wie eine Fremdsprache, ein Musikinstrument, eine Sportart oder die höhere Mathematik. Sie ist nicht durch Einheirat zu erringen wie ein Adelsprädikat oder ein Familienvermögen. Man kann sie nicht herbeizwingen, nicht einmal mit Waffengewalt. Sie fällt keinem in den Schoß wie ein Lottogewinn. Und ein »Weisheitsquotient«, der mit ein paar Standardaufgaben zu ermitteln wäre wie der IQ, lässt auch auf sich warten.
Wie also ist dem geheimnisvollen Ideal auf die Schliche zu kommen? Vielleicht über die Einzelteile, aus denen sich das größere Ganze zusammensetzt. Immerhin gibt es ein intuitives Grundverständnis darüber, was weise Menschen ausmacht. Und das scheint in erstaunlich frühem Alter geprägt zu werden. Psychologiestudentinnen der Universität Wien haben die Jüngsten zu Wort kommen lassen und Kinder ab sechs Jahren befragt, welche Eigenschaften weise Menschen ihrer Meinung nach auszeichnen. Von den Schulanfängern hatten schon fast die Hälfte eine Antwort parat, ab Klasse 4 praktisch alle.
Originelle Definitionen sind da zu hören. Ein Weiser sei »ehrlich, nett und rätselhaft«, sagt ein neunjähriger Bub. »Er hält zu dir und hilft dir, wenn es dir nicht gut geht. Man kann ihm Geheimnisse anvertrauen«, findet ein gleichaltriges Mädchen. »Weise geben schlaue Tipps und erzählen uralte Geschichten«, meint ein Zehnjähriger.
Ratgebertalent, Verlässlichkeit, Erfahrung, eine besondere Aura – dieses frühe Bild ergänzen Erwachsene um weitere positive Facetten. Sie nennen am häufigsten die Eigenschaften ruhig, lebenserfahren, wissend, belesen, über den Dingen und Menschen stehend, gelassen, gütig, milde, bescheiden, ausgeglichen, freundlich, mit persönlicher Ausstrahlung, besonnen, selbstbewusst, einfühlsam, kann zuhören, gibt gute Ratschläge/Hilfen/Urteile. Man könnte das erweitern, bis der Universalkatalog guter Eigenschaften vollständig ist: aufmerksam, beharrlich, unabhängig, unerschrocken, uneigennützig, unbestechlich. Vertrauensvoll, aber nicht vertrauensselig. Loyal, aber nicht unkritisch.
Das Übermaß an aufgezählten Ideal-Qualitäten hat eine fatale Nebenwirkung. Es lähmt. Es setzt Maßstäbe, denen in ihrer Gesamtheit kaum ein Irdischer oder eine Irdische gewachsen ist. Wenn in Umfragen nach realen Weisen gefragt wird, landen auf den hohen Rängen Religionsstifter wie Buddha und Jesus. Dazu kommen bewunderte Prominente, die für Frieden und eine bessere...