E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Turtschi Die blauen Hunde von Lop Nor
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-95765-753-4
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-95765-753-4
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tom Turtschi, geboren 1964, Kunstgewerbeschule Biel und Luzern, arbeitet als Szenograf und visueller Gestalter. Lebt gemeinsam mit seiner Frau, 11 Mitbewohnern, 13 Schafen, 40 Hühnern, 5 Enten, 3 Ziegen, 8 Bienenvölkern und 5 Katzen auf dem Land in einem 304jährigen Bauernhaus. www.tom-turtschi.ch | www.hof3.com
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Tashmamat Soup and Noodle
Auf dem kurzen Fußmarsch zum Restaurant hat Frau Tursan den Mantelkragen hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Sie hastet mir voraus. Ich versuche, nicht zurückzufallen. Plötzlich bemerke ich, dass überall Kameras angebracht sind. Keine Kreuzung und kein Straßenzug, wo nicht mindestens eine Kamera an einer Laterne oder Hausecke montiert wäre. In einer dunklen windgeschützten Nische wartet Frau Tursan, bis ich zu ihr aufgeschlossen habe. Ich zeige meine Irritation über ihr Tempo und deute fragend auf eine Kamera an der gegenüberliegenden Straßenseite. Ja, vernehme ich aus dem Schlitz zwischen Mütze und Kragen, hier werde eben für Sicherheit gesorgt, kaum Kriminalität, ausländische Gäste brauchten sich nicht zu ängstigen. Ich glaube, einen schnippischen Unterton in ihrer Stimme zu hören, schiele zu ihr hinüber, kann im diesigen Licht aber nicht beurteilen, ob ich da eine leise Kritik an der Ordnungsmacht vernommen habe. Wirklich verdammt eisig heute Abend, sagt sie, schlägt den Kragen noch höher und eilt davon. Ich haste dem flatternden Mantel hinterher, bis sie nach rechts ausschert und durch eine blecherne Tür verschwindet. Seitlich über einem schmalen Oberlicht ein schiefes Schild mit der Aufschrift Tashmamat Soup and Noodle.
Wir betreten das Lokal. In dem Kalksteinbau mit den Fensterschlitzen über unseren Köpfen und dem rohen Zementboden hätte sich genauso gut eine mechanische Werkstatt einquartieren können. Der Wirt hatte alles gegeben, um den Ort mit Herzblut und viel synthetischem Pomp nach seinen ästhetischen Vorstellungen aufzuhübschen. Wir sind die ersten Kunden an diesem Abend. Hinter dem Küchentresen winkt der weißbeschürzte Koch und bedeutet uns mit einer Geste, Platz zu nehmen. Frau Tursan führt mich an einen Tisch unweit des Eingangs und bietet mir den Platz bei der Wand an. Das ist ein Logenplatz mit bester Sicht in die Küche, sagt sie. Tashmamats Kochkünste seien für das Auge mindestens so spektakulär wie für den Gaumen. Action Cooking in Reinkultur, keiner bereite die Speisen kunstfertiger zu als Tashmamat.
Ich konsultiere die Speisekarte, vergleiche die vergilbten Bildchen der Gerichte miteinander. Ich bin unschlüssig. Frau Tursan empfiehlt Uygur Chuzma-Lagman, ein hiesiges Nationalgericht, das auch ihre Mutter immer gekocht habe. Frische Nudeln, nicht geschnitten oder durch ein Sieb gepresst, wie das bei uns im Westen gemacht werde, sondern aus dem Teig gezogen. Eine Soße aus Gemüse und Ziegenfleisch. Warum nicht? Ich lasse mich gerne überraschen.
Wir bestellen, das Spektakel beginnt.
Der Koch zupft einen Klumpen Teig aus der Schüssel. Er zieht ihn in die Länge, versetzt der Wurst einen Drall, wie wenn ein Mädchen ihr Springseil in Schwung bringt. Er pappt die beiden Enden zusammen, und die Energie des Dralls überträgt sich in die hängende Wurst, sie verquirlt sich wie die Stränge eines Seils. Die linke Hand packt das untere Ende, er zieht die armdicke Wurst erneut auf die doppelte Länge, gibt eine Prise Drall zu, legt die Enden aufeinander, und der gefaltete Strang wickelt sich erneut von oben nach unten um sich selbst. Der Koch verrichtet die Handgriffe in einem atemberaubenden Tempo, ein ums andere Mal, in perfekter Symmetrie: Einmal greift die rechte, das nächste Mal die linke Hand den unteren Zipfel der Wurst. Es gibt dafür keine Notwendigkeit, außer dem Wunsch nach der choreografisch perfekten Abfolge einer Bewegung. Ballett des Handwerks, Artistik des Meisters. Nach einer halben Minute verpasst er dem Teig zum letzten Mal eine Eigendrehung, dann legt er den Strang auf den Tisch, kappt mit dem Messer die beiden Enden, wirft die Zipfel zurück in die Teigschüssel, schabt mit den Händen Mehl auf der Arbeitsfläche zusammen und reibt den Strang damit ein. Legt die Rolle zu einem offenen Kreis, packt die beiden Enden mit der Linken, die gegenüberliegende Seite der Schlaufe mit der Rechten und zieht den Teig auseinander, soweit seine Arme reichen. Er klappt die beiden Enden aufeinander, dehnt die Schlinge auf die doppelte Länge, immer wieder von Neuem, aus zwei entstehen vier, dann acht immer dünnere Spaghetti, und dank des exponentiellen Wachstums dauert es keine fünf Atemzüge, bis der Koch einen ordentlichen Packen Nudeln zur Seite legt. Er erinnert mich an die Wollstränge meiner Oma, als sie für ihre Strickprojekte jeweils meine Arme ruhigstellte, um sie als Haspel zu nutzen.
Ich staune.
Wenn ich mir ausmale, was bei dieser leichthändigen Vorführung alles schieflaufen kann, dann grenzt die Fertigkeit dieses Koches an Zauberei.
Zwanzig Jahre Übung reichen, meint Frau Tursan. Zauberei sei nicht nötig. Zwanzig Jahre Übung von Tashmamat plus tausend Jahre kultureller Erfahrung, welche Konsistenz der Teig aufweisen muss, damit er gezogen werden kann. Fingerspitzengefühl, die Kenntnis der Kräfte, die den Teigling dehnen, ohne ihn zu zerreißen. In dieser einen Minute Action Cooking kondensiere das Wissen eines Jahrtausends, erklärt mir Frau Tursan, der ganze kostbare Schatz unserer Vorfahren. Sie macht ein strenges Gesicht: Bedenken Sie, die Italiener haben uns immerhin die Pasta abgekupfert! Marco Polo hatte sich alles gemerkt, Industriespionage im ausgehenden Mittelalter! Sie zuckt mit den Schultern, blickt nach unten wie eine beim Schummeln ertappte Göre, lächelt mich mit schräg gestelltem Kopf schelmisch an. Na ja, das stimmt wohl nicht ganz, auch wenn wir Uiguren uns das so erzählen. Nicht wir haben es erfunden, Nudeln wurden in Europa und Asien schon in Steinzeitgräbern entdeckt. Marco Polo brachte im dreizehnten Jahrhundert bloß Lagman-Rezepte nach Venedig und popularisierte die Speise im Westen.
Was soll’s, beschwichtige ich sie, jedes Volk braucht seine Legenden. Ich lasse mir gerne vorgaukeln, hier an der Wiege der Pasta gelandet zu sein.
Der Koch schnippelt das Gemüse, dünstet Zwiebeln an, gibt das Ziegenfleisch zu, löscht mit Bouillon ab und lässt die Soße auf kleinem Feuer köcheln. Ich folge den Handgriffen des Kochs, Abschmecken, Würzen, erneutes Kosten. Die Eleganz seiner Verrichtungen bietet Hochgenuss für einen Augenmenschen.
Aus einer Schale neben der Spüle greift er drei pralle Tomaten, schnippelt sie in Zentimeter große Stücke und streicht sie mit dem Messer vom Brett in den Kochtopf.
Ich stutze.
Tomaten? Wo um aller Welt hat er Tomaten her? Frische Tomaten sind unbezahlbar, das Virus hat im letzten Jahr beinahe die gesamte globale Ernte vernichtet, und unser neues Produkt, die Blue Dragon®, wird erst in einigen Versuchsanlagen in Ürümqi angebaut, und diese drei Tomaten waren rot, nicht blau …
Frau Tursan bemerkt meine Erregung.
Ich deute zum Koch und formuliere mein Erstaunen: Wir konnten in unseren Labors bei keiner einzigen bekannten Sorte eine Virusresistenz nachweisen. Und solche makellosen Tomaten ohne Runzeln und braune Flecken habe ich seit Jahren keine mehr gesehen. Wie ist das möglich?
Sie schiebt ihre Augenbrauen nach oben, legt die Stirn in Falten, zuckt mit den Schultern. Dann winkt sie den Koch zu uns an den Tisch.
Er wischt sich die Hände an einem Tuch trocken, hört zu, nickt, stopft das Tuch in den Gürtel seines Schurzes, lacht und beginnt zu erzählen. Die Tomaten habe er aus dem Garten seiner Mutter. Genau genommen aus dem Einmachglas, die Mutter habe die Ernte des Herbstes konserviert. Er freue sich sehr, uns in dieser schwierigen Zeit ein authentisches Gericht servieren zu können, ohne Tomaten schmecke sein Chuzma-Lagman nicht halb so gut.
Die Seuche habe den Garten glücklicherweise bisher verschont. Die Tomaten seien stark. Eine alte Sorte, den Garten und die Pflanzen habe seine Mutter von seiner Oma und diese wiederum von ihrer Mutter übernommen, viele Generationen zurück.
Den Namen der Sorte habe ich noch nie gehört, der Koch sagt, er bedeute die Perlen Mohameds.
Gerne hätte ich mehr über den Garten der Mutter des Kochs erfahren, offenbar ist Virusresistenz kein Alleinstellungsmerkmal unserer Blue Dragon®. Eine autochthone Sorte, unterhalb unseres Radars. Das ist bedeutsam. Leider eilt der Koch zurück in die Küche, um die Gasflamme unter dem brodelnden Topf zurückzustellen.
Der Garten – liegt er am Rande von Rouqiang? In einer kleinen Oase im Umland? Weit kann er nicht sein, wenn der Koch die Tomaten heute geholt hat. Welche Eigenschaften weist diese Tomate zudem auf, bezüglich Geschmack, Konsistenz, Lagerfähigkeit?
Ich langweile Frau Tursan mit meinem Monolog. Peinlich berührt versuche ich, ihr meine Erregung verständlich zu machen. Das Tomatenvirus ist eine immense Bedrohung, ich habe die vergangenen Jahre mit einem Team hochdotierter Molekular- und Mikrobiologen, Immunologen und Chemiker an der Lösung gearbeitet und wurde hierhergeschickt, um die letzten Hürden zu beseitigen, damit unsere resistente Pflanze im großen Stil auf den Plantagen angebaut werden kann.
Frau Tursan winkt ab. Lassen Sie uns nicht die Probleme dieser Welt wälzen, nicht heute Abend.
Ich entschuldige mich.
Sie lächelt: Ist schon okay.
Während wir auf die Nudeln warten, muss ich mich zwingen, nicht unentwegt in ihre schwarzen Augen zu starren. Ich bin neugierig, wer mir gegenübersitzt. Ich suche krampfhaft nach einem Ansatzpunkt, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Aber mein Kopf ist leer wie die Wüste. Ich kenne das: Wenn ich mich bei schönen Frauen angestrengt um meine Wirkung bemühe und mit Charme und Witz brillieren will, werde ich total verstockt. Verstopft wie eine Ketchupflasche, wo sich der Pfropfen im falschen Moment löst und ich mit einem Redeschwall bestimmt die ganze Stimmung versaue. Verlegen wende ich mich von ihr ab, senke den Blick, betrachte die...




