E-Book, Deutsch, Band 20, 288 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
Twain Mark Twain, Prinz und Bettelknabe
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7306-9143-4
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vollständige, ungekürzte Ausgabe
E-Book, Deutsch, Band 20, 288 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
ISBN: 978-3-7306-9143-4
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Samuel Langhorne Clemens (1835-1910), besser bekannt unter dem Pseudonym Mark Twain, war ein scharfzüngiger Kritiker der amerikanischen Gesellschaft: humorvoll bis satirisch schrieb er über den alltäglichen Rassismus, Heuchelei, Verlogenheit und Korruption seiner Landsleute. Bereits mit seinen ersten Erzählungen, entstanden in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, errang er großen litarischen Erfolg, der sich durch die Abenteuergeschichten um die beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu Weltruhm steigerte.
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3. KAPITEL
Hungrig stand Tom auf, und hungrig ging er fort, die Gedanken noch ganz von der leeren Herrlichkeit seines Traumes erfüllt. Er schlenderte durch die innere Stadt hin und her, ohne darauf zu achten, wo er war, oder was um ihn vorging. Die Leute liefen gegen ihn und manche riefen ihm unwirsch Scheltworte zu, aber der Träumer merkte nichts davon. So kam er allmählich nach Temple Bar – so weit hatte er sich in dieser Richtung noch nie von zu Hause entfernt. Er blieb einen Augenblick stehen und überlegte; dann versank er wieder in seine Grübeleien und ließ die Mauern Londons hinter sich. Damals war der Strand kein Landweg mehr; er hielt sich selbst schon für eine Straße, wenn auch keine vollständige, denn obwohl die eine Seite von einer beinahe ununterbrochenen Reihe von Häusern eingefasst war, standen auf der anderen nur zerstreut einige große Gebäude, Paläste reicher Edelleute, von schönen, großen Parkanlagen umgeben, die sich bis zum Fluss herunterzogen, Grundstücke, die heutzutage eng bedeckt mit düsteren Häusern sind.
Tom gelangte ins Dorf Charing und rastete an dem schönen Kreuz, welches hier ein trauernder König errichtet hatte. Dann schlenderte er einen einsamen lieblichen Weg entlang, an des großen Kardinals stattlichem Wohnsitz vorüber auf ein noch mächtigeres, Ehrfurcht gebietendes Schloss zu – das war Westminster.
Mit frohem Staunen betrachtete Tom das ungeheuere Gebäude, die weitausgreifenden Flügel, die finsteren Türme und Zinnen, das hohe, steinerne Portal mit dem vergoldeten Gitter und dem prächtigen Aufbau der riesigen Granitlöwen und den anderen Zeichen und Sinnbildern der englischen Königsmacht. Sollte endlich das Verlangen seiner Seele gestillt werden? Denn das dort war ein Königsschloss. Konnte Tom nicht hoffen, wenn der Himmel ihm gnädig war, nun auch einen leibhaftigen Prinzen zu sehen?
An jeder Seite des goldenen Gitters stand eine lebende Bildsäule, nämlich ein hoch aufgerichteter, stattlicher und regungsloser Kriegsmann, von Kopf bis Fuß in eine blanke Stahlrüstung gekleidet. In ehrfurchtsvoller Entfernung hielten sich viele Städter und Bauersleute auf und warteten darauf, etwas von der königlichen Herrlichkeit zu sehen. Prächtige Kutschen mit prächtig gekleideten Insassen und prächtig gekleideten Dienern draußen auf dem Bock fuhren durch die verschiedenen mächtigen Einfahrten, die zu dem Wohnsitz des Königs führten.
Der arme, zerlumpte kleine Tom trat näher und schlich, klopfenden Herzens und mit steigender Hoffnung, langsam und schüchtern an den Schildwachen vorbei, als seine Augen durch die goldenen Stäbe ein Schauspiel erblickten, bei dem er vor Freude beinahe laut aufgejauchzt hätte.
Hinter dem Gitter stand ein munterer Knabe, frisch und gebräunt durch kräftige Bewegung im Freien. Er war gar schön in Seide und Atlas gekleidet und strahlte vor Juwelen. An der Seite trug er einen kleinen mit Edelsteinen besetzten Degen und einen Dolch, zierliche Schuhe an den Füßen mit roten Absätzen und keck auf dem Kopf eine karmesinfarbene Mütze mit wallenden Federn, die durch ein großes, blitzendes Kleinod festgehalten wurden. Mehrere reich gekleidete Herren standen in seiner Nähe, ohne Zweifel seine Dienerschaft. Ja, das musste ein Prinz sein, ein lebendiger, wirklicher Prinz, das stand fest – und das Gebet des Bettelknaben hatte endlich Erhörung gefunden.
Toms Atem flog vor Aufregung, und seine Augen wurden immer größer vor Staunen und Entzücken. Jeder andere Gedanke wich jetzt dem einen Wunsch: in die Nähe des Prinzen zu kommen und sich an ihm satt zu sehen. Ehe er wusste, was er tat, hatte er schon das Gesicht gegen die Stäbe des Gitters gedrückt. Im nächsten Augenblick riss ihn einer der Soldaten mit rauer Faust weg und schleuderte ihn in den Haufen der gaffenden Landleute und müßigen Londoner mit der barschen Weisung: »Keine Unverschämtheit, du Bettelpack!«
Die Menge höhnte und lachte über den Spaß, aber der junge Prinz sprang dicht an das Gitter und rief mit blitzenden Augen und vor Unwillen gerötetem Antlitz: »Wie wagst du, den armen Jungen so zu misshandeln! Wie wagst du selbst dem geringsten von meines Vaters Untertanen so zu begegnen! Öffne das Gitter und lass ihn ein!«
Da hätte man die wankelmütige Menge sehen sollen, die nun die Hüte abriss; da hörte man sie begeistert rufen: »Lang lebe der Prinz von Wales!«
Die Leibwächter schulterten die Hellebarden, öffneten die Pforte und präsentierten wieder das Gewehr, als der kleine Bettelprinz in seinen Lumpen eintrat, um dem Gebieter über unermessliche Reichtümer die Hand zu reichen.
Eduard Tudor sagte: »Du siehst müde und hungrig aus: Du bist schlecht behandelt worden. Komm mit mir!«
Ein halbes Dutzend seines Gefolges trat eilig vor, wohl um Einspruch zu erheben. Aber mit einer echt königlichen Handbewegung winkte er ab, und sie blieben regungslos an ihrem Platz. Eduard führte Tom in ein prächtiges Gemach des Schlosses, das er sein Kabinett nannte. Auf seinen Befehl wurde eine Mahlzeit herbeigebracht, wie Tom sie bisher nur aus Büchern gekannt hatte. Mit fürstlichem Zartgefühl und Takt schickte der Prinz die Diener fort, damit sein armer Gast nicht durch ihre spöttischen Mienen in Verlegenheit gebracht würde. Dann setzte er sich zu Tom und richtete Fragen an ihn, während er aß.
»Wie heißt du, Junge?«
»Tom Canty, mit Verlaub, Herr.«
»Ein wunderlicher Name! Und wo wohnst du?«
»Im Kehrichtshof, in der City, bei Pudding Lane.«
»Kehrichtshof! Auch eine merkwürdige Bezeichnung. Hast du Eltern?«
»Eltern habe ich und auch ‘ne Großmutter; aber Gott verzeih mir’s, wenn ich sage, ich mache mir nichts aus ihr. Dann habe ich auch Zwillingsschwestern, die Nan und die Bet.«
»Die Großmutter ist wohl nicht besonders zärtlich mit dir, will mir scheinen?«
»Sie ist’s auch sonst nicht, mit Eurer Gnaden Verlaub. Sie hat ein böses Herz und tut ihr Lebtag nichts Gutes.«
»Behandelt sie dich schlecht?«
»Manchmal, wenn sie schläft oder gar betrunken ist, lässt sie die Hand ruhen, aber wenn sie bei Verstand ist, prügelt sie mich gehörig.«
Die Augen des kleinen Prinzen funkelten zornig und er rief: »Wie, sie schlägt dich?«
»Nun freilich, Herr!«
»Sie schlägt dich und du bist so klein und schwach. Höre, noch vor heute Abend soll sie in den Tower gesperrt werden. Mein Vater, der König …«
»Herr, Ihr vergesst ihren geringen Stand. Der Tower ist nur für vornehme Leute.«
»Richtig. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich werde überlegen, wie sie zu bestrafen ist. Ist dein Vater gut zu dir?«
»Nicht anders wie die Großmutter Canty, Herr.«
»Das mag so der Väter Art sein. Meiner ist auch nicht von den Sanftmütigen. Er hat eine scharfe Hand. Aber mit mir verfährt er gnädig, wenn er mich manchmal auch hart anfährt. Wie ist deine Mutter zu dir?«
»Gut, Herr, sie hat mir noch nie ein Leid getan, und darin sind Nan und Bet ganz wie sie.«
»Wie alt sind die beiden?«
»Fünfzehn Jahre, mit Verlaub, Herr.«
»Meine Schwester, Lady Elisabeth ist vierzehn und meine Base, Lady Jane Grey ist von meinem eigenen Alter und dabei hübsch und lustig. Aber meine Schwester, die Lady Mary, hat einen finsteren Blick und – sag einmal, verbieten deine Schwestern auch ihren Dienerinnen das Lachen, weil es das Heil ihrer Seele gefährden könne?«
»Sie? Oh Herr, meinst du, sie hätten Dienerinnen?«
Der Prinz sah den Bettelknaben einen Augenblick nachdenklich an: »Und warum denn nicht? Wer hilft ihnen abends beim Entkleiden? Wer zieht sie morgens an?«
»Niemand, Herr. Meint ihr denn, sie sollten ihren Rock ausziehen und unbekleidet schlafen, wie die Tiere?«
»Haben sie denn nur ein Kleidungsstück?«
»Was brauchten sie denn mehrere Anzüge, Herr? Es hat doch ein jeder nur einen Leib.«
»Was für eine absonderliche Vorstellung! Verzeih, dass ich lachte! Aber deine gute Nan und deine Bet sollen sofort Kleider in Fülle haben und Dienerschaft obendrein. Mein Schatzmeister wird dafür sorgen. Nein, danke mir nicht: Es ist nicht der Rede wert. Du sprichst gut, du drückst dich mit Leichtigkeit aus. Bist du gut unterrichtet?«
»Das weiß ich nicht, Herr. Der gute Priester, den man Vater Andreas nennt, hat mich aus Freundlichkeit manches aus seinen Büchern...