Tyler Im Krieg und in der Liebe
1. Auflage, neue Ausgabe 2014
ISBN: 978-3-0369-9266-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9266-2
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Pauline und Michael sich kennenlernen, scheinen sie das perfekte Paar zu sein. Doch im Laufe der Zeit klaffen die Wünsche der lebhaften, spontanen Pauline und des ruhigen, überlegten Michael vermehrt auseinander, das Familienidyll wandelt sich zum Kleinkrieg, und die drei Kinder suchen sich eigene Wege, bis die älteste Tochter sogar verschwindet. Am dreißigsten Hochzeitstag erkennt Michael schließlich, dass sie kaum schöne gemeinsame Erinnerungen haben, und zieht zu Paulines Überraschung die Konsequenzen. Die Geschichte einer schicksalhaften Ehe und einer großen Liebe.
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1
DIE SPATZEN PFEIFEN ES VON DEN DÄCHERN
Jeder in der Nachbarschaft könnte erzählen, wie Michael und Pauline sich kennengelernt haben.
Es geschah an einem Montagnachmittag Anfang Dezember 1941. St. Cassian Street war an jenem Tag so schäbig wie immer – eine Straße mit Reihenhäusern, typisch Ost-Baltimore, ordentlich gehaltene kleine Wohnungen und dazwischen Läden, nicht größer als ein Wohnzimmer. Die Golka-Zwillinge, beide mit gleichen Halstüchern, begutachteten das Puderrouge im Schaufenster von Swedas Drugstore. Mrs Pozniak trat aus dem Eisenwarenladen mit einer winzigen Packpapiertüte, in der es klimperte. Mr Kostkas Ford Model B klapperte vorbei, ein Chrysler Airstream, Fahrer unbekannt, rauschte elegant hinterher, und dann kam Ernie Moskowicz auf dem klapprigen Geschäftsfahrrad des Schlachters.
In Antons Lebensmittelladen – einem schlecht beleuchteten, vollgestopften, urgemütlichen Raum mit L-förmiger Holztheke und Regalen bis zur Decke – wickelte Michaels Mutter zwei Dosen Erbsen für Mrs Brunek ein. Sie umschnürte sie fest mit einer Kordel und überreichte sie ohne Lächeln, ohne »Auf Wiedersehen« oder »Guten Tag«. (Mrs Anton hatte es schwer im Leben.) Einer der Brunek-Jungen – Carl?, Paul?, Peter?, sie sahen alle gleich aus – drückte sich die Nase an der Vitrine mit den billigen Bonbons platt. Eine Diele knarrte, wo die Cornflakes standen, aber das war nur das alte Gebäude, das sich immer tiefer in den Boden eingrub.
Links, hinter der langen Theke, packte Michael Anton Woodbury-Seife ins Regal. Damals war er zwanzig, ein großer junger Mann mit schlecht sitzenden Sachen, das Haar tiefschwarz und zu kurz geschnitten, sein Gesicht etwas zu schmal, mit dem dunklen Oberlippenbart, der immer durchschimmerte, egal, wie oft er sich rasierte. Er stapelte die Seifenstücke zur Pyramide, fünf Stücke unten, vier darüber, drei darüber – obwohl seine Mutter ihm mehr als einmal klargemacht hatte, dass sie ein standfesteres, weniger kunstvolles Gebilde lieber sähe.
Dann Klingeling! und Wumm!, und auf den ersten Blick war es, als bräche eine Woge junger Frauen durch die Tür. Sie brachten einen kalten Luftzug mit, und den Abgasgeruch. »Hilfe!«, rief Wanda Bryk in höchsten Tönen. Ihre beste Freundin, Katie Vilna, hatte den Arm um ein unbekanntes Mädchen in einem roten Mantel gelegt, und ein weiteres Mädchen drückte ein Taschentuch an die rechte Schläfe dieses rot bemäntelten Mädchens. »Sie ist verletzt! Sie braucht Erste Hilfe!«, rief Wanda.
Michael unterbrach sein Einräumen. Mrs Brunek schlug sich mit der Hand an die Wange, und Carl oder Paul oder Peter sog pfeifend die Luft ein. Mrs Anton verzog keine Miene. »Wieso kommt ihr hierher?«, fragte sie. »Bringt sie in den Drugstore.«
»Der Drugstore ist geschlossen«, erklärte Katie ihr.
»Geschlossen?«
»Es steht an der Tür. Mr Sweda hat sich zur Küstenwache gemeldet.«
»Er hat was?«
Das Mädchen im roten Mantel war sehr hübsch, trotz des Bluts, das an einem Ohr hinunterrann. Es war größer als die beiden Mädchen aus der Nachbarschaft, aber schlank, zarter, mit einem dunkelblonden Haarschopf und einer so ausgeprägt geschwungenen Oberlippe, als wären die beiden kleinen Spitzen mit einem Stift gemalt. Michael kam hinter der Theke hervor, um sie genauer anzusehen. »Was ist passiert?«, fragte er sie – nur sie – und betrachtete sie eindringlich.
»Hol ihr ein Heftpflaster! Hol Jod!«, befahl Wanda Bryk. Sie war mit Michael in der Volksschule gewesen. Deshalb dachte sie wohl, sie könnte ihn herumkommandieren.
Das Mädchen sagte: »Ich bin von der Straßenbahn gesprungen.«
Ihre Stimme war dunkel und rau, ein Schock nach Wandas hohem Zetern. Ihre Augen waren tiefblau wie Stiefmütterchen. Michael schluckte.
»In der Dubrowski Street hat eine Parade angefangen«, erzählte Katie den Übrigen. »Alle sechs Szapp-Jungen haben sich freiwillig gemeldet, habt ihr’s schon gehört? Und ein paar ihrer Freunde auch. Sie schwenken eine Fahne – Achtung, Japs! Hier kommen die Szapps! –, und zum Abschied sind Hinz und Kunz erschienen. Eine solche Menge, dass der Verkehr kaum durchkommt. Also Pauline hier – die wollte eigentlich von der Arbeit nach Hause, weil alle früher schließen –, und was tut sie? Springt von der fahrenden Straßenbahn, weil sie mitmachen will.«
Die Straßenbahn konnte nicht besonders schnell gefahren sein, wenn alles verstopft war, aber darauf wies niemand hin. Mrs Brunek murmelte mitfühlend. Carl oder Paul oder Peter sagte: »Darf ich hingehen, Mama? Darf ich? Darf ich die Parade angucken?«
»Ich dachte nur, wir sollten unsere Jungs unterstützen«, sagte Pauline zu Michael.
Er schluckte noch einmal. Er sagte: »Ja, natürlich.«
»Du hilfst unseren Jungs aber nicht, wenn du dir nen Dachschaden holst«, sagte das Mädchen mit dem Taschentuch. Ihr gleichmütiger Ton ließ darauf schließen, dass sie Paulines Freundin war – ein braunhaariges Mädchen mit ruhigem Gesicht und Augenbrauen, so harmonisch und ungerührt, als sei sie durch nichts aus der Fassung zu bringen.
»Wir glauben, sie hat sich den Kopf am Laternenpfosten gestoßen«, sagte Wanda, »aber wer weiß, bei dem ganzen Spektakel. Sie fiel uns geradezu in den Schoß, und Anna obendrein. Ich sagte: ›Ach, du liebes bisschen! Alles in Ordnung?‹ Also, irgendwer musste ja was tun; wir konnten sie doch nicht verbluten lassen. Gibts denn bei euch kein Heftpflaster?«
»Das ist hier keine Apotheke«, sagte Mrs Anton. Und dann, einem Gedankensprung folgend: »Was hat Nick Sweda sich denn dabei gedacht? Er ist doch mindestens fünfunddreißig!«
Inzwischen war Michael von Pauline weg und zu seiner Mutter hinter den Ladentisch gegangen – an das kürzere Ende mit der Kasse. Er bückte sich, verschwand kurz und kam mit einer Zigarrenkiste wieder zum Vorschein. »Verbandzeug«, erklärte er.
Kein Heftpflaster, sondern eine altmodische Rolle Baumwollwatte, eingewickelt in Papier, das genauso dunkelblau war wie Paulines Augen, dazu ein Röllchen weißes Leukoplast, und eine ochsenblutfarbene Flasche mit Jod. Wanda machte einen Schritt, um alles zu nehmen; aber nein, Michael packte selbst die Watte aus und riss eine Ecke ab. Er tränkte das Stück mit Jod und ging zu Pauline. »Lass mich mal sehen«, sagte er.
Die Stille war ehrfurchtsvoll, gespannt, als wären sich alle der Bedeutung des Augenblicks bewusst – sogar das Mädchen mit dem Taschentuch, von Wanda Anna genannt, obwohl Anna nicht ahnen konnte, dass Michael Anton sonst der zurückhaltendste Junge der Gemeinde war. Sie nahm das Taschentuch von Paulines Schläfe. Beherzt schob Michael eine von Paulines Locken beiseite und begann mit dem Wattebausch zu tupfen. Pauline hielt sehr still.
Die Wunde bestand augenscheinlich aus einem fünf Zentimeter langen roten Kratzer, lang, aber nicht tief, der sich bereits schloss. »Aha«, sagte Mrs Brunek. »Genäht werden muss nicht.«
»Wer weiß!«, rief Wanda, die ungern auf ein Drama verzichtete.
Aber Michael sagte: »Gleich gehts ihr besser«, und riss einen frischen Wattebausch ab. Er befestigte ihn mit einem Heftpflasterkreuz an Paulines Schläfe.
Jetzt sah sie aus wie im Comic Strip ein Verletzter nach einer Schlacht. Als wüsste sie das, lachte sie. Dabei kamen Grübchen in beiden Wangen zum Vorschein. »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie zu Michael. »Komm mit, die Parade anschauen.«
Er sagte: »Gut.«
Einfach so.
»Darf ich auch mit?«, fragte der kleine Brunek. »Darf ich, Mama? Bitte?«
Mrs Brunek sagte: »Schsch.«
»Aber wer hilft mir im Laden?«, fragte Mrs Anton.
Michael überhörte die Frage, drehte sich um und nahm seine Jacke vom Kleiderständer in der Ecke. Es war eine Schuljungen-Jacke – groß, in Grau-Anthrazit und grob kariert. Er zog sie achselzuckend an, ohne sie zu schließen. »Fertig?«, fragte er die Mädchen.
Die anderen sahen ihm nach – seine Mutter, Mrs Brunek, und Carl oder Paul oder Peter, und die kleine alte Miss Pelowski, die gerade im Anmarsch war, als Michael und die vier Mädchen aus der Tür stürmten. »Was …?«, fragte Miss Pelowski. »Was um Himmels willen …? Wo …?«
Michael ging nicht einmal langsamer. Er war schon halb die Straße hinunter, drei Mädchen im Schlepptau und ein viertes an seiner Seite. Es hatte sich links bei ihm eingehakt und schwebte neben ihm dahin in seinem leuchtend roten Mantel.
Schon damals, behauptete Miss Pelowski später, war ihr klar, dass es um ihn geschehen war.
Parade war kaum das richtige Wort für den Menschenauflauf in der Dubrowski Street. Tatsächlich gingen ein paar Dutzend junger Männer mitten auf der Fahrbahn, trugen aber noch Zivil und gingen auch nicht im Gleichschritt. Der ältere von John Piazys Söhnen hatte Johns Seemannsmütze aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Kopf. Ein anderer, Name unbekannt, trug eine Armeedecke wie einen Umhang um die Schultern. Es war ein jämmerliches, zusammengewürfeltes, liederliches kleines Regiment mit verfrorenen Gesichtern, und die Nasen liefen vor Kälte.
Dennoch, die Leute waren begeistert. Sie schwenkten selbstgebastelte Schilder und amerikanische Flaggen und die Titelseite der Baltimore Sun. Sie beklatschten die Reden – jede Rede, jeden mitreißenden Slogan, der über ihre Köpfe hinweg gerufen wurde. »Neujahr seid ihr wieder zu Hause, Jungs«, rief ein Mann mit Ohrenschützern, und »Neujahr! Hurra!« ging es wie ein Lauffeuer durch die Menge.
Als Michael Anton mit vier Mädchen auftauchte,...




