E-Book, Deutsch, 304 Seiten, eBook
Tyler Launen der Zeit
1. Auflage, neue Ausgabe 2018
ISBN: 978-3-0369-9382-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9382-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Willa Drake führt nach außen hin das Leben einer durchschnittlichen amerikanischen Frau. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Als sie eines Tages einen überraschenden Anruf erhält, stellen eine neue Familie, spleenige Nachbarn und ein Hund namens Airplane ihr Leben gründlich auf den Kopf.
Anne Tyler erzählt mit Geist, Witz und Herz die Geschichte einer so stillen wie mutigen Frau, die nach Jahrzehnten sich selbst näherkommt und schließlich, aus einer impulsiven Entscheidung heraus, zu einem selbstbestimmten Leben findet.
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An Willas College gab es einen Bus, der vor wichtigen Feiertagen zwischen Campus und Flughafen pendelte. Sie hatte ihn nie benutzt – Flugreisen waren teuer, und wenn sie überhaupt nach Hause fuhr, dann mit dem Greyhound –, aber im Frühling ihres dritten Studienjahrs erklärte ihr Freund, er wolle ihre Familie kennenlernen und sie gemeinsam mit ihr über Ostern besuchen. Es war seine Idee gewesen, zu fliegen. Was denn sonst?, hatte er gefragt. Sollten sie etwa die ganze Nacht in einem Bus sitzen, um nur zwei Tage später die Rückfahrt anzutreten – wieder eine ganze Nacht, wieder im Sitzen? Na ja, sie hätte genau das getan, aber sie wollte nicht widersprechen.
Derek bezahlte ihr das Ticket von dem Geld, das ihm monatlich zur Verfügung stand, doch sie machte ihren Eltern weis, er habe es wegen einer Gutschein-Aktion – zwei zum Preis von einem – kostenlos bekommen. Sie hatte keine Ahnung, ob es solche Aktionen gab, aber weil ihre Eltern kaum Erfahrung mit dem Fliegen hatten, glaubten sie ihr.
Im Bus waren sie von Freunden umringt, größtenteils seinen, und konnten nicht viel miteinander reden. Derek war Jahrgangssprecher der Senior Class und Kapitän des Tennisteams, ein herzlicher, freundlicher, allseits beliebter junger Mann. Deshalb wurde viel auf Schultern geklopft, zwischen den Sitzen hin- und hergerufen und gewitzelt, während Willa, die ihre Tasche mit beiden Händen umklammert hielt, dem Ganzen lächelnd zusah. Sie hatte sich hübsch gemacht für den Flug, was sie für den Bus nicht getan hätte. Sie trug ein taubenblaues Wollkostüm und hatte sich einen Dutt gemacht. (Wenn sie ihr Haar straff nach hinten band, war sie Derek zufolge das hübscheste Mädchen im ganzen College.) Er selbst steckte zwar nur in Jeans und seinem üblichen hellbraunen Cordblazer, weil er aus Kalifornien kam und Flugreisen keine große Sache für ihn waren, aber mit seinem kantigen Unterkiefer, den klaren Zügen, dem kurzen blonden Haar und angesichts der Tatsache, dass er alle um einen Kopf – Willa sogar um zwei – überragte, konnte er Willas Ansicht nach gar nicht ungepflegt wirkten, selbst wenn er gewollt hätte.
Das Kinney College im nördlichen Illinois war von plattem Farmland umgeben, und die wenigen Bäume, an denen sie an diesem Nachmittag im April vorbeifuhren, ragten alle noch kahl in die Luft. Zu Hause würde es schon Frühling sein. Die Lenzrosen seien schon wieder abgeblüht, hatte ihre Mutter geschrieben; sie hielten nie bis Ostern. Ein bisschen Grün zur Abwechslung würde Derek sicher gefallen. Die langen Winter im Mittleren Westen setzten ihm zu.
Nachdem sich die Freunde am Flughafen getrennt hatten, um zu ihrer jeweiligen Airline zu gehen, waren Willa und Derek endlich unter sich. Sie war froh, dass er sich um alles kümmerte. Ohne Hilfe hätte sie ratlos vor dem Metalldetektor gestanden und hätte nicht gewusst, wie man das Gepäck aufgibt. Als alles erledigt war, führte er sie in den Wartebereich, suchte ihr einen freien Plastikstuhl und ging Getränke kaufen. Ohne ihn hatte sie das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Die Leute ringsum erschienen ihr unwirklich, und sie sah sich selbst wie von außen, wie von fern – kerzengerade, die Füße in den Wildlederpumps ordentlich nebeneinandergestellt, die Augen groß und wachsam. Als Derek endlich mit zwei Pappbechern zurückkam, war sie erleichtert.
»Wie soll ich deine Eltern eigentlich anreden?«, fragte er, während er sich auf den Nebensitz fallen ließ und ihr einen Becher reichte. »Mr. und Mrs. Drake oder beim Vornamen?«
»Erst mal ›Mr. und Mrs.‹«, antwortete sie ohne zu überlegen. Ihre Eltern wären entsetzt gewesen, wenn sich ein junger Mensch ihnen gegenüber so salopp gegeben hätte, zumindest ihre Mutter. »Wenn sie dich dann etwas besser kennen, bieten sie dir vielleicht an, sie beim Vornamen zu nennen.«
»Wie heißen sie denn?«
Willa zögerte – möglicherweise aus Furcht, er würde ihren Rat in den Wind schlagen und ihre Eltern doch mit dem Vornamen ansprechen –, antwortete aber schließlich: »Melvin und Alice.«
»Wunderschönen guten Tag, Melvin und Alice!«, sagte er mit sonorer, schmierig klingender Stimme, die sie zum Lachen brachte. »Darf ich euch um die Hand eurer Tochter bitten?«
Sie hörte auf zu lachen. Sie hatte nicht herausgehört, ob es ernst gemeint war oder nicht.
»Zu früh?«, fragte er, legte ihr den Arm um die Schulter und sah sie an. »Zu früh? Kam das jetzt überraschend?«
»Na ja …«
»Du hast doch sicher auch schon daran gedacht, Willa. Ich bin verliebt in dich. Ich will dich heiraten, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
Sein Gesicht war so nah, dass sie die sandkornkleinen Sommersprossen auf seinem Nasenrücken sehen konnte, die ihn ihrer Meinung nach davor bewahrten, zu hübsch zu sein. Wegen dieser Sommersprossen vertraute sie ihm. Sie hatte die übertrieben selbstbewussten Footballspieler, die einem immer süße Cocktails aufdrängen wollten, kurzerhand abblitzen lassen, hatte ihren Schreibblock seitenlang mit Willa MacIntyre und Mrs. Derek MacIntyre gefüllt und davon geträumt, eines Abends mit einem Diamantring überrascht zu werden. Sich in Willas letztem Collegejahr zu verloben und im Sommer nach ihrem Abschluss zu heiraten war durchaus vorstellbar.
Doch Derek hatte weitergesprochen. »Ich kann unmöglich ohne dich gehen. Ich muss dich bei meinem Einstieg ins Berufsleben bei mir haben.«
»Was?«, sagte Willa. »Dein Job beginnt doch schon diesen Juni.«
»Ja.«
»Du willst in zwei Monaten heiraten?«
»Es können auch drei sein, wenn du mehr Zeit für die Hochzeitsplanung brauchst.«
»Also noch bevor ich mit dem College fertig bin?«
»Das kannst du in Kalifornien zu Ende machen.«
»Aber für Kinney habe ich ein Vollstipendium!«
»Na und? Bei deinen Noten kriegst du das auch in Kalifornien. Jedes College würde sich die Finger nach dir lecken.«
Sie verkniff sich den Hinweis, dass Vollstipendien nicht so leicht zu bekommen waren. »Und was ist mit Dr. Brogan?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Er hat viel mit mir vor, Derek. Nächsten Herbst gehe ich in seinen Honors Course in Linguistischer Ethnologie.«
»Glaubst du, in San Diego kann man keine Fremdsprachen studieren?«
»Nein, aber ich –«
»Willa, kann es vielleicht sein, dass du mich gar nicht heiraten willst?«
»Doch, natürlich, aber –«
Er nahm den Arm weg und ließ sich zurückfallen. »Ich habs verbockt, was? Ich hätte dir einen förmlichen Antrag machen sollen.«
»Nein, das ist es nicht! Ich will dich ja heiraten, Derek, aber könnten wir uns nicht erst mal verloben?«
»Ja, natürlich.«
Es klang wenig überzeugend. Sie betrachtete sein Gesicht, das aber nichts verriet. »Bist du mir böse?«
»Ich bin dir überhaupt nicht böse. Ich vertraue darauf, dass ich dich nach und nach dazu bringen kann, deine Meinung zu ändern.«
»Derek –«
»Also, gehen wir es noch mal durch: Ich spreche deine Eltern mit ›Mr.‹ und ›Mrs.‹ an und mit dem Vornamen erst, wenn sie es mir sagen. Und deine Schwester? Ist sie ›Miss Drake‹ für mich?«
»Quatsch.« Willa lachte gezwungen auf. »Sie ist einfach Elaine.«
»Oder vielleicht ›Miss‹ Elaine«, überlegte er laut. »Die Schwestern Miss Elaine und Miss Willa, zwei alte Jungfern aus Lark City, Pennsylvania.«
Sie gab ihm einen neckischen Klaps aufs Knie, aber das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen ungeklärt geblieben war, hielt an.
In den Zeitschriftenanzeigen der Fluggesellschaften trugen die Stewardessen adrette Röcke, perfekt sitzende Jacken und militärisch wirkende Hüte. Die Uniform der jungen Frau, die Willa und Derek beim Betreten des Flugzeugs begrüßte, bestand dagegen aus einem weiten Hosenanzug – einem Hosenanzug! – und Hut trug sie auch keinen. Die Sitze waren in Dreier-, statt in Zweierreihen angeordnet, was viel weniger luxuriös wirkte. Willa und Derek hatten einen Sitz am Fenster und einen in der Mitte. Derek wollte ihr den Fensterplatz überlassen, aber sie sagte »Ach, ich nehme den in der Mitte«, weil sie weniger Beinfreiheit brauchte. Als er saß, ließ sie sich auf ihren Sitz nieder und schnallte sich an. Dann drückte sie zaghaft auf den Knopf, mit dem sich die Rückenlehne zurückklappen ließ, bis ihr Derek erklärte, dass man das erst nach dem Start mache.
Obwohl sie alles weniger glamourös fand als erwartet, war sie aufgeregt. In der Maschine roch es komisch nach Plastik, und auch die Geräusche klangen merkwürdig. Die Stille über dem Stimmengewirr gab ihr das Gefühl, abgeschottet und von allem getrennt zu sein.
Der hagere, stoppelbärtige Mann, der sich neben sie setzte, trug abgewetzte Jeans und eine rot-schwarz karierte Holzfällerjacke. Sie beschloss, ihn nicht zu grüßen, und lächelte nur mit geschlossenem Mund, was er aber, weil er mit seinem Gurt beschäftigt war, gar nicht bemerkte.
Als das Flugzeug startete, las sie gerade die Sicherheitshinweise, faltete sie jedoch sofort zusammen und steckte sie in das Netz an der Rückenlehne – zu ihrem Glück, denn die Fahrt über die Rollbahn geriet sehr lang und holprig. (Wenn sie beim Autofahren las, wurde ihr schnell übel.) Nach einiger Zeit fragte sie sich, ob sie jemals abheben würden. Bekam der Pilot den Start nicht hin? Ihr Blick wanderte von den Flughafengebäuden vor dem Fenster zu Derek, der die mitgebrachte...