E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Uçar Der Himmel über Nebra
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7245-2149-5
Verlag: Reinhardt, Friedrich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-7245-2149-5
Verlag: Reinhardt, Friedrich
Format: EPUB
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Erdem Uçar, 1987 in Basel geboren, hat an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften studiert. Er arbeitete beim regionalen Fernsehsender Telebasel. Nach ersten Erfahrungen bei dessen Jugendsendung war er als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Moderator tätig.
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Kapitel II (05. Februar 2002)
Die frühe Morgensonne schien durch die alten, schweren Gardinen und erhellte den zugestellten, von Zigarettenrauch verqualmten Raum. Einen Moment schien es, als würden die Sonnenstrahlen mit den sonst unsichtbaren Staubflocken Tango tanzen. Dieser Raum hatte schon lange keinen Putzlappen mehr gesehen. Eine Ausnahme war dabei der dunkle und massive Nussbaumtisch, der so sauber und ordentlich war, wie man es sich klischeehaft bei Staatsbeamten vorstellt. Darauf befanden sich lediglich ein Schreibblock mit zahlreichen, verwirrenden Notizen, ein zerkauter Bleistift, ein Telefon, eine moderne Tischlampe und ein offensichtlich selten benutzter Computer. Einzig ein in die Jahre gekommener Bilderrahmen mit einem längst vergilbten Foto verlieh dem Tisch eine persönliche Note.
Tief eingesunken im abgewetzten, schwarzen Ledersessel sass ein grauhaariger, magerer Mann mit ungepflegtem Schnurrbart und glasigen Augen – Kriminalkommissär Christoph Lenz. So alt wie seine graue Tweedjacke war auch seine Alkoholsucht. In der mit zahlreichen winzigen Äderchen übersäten linken Hand hielt Kommissär Lenz ein volles Glas mit einem für seine Lohnklasse zu billigen Single-Malt Whiskey und in der anderen schaukelte er die Flasche wie ein Baby hin und her. Mit einem beschämten Blick zur untersten Schublade seines Schreibtisches gestand sich Kommissär Lenz ein, in letzter Zeit viel zu oft von dieser Flasche Gebrauch gemacht zu haben, lenkte dann aber seinen Blick und seine Gedanken wieder auf das vollkommen verblasste Bild auf dem Tisch.
Still betrat Detektiv-Korporal Mendelin das völlig verqualmte Zimmer. Er war einer der vielen blutjungen Korporale, die, wie Lenz fand, aus dem Boden schossen wie Amberbäume. Einen Moment lang schwelgte der Kommissär in Gedanken und versuchte sich an seine Kindheit zu erinnern, an die vielen herbstlich blutrot gefärbten Blätter dieser Bäume, die er so oft in den Ferien mit seinen Eltern gesehen hatte. Sein altes Herz machte einen Sprung, als er merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und er sich dabei erwischte, wie er innerlich eine Debatte über den Nutzen der vielen jungen Korporale führte. Er fand, dass diese jungen Detektive nichts vom Schneid und Spürsinn eines alten Hasen besassen und stattdessen stets nach dem Lehrbuch handelten. Paragrafenlecker nannte er solche Beamten. Sie fürchteten zu viel und fühlten zu wenig.
Einen Moment später bereute er diesen Gedanken und er entschuldigte sich innerlich bei Mendelin, ihn mit allen anderen Detektiven in denselben Topf geworfen zu haben. Er mochte den Korporal und die Art, wie er die Dinge anpackte; immerzu erledigte er seine Arbeiten souverän und mit einem derart strukturierten Vorgehen, wie er es noch bei keinem seiner Kollegen erlebt hatte. Darüber hinaus sah er auch noch gut aus, wie Kommissär Lenz fand – soweit er das als Mann beurteilen konnte. Dieser Mendelin könnte es noch weit bringen, dachte er sich, wenn ihm ein erfahrener Vorgesetzter unter die Arme greifen würde. Aber dieser eine zu sein, dafür war ihm seine eigene Zeit viel zu kostbar. Zu sehr hatte er sich in den letzten Jahren mit seiner Arbeit als Kriminalkommissär abgeschuftet, mit grossem Erfolg, wie die zahlreichen verstaubten Urkunden und Zeitungsartikel an den Wänden bewiesen, als dass er es diesem Mendelin zu leicht machen wollte. Er sann darüber nach, dass er sich zu sehr für seinen Erfolg aufgeopfert hatte und sich zu wenig auf das Wesentliche konzentriert hatte.
Als Korporal Mendelin bereits mit einem Bein im Zimmer stand, die Türklinke versonnen in der rechten Hand haltend, bemerkte er erst, dass er nicht alleine war.
«Herr Kommissär? Entschuldigen Sie … Ich habe Sie nicht …», stotterte er. «Ich wusste nicht, dass Sie … ähm … schon im Büro sind …» Seine Verlegenheit war ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.
«Was wollen Sie? Was kann so wichtig sein, dass Sie in dieser Herrgottsfrühe in mein Büro spazieren?», entgegnete ihm Kommissär Lenz mit fester Stimme, sodass es ihm einen kurzen Moment später noch im Hals kratzte.
«Der Staatsanwalt, Herr Kommissär. Im Rheinhafen St. Johann wurde eine Leiche gefunden und der erste Staatsanwalt hat Ihnen diesen Fall zugeteilt. Er wollte Sie …» Der Schreck, ertappt worden zu sein, sass dem Korporal immer noch in den Gliedern und er umklammerte die Türklinke noch fester als zuvor.
In einem Moment der völligen Stille stellte Kommissär Lenz bedächtig das Glas neben das Bild und blaffte dann los: «Geben Sie schon die Fallakte her!» Er erkannte, wie er den jungen Detektiv in eine für ihn äusserst prekäre Lage versetzt hatte, beugte sich dann etwas vor und streckte ihm die frei gewordene Hand entgegen. «Falls der ehrenwerte Herr Staatsanwalt das nächste Mal glaubt, dass ich sein Traumkandidat für solche frühmorgendlichen Fälle sei, erwidern Sie ihm, dass wir hier bei der Staatsanwaltschaft kein Wunschkonzert haben. Er soll doch lieber beim Radio anrufen. Das ist ein Befehl.»
Korporal Mendelin war sich einen Augenblick lang nicht sicher, ob er im fahlen Licht ein verschmitztes Lächeln erkennen konnte, liess aber endlich die Türklinke los und trat in das Büro. Als er die Mitte des Raumes erreicht hatte, erkannte er, dass die unzähligen Erinnerungsstücke, die an den Wänden hingen und etliche Kisten und Regale füllten, dieses Büro zu einem Museum oder vielmehr zu einem Archiv umgestaltet hatten. Er hielt einen Moment lang inne und merkte, wie ihn die fahlen Augen des Kommissärs anglotzten, wie ein Löwe, der eine Antilope fixiert. Er übergab die Akte, machte einen wackligen Schritt rückwärts, um sich dann rasch umzudrehen und das Zimmer zu verlassen. Kommissär Lenz wartete eine Weile ab, bis er von draussen nichts mehr hörte und sicher sein konnte, dass ihn in den nächsten Minuten keine Menschenseele stören würde, dann stand er auf. Ihm wurde schwarz vor Augen, sodass er sich mit der linken Hand an seinem Schreibtisch abstützen musste, damit er nicht zu Boden stürzte. Er stand schwankend da und schwor dem Trinken ab, wie er es schon so oft getan hatte. Als er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war, beugte er sich vor, holte aus einer dunklen Ecke einen schweren schwarzen Mantel und zog ihn gemächlich an. Dann ging er um den Tisch herum in eine andere dunkle Ecke, dabei wusste er ganz genau, wann er welchen Fuss zu heben hatte, damit er nicht über eine der vielen Kisten stolperte. Er räumte unzählige Dinge um und es kam ein dunkelbraunes Ledersofa zum Vorschein, auf welches er sich legte, um seinen Rausch auszuschlafen.
Der Schlaf hielt nicht lange an. Kommissär Lenz erwachte schmatzend und mit dröhnenden Kopfschmerzen. Der saure Geschmack in seinem Mund liess ihn zusammenzucken, es folgte ein äusserst unangenehmer Hustenanfall, der seinen ganzen Körper bis ins Mark erschütterte. Danach lag er eine Weile reglos da. Beim Versuch, sich vom Ledersofa aufzustemmen, verkrampften sich seine zittrigen Finger. Eine Tatsache, die ihm vor einigen Jahren noch grosse Sorgen bereitet hatte, doch diese Bedenken waren mittlerweile in seiner allgemeinen Lethargie untergegangen. Seit fast drei Jahrzehnten hatte er im Dienst keinen Gebrauch mehr von seiner alten SIG P210 gemacht, und selbst die vierteljährlichen obligatorischen Schiessübungen waren eher zu einer Zusammenkunft von ausrangierten Kommissären verkümmert, als dass sie ihren eigentlichen Zweck, die Schiesspräzision mit der eigenen Dienstwaffe unter Beweis zu stellen, erfüllten. Lenz umklammerte mit beiden Händen seine Pistole und ihm wurde einmal mehr klar, dass seine geliebte Militärpistole nicht mehr mit den neuen, modernen Waffen seiner Kameraden mithalten konnte und eher in ein Museum als in den Halfter eines alten Kriminalkommissärs gehörte. Doch er verband mit dieser Pistole zu viele Erinnerungen, als dass er sie einfach wegschliessen und durch eine neue ersetzen konnte, so wie es eigentlich die Vorschriften verlangten.
Eine ganze Weile blieb Kommissär Lenz im schummrigen Licht seines Büros sitzen, bis er endlich den Entschluss fasste, aufzustehen. Er ging zum Schreibtisch, packte das vergilbte Bild und legte es in die oberste Schublade seines Schreibtisches. «Aus den Augen, aus dem Sinn», murmelte er vor sich hin, zog den Mantel noch fester um seinen Körper und ging zur Tür. Dort blieb er einen Moment stehen, um seine Gedanken ein letztes Mal zu ordnen. Dabei strich er sich mit der flachen Hand mehrmals über seinen zerzausten Schnurrbart, eine alte Angewohnheit, die ihm beim Denken half. Er spürte sein raues, mit unzähligen Falten übersätes Gesicht und merkte, wie der abgestandene Zigarettengeruch auf seiner Hand allmählich in seine Nase kroch.
Er stand tief atmend und mit starrem Blick da, nicht wissend, was ihn heute erwartete. Der alte Kommissär hatte Angst. Angst davor, durch diese Tür zu gehen und seinen geliebten Zufluchtsort mit seinen wahllos aufgetürmten, für ihn unbezahlbaren Erinnerungsstücken nie wiederzusehen. Er beugte sich nach vorne, fasste mit...




