Uhrmann | Ich bin die Zukunft | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Uhrmann Ich bin die Zukunft

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99039-005-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-99039-005-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mann flüchtet in ein hoch gelegenes Berghaus in den Alpen. Niemand weiß, wohin Sebastian Leitner geht, als er nach einem Termin mit seinem Kreditsachbearbeiter den Entschluss fasst zu gehen. In dem Haus hoch in den Alpen quartiert er sich für einen Monat ein. Für die alte Bergwirtin ist er der einzige Gast. Aus dem einen Monat werden mehrere Jahre. Als die Hausbesitzerin stirbt, bricht der Kontakt zur Außenwelt ab. Während die karge Berglandschaft allmählich von Wiesen und Wäldern überwuchert wird und die Jahreszeiten sich in Sonnen- und Nasszeit ändern, breiten sich unten Wüsten aus und die Menschen verlieren Sicherheit und Schutz - die Welt geht zugrunde. Das Hochtal, in dem Leitner lebt, ist ein kleiner Garten Eden. Um zu überleben, züchtet er Tiere und baut Pflanzen an. Eines Tages taucht Mali, die Enkelin der alten Frau, mit ihrem edlen Freund Ludovigo im Berghaus auf.

Erwin Uhrmann, 1978 in Niederösterreich geboren, lebt in Wien. Studierte Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Mitbegründer des KünstlerInnenvereins Kunstwerft, zahlreiche Kunstprojekte. Diverse Stipendien und Lesereisen, Mitarbeit im Essl Museum für Gegenwartskunst und Leitung des dortigen Literaturprogramms. Lehrt gemeinsam mit Moussa Kone 'Schreiben über Kunst'. Bei Limbus: Der lange Nachkrieg (2009), Glauber Rocha (2011).
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2

Leitner war konzentriert einem steilen Weg durch den Wald gefolgt. Er hatte in dichtem Geäst und sturmbeschädigtem Unterholz nach Wegmarkierungen gesucht, durchwegs atemlos. Mehrere Muskelpartien schmerzten ihn, jene am hinteren Kiefer, jene im Nacken und jene um die Schulterblätter herum. Nach einem Steilstück, das er gebückt hochgelaufen war, kam er in einen Wald mit Rotbuchen, die Stamm an Stamm gesetzt waren. Geduldig stolperte er über die Wurzeln der Bäume, die aus dem Boden ragten wie Tentakel. Der Pfad mündete in einen schmalen, ungesicherten Passierweg und wurde bei einer Wasserpumpstation zu einem breiten Schotterweg. Als er den Betonsockel des Pumphauses von Weitem sah, fasste er den ersten Gedanken seit Stunden, er wusste, dass er auf dem richtigen Weg ins Hochtal sein musste. Ein Stück weit ging er am Innenrist, weil die Wunde einer aufgeplatzten Blase brannte und er sich vorstellte, der Stoff seiner Socken verbinde sich schon mit dem Fleisch, Faser an Faser.

Die Schneise, durch die der Passierweg sich zog, war das einzige Wegstück, das nicht steil anstieg, sich sogar stellenweise zu einem Hohlweg vertiefte. Dort fühlte er es kühl vom Erdreich abstrahlen, so kühl, dass er Gänsehaut am Rücken spürte.

Seit er die Nummerntafeln von seinem Auto abgenommen und im Kofferraum verstaut hatte und seine Augen minutenlang über den Parkplatz am See, die dunkle Wasseroberfläche und den Ufersaum geglitten waren, hatte er nicht mehr pausiert. Der Schweiß auf seiner Stirn war getrocknet und kristallisiert, etwas Ekelhaftes rann aus ihm heraus und gab diesen Salzkristallen einen widerwärtigen Beigeschmack. Der zweite Abschnitt der Schneise, die ihn an den Fuß des Hochtals brachte, plagte ihn dermaßen, dass er in der brütenden Hitze ständig den Text eines Kinderliedes, Im Märzen der Bauer, in Gedanken wiederholte, dabei alle paar Schritte pausieren und tief Luft holen musste. In diesen Pausen spürte er den Schmerz in seinen Beinen, der sich über die Oberschenkel bis zu seinen Hüften zog. Er mühte sich ab weiterzugehen und machte alle paar Meter eine weitere Pause, stützte die Hände auf den Knien ab und atmete tief durch, fluchte in Gedanken ein wenig, so wie er am Land fluchen gelernt hatte, mit schmutzigen Ausdrücken. Das Fluchen erleichterte den Aufstieg, weshalb er immer schneller fluchte und das Fluchen einen Rhythmus bekam wie ein Lied. Dazu kickte er ein paar Steine alle paar Meter, und wenn es besonders beschwerlich wurde, trat er kräftig in das Geröll, sodass Staub und Steine aufspritzten.

Als er das Geröllfeld unterhalb der Steilwand passierte, war es kurz nach Mittag, windstill und die Sonne stand unerreichbar hoch. Seine kalt gebliebenen Beine streiften am niedrigen Geäst, das in der Hitze zu wippen schien. Es juckte alle paar Meter stechend und er schlug mit der flachen Hand nach den Insekten, traf aber nur Dornen und herumschwirrende Pflanzensamen, die ihm auf der Haut kleben blieben.

Vom Boden her roch es nach Kräutern. Eine Maus huschte über seine Füße, als er sonnengeblendet in die Kiesel blickte und die hellen Punkte vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er blieb stehen und saugte Luft in seine Lungen, die stachen. Sein ganzer Körper pumpte, kam ihm vor, und blieb er stehen, pumpte er noch weiter, ohne Zutun. Leitner erinnerte sich daran, wie er als Kind einmal einen Berg hochgelaufen war, weil er eine Wette abgeschlossen hatte. Als er oben war – und es hatte ihn extreme, für ihn damals fast unmenschliche Anstrengung gekostet –, hatte seine Lunge nicht aufgehört schnell zu atmen, seine Muskeln hatten seine Beine weiter bewegt und er hatte kurz Panik verspürt, nicht mehr stoppen zu können und völlig die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren.

Kurz vor dem Hochtal, das er an der Oberkante der Steilwand schon erahnen konnte, hörte er einen Schuss. Diffus wie Störfeuer zerstreute sich der Knall, hallte an den Wänden wider und zog in alle Richtungen. Er mühte sich, dem Ursprung nachzuhorchen, drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, ging in die Knie, auf die Zehenspitzen, in jeder Position klang es anders. Der Schall war zwischen den Wänden, die über dem Tal aufragten, gefangen, und als das Echo verhallt war, drückte er die Augenlider zusammen und spürte ein Stechen im Kopf, von der Sonne und dem jähen Lärm.

Die Strapazen waren der Preis für die Freiheit, die er unter der Anstrengung, wie er meinte, einfach nicht spüren konnte, ebenso wenig wie die kühle Ruhe, welche ihm seit dem Betrachten des Bildes in die Knochen gefahren war, dennoch, das wusste er, war er bloß in einer Übergangssituation, hatte er erst einmal das Berghaus oben erreicht. Er war, dachte er, hier oben sicher nicht das einzige Lebewesen, das der Schuss in Deckung getrieben hatte. Er ging in Deckung, wie schon viele andere, die in die Berge geflohen waren, die Kämpfer um Sandino, den General de Hombres Libres in Nicaragua, oder die Papuas auf der Flucht vor den Militärschergen von Präsident Suharto in Indonesien, wie alle diese kriegerischen Revolutionäre, die er als Student heiß verehrt hatte. Sie alle hatten nach Löchern im Boden, nach Felsspalten im Berg, nach Höhlenverstecken und unterirdischen Gängen gesucht. Um wieder zu schlafen und einen klaren Kopf zu bekommen, um zurückzuschlagen. Als seine Gedanken wieder in Gang kamen, dachte er an Ganslick. Er wünschte, Ganslick wäre jetzt hier und würde über diese Stundungsgeschichte mit dem Kredit reden, einfach nur irgendetwas reden. Er wünschte sich diese ruhige Stimme, die vor der bergigen Kulisse noch mehr Ruhe verbreiten würde. Leitner stellte sich vor, was Ganslick jetzt machte. Vermutlich hatte er ein Gespräch mit einem Klienten, saß in seinem Büro mit dem Zeitungsstapel, all den sauber verwalteten Papieren und nahm Anteil an einem weiteren Insolvenzfall oder beglückwünschte jemanden zum Abschluss eines Kredites. Jetzt, da er an Ganslick dachte, nach den für ihn fast unmenschlichen Anstrengungen wieder zur Ruhe kam und sein Kopf wieder intakt schien, spürte er das dumpfe und das helle Geräusch im Ohr wieder, er fühlte sich müde und schwer. Er sackte zusammen, hockte sich hin. Was Hanna jetzt machte, vermutlich saß sie zusammengekauert auf der Gartenstiege. Unverzüglich versuchte er, den Gedanken zu verscheuchen. Etwas in Leitners Brust verkrampfte sich zu einem Wulst aus Fleisch und Fett auf einem Knochengerüst, er sah in die gleißende Sonne, in der Hoffnung, dieses Bild von Hanna auslöschen zu können. Er setzte sich auf einen Stein und ließ die Hand vom Hals bis zum Sonnengeflecht kreisen, wie einen Krampf massierte er diesen Wulst aus, bis er ruhig wurde, sein Herz wieder gleichmäßig schlug. Vor ihm erstreckte sich ein Latschenfeld und der Bergrücken bot ihm Schatten. Dort oben, dachte er sich, in diesem Hochtal, sei jene Zäsur von der unteren Welt zu bewerkstelligen, die ihm den nötigen Abstand gab, um innerlich für lange Zeit abzukühlen und Anfälle wie diesen zu vermeiden. Dort müsste er, dachte er, die Freiheit spüren, die er bisher nur erahnt hatte. Leitner ging sich mit all seinen Gedanken selbst auf die Nerven, deshalb konzentrierte er sich wieder auf den Weg und versuchte, an nichts zu denken.

Von einem Felsvorsprung aus konnte er erkennen, wie hoch er schon aufgestiegen war. Die Sicht hinunter auf den See war so klar, dass er einzelne Schwimmer erkennen konnte. Der See bog sich nierenförmig durch das enge Tal und seine angesandeten Ufer in der Hitze des Mittags glitzerten wie die Schwemmböden eines goldtragenden Flusses. Er traute sich nicht die Beine zu strecken, obwohl es ihm erlösend angenehm gewesen wäre. In den Nächten vor seinem Aufstieg hatten ihn regelmäßig Beinkrämpfe aus dem Schlaf gerissen. Diese Krämpfe, hatte ihm einmal ein Kollege gesagt, seien vor allem psychischer Natur. Denkst du an einen Krampf, hatte er gesagt, dann ist er schon da. Deshalb war er jedes Mal, wenn er an dieses Wort dachte, schon in Sorge, sein Bein würde krampfen, und traute sich nicht mehr, es zu strecken. Konzentriert suchten seine Augen den See ab. In der Mitte trieb ein Floß oder ein Stück Holz. An wenigen Stellen im ufernahen Bereich war die Oberfläche hellblau. Leitner untersuchte die gesamte Oberfläche des Sees, verengte seine Pupillen und konzentrierte den Blick. Aus seiner Position schätzte er eine Tiefe von zwanzig Metern. In Wahrheit, aber das konnte er nicht wissen, maß der See an seiner tiefsten Stelle 102 Meter. Dort unten in den trüben Gewässern schlängelten sich Aale, Hechte und Saiblinge. Letztere waren von einer Krankheit befallen.

Kurz wünschte er sich, unten zu sein und sich dort abkühlen zu können. Als er am Nordufer des Sees losgegangen war und einige Fischer ihre Zelte und Angelvorrichtungen aufgebaut hatten, erinnerte er sich, den innigen Wunsch verspürt zu haben, dieses Gewässer, so rasch er laufen konnte, hinter sich zu lassen. Das dunkle Wasser strahlte am taunassen Morgen eine angenehme Kälte aus, die er versucht hatte, für den schweißtreibendenden Aufstieg in sich zu speichern.

Was ihm wie das letzte Wegstück vor seinem Ziel – der Oase inmitten der Berge – vorkam, entpuppte sich als Senke, die nur in eine weitere Senke führte. So musste er sich über diese Treppe hochkämpfen, unterbrochen von Hustenanfällen. Als er nach Luft schnappte und ihm eine Fliege direkt durch den Rachen glitt, meinte er, sich übergeben zu müssen. In seinem Ingrimm wandte er sich kein einziges Mal mehr um, sah zu seinem Glück nicht die Standbeine der klapprigen Materialseilbahn, eine Verbindung zwischen unten und oben, genau das, was er für sich kappen wollte. Jede direkte Verbindung hätte ihm einen weiteren...


Erwin Uhrmann, 1978 in Niederösterreich geboren, lebt in Wien. Studierte Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Mitbegründer des KünstlerInnenvereins Kunstwerft, zahlreiche Kunstprojekte. Diverse Stipendien und Lesereisen, Mitarbeit im Essl Museum für Gegenwartskunst und Leitung des dortigen Literaturprogramms. Lehrt gemeinsam mit Moussa Kone "Schreiben über Kunst". Bei Limbus: Der lange Nachkrieg (2009), Glauber Rocha (2011).



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