E-Book, Deutsch, Band 1, 400 Seiten
Reihe: Sumerland
Ulbricht Sumerland: Prinzessin Serisada
Neuauflage 2016
ISBN: 978-3-8332-3392-0
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman zum Game
E-Book, Deutsch, Band 1, 400 Seiten
Reihe: Sumerland
ISBN: 978-3-8332-3392-0
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wo Realität, Spiel und Fiktion sich vermischen, liegt irgendwo Sumerland. Im Olympiapark München können Besucher mithilfe einer App magische Symbole aufspüren, die an verschiedenen Orten im Parkgelände versteckt sind. Die Geschichte - und damit der Roman - zu diesem Rätsel handelt von einer fantastischen Wirklichkeit, die hinter der Illusion unserer Alltagswelt verborgen liegt. In 'Wahrheit' irren wir alle in einer babylonischen Turmstadt umher, gelenkt von einem Zentralcomputer, der uns in einer Scheinwelt gefangen hält.
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1
In den abendlichen Straßen der Innenstadt habe ich Deine Gestalt vor etwa zwei Stunden zum ersten Mal gesehen, seit Jahren. Du folgst mir, mal ferner, mal näher, das Gesicht meist gesenkt oder halb abgewandt. Nur ganz selten schickst Du einen blassen Blick in meine Richtung. Du bist noch immer gekleidet wie damals an unserem letzten gemeinsamen Tag, in einer Mode, die nun längst Zeitgeschichte ist. Ich habe versucht, Dich abzuschütteln. Ich bin bei Rot über die Ampeln von Hauptverkehrsstraßen gerannt. Ich habe mich im Gedränge von Läden und Kaufhäusern versteckt. Nichts hat geholfen, ich werde Dich nicht los. Jetzt sehe ich Deine Gestalt auf der anderen Seite des Platzes. Du scheinst zu warten. Du wirfst einen Schatten im Licht der Straßenlaternen und bist auch kein bisschen durchsichtig. Du bist also zurückgekehrt, Andi, mein Intimfeind und mein einziger Zuhörer. Der finale Kampf zwischen uns hat damit begonnen.
Ich fühle den nassen, rauen Beton des Brunnenrands unter meinem Rock. Unbeachtet sitze ich inmitten der Menschen. Ihre Gesichter wirken im Kunstlicht wie Masken. Es sind wütende oder müde Masken, die vorbeihasten, in alle Richtungen. Und sie entschwinden im Dunkel der abendlichen Fußgängerzone. Die Welt ist voller Verlierer – aber es gibt auch die, die das Geheimnis kennen. Sie haben sich von den Sachzwängen befreit. Alles ist ein freies Spiel für sie. Sie leben unter uns. Sie sehen die geheime Wahrheit hinter dem Schein der Zivilisation.
Andi, wir beide kennen das Geheimnis ebenfalls. Du ganz, ich leider nur halb. Auch ich gehöre – leider nur halb – zu denen, die Einblick in das haben, was hinter den Kulissen verborgen liegt.
Ich erkenne, dass mein Betonbrunnen in Wahrheit nicht in einer Fußgängerzone steht, sondern auf einem abschüssigen Balkon aus rostigen Eisenplatten. Der Balkon hat kein Geländer. Die vorbeieilenden Passanten tragen in Wahrheit keine Bürokleidung, Regenmäntel und -schirme, sondern bonbonbunte Fantasieuniformen, graues Sacktuch oder auch Bahnen von Metallfolie, die sie um den nackten Leib geschlungen haben. Ihre matten Blicke wirken wie hypnotisiert. Ihre Füße schlurfen auf unsichtbaren Bahnen, ziellos und zielstrebig wie Insekten tasten sie sich in ihrer Trance voran. Sie sind gefangen in einem künstlich erzeugten Tagtraum. Und dieser Tagtraum heißt: unsere Wirklichkeit.
Mir wird kalt. Ich stehe auf und gehe fort vom Brunnen, hin zu einem – ebenfalls geländerlosen – Steg aus Planken und Bohlen, der am Rand des Abgrunds zu einem matt erleuchteten Betonschacht führt.
In der Kunstwelt unserer Realität ist dieser Betonschacht der Eingang eines Supermarkts. Ich brauche noch etwas zum Abendessen.
Als ich den Supermarkt auf dem gleichen Weg verlasse und mich mit der Einkaufstüte im Arm über die nassen Bohlen zurück zum Brunnen taste, sehe ich jenseits des Abgrunds die Fenster und Laternen, Lagerfeuer und Neonreklamen, fackeltragenden Menschen, Fahrzeugscheinwerfer und mit Lampions behängten Lasttiere auf der anderen Seite des Stadtkegels. Das Lichtermeer ist in Bewegung und füllt das gesamte Sichtfeld aus. Schade, dass die meisten Menschen – blind für die Wirklichkeit, wie sie nun einmal sind – diesen spektakulären Anblick direkt vor ihrer Nase Zeit ihres Lebens nicht wahrnehmen. Die irrationale Begeisterung für – vergleichsweise mickrige – Wolkenkratzer-Skylines beweist aber, dass tief in ihrem Unterbewusstsein doch der Schatten einer Erinnerung an die Realität schlummern muss. Wir befinden uns hier auf der Innenseite des Turmkegels der einzigen Stadt der Menschheit, Waylhaghiri, die Universelle, die Hochgebaute. Mehrere hundert Meter unter mir erahne ich den glatten Silberspiegel des Innensees. Nichts, was dort hineinstürzt, kehrt je zurück.
Die untersten Stockwerke des Stadtkegels sind rückständig und armselig, aber nach oben hin wird er immer moderner und kultivierter. Ich bin ziemlich weit oben. Es geht mir gut. Ich bin attraktiv und jung – ich gehöre jedenfalls klar zur Gruppe der jungen Leute. Ich verdiene mit einem kreativen Job eine Menge Geld. Und was weit mehr ist: Ich bin eine der Eingeweihten. Ich bin eine von denen, die die Gesetze der Welt gestalten, anstatt sie zu befolgen. Ich bin eine der Wenigen, die die Zivilisation formen. Denn ich kenne – leider nur teilweise – das Geheimnis der Macht. Damit fasziniere ich die Männer. Sie verlieben sich in mich. Wenn ich es will. Damit fasziniere ich genauso auch Menschenmassen. Sie kaufen und sie empfinden, was ich ihnen vorgebe. In mir ist ein reiner Kern der Stärke. Er ist nicht von dieser Welt.
Es wird immer kälter. Der Regen schlägt mir ins Gesicht. Ich will nach Hause.
In der S-Bahn sitzt Du mir schräg gegenüber und schaust mich – wie fast immer – nicht an. Der Zug ist vollgestopft und miefig. Aber durch das gekippte Fenster erreicht mich ein Hauch kühler Nachtluft, in dem ich einen scharf-animalischen Unterton riechen kann. Hinter den nassen Scheiben gleiten dunkle Baumkronen vorbei und ich erkenne die Landschaft des Sumerlands, so heißt die Wildnis, die Waylhaghiri umgibt. Dort draußen gibt es wilde Tiere. Wilde Wesen.
Ich muss aussteigen. Ich mag den Weg durch die Dunkelheit zum Apartment nicht.
So, Andi, willkommen in meinem gemütlichen Apartment. Sieh Dich in Ruhe um – wir befinden uns auf der – stets unordentlichen – Bühne meines Künstlerlebens. Ich bin sicher, dass Du den besonderen Stil nicht übersiehst, mit dem ich diese Räume ausstaffiert habe. Das war Arbeit. Wie Du siehst, ist die hintere Raumhälfte durch ein Holzpodest erhöht, da oben ist die Sofaecke. Genau – die Treppe führt hinauf. Im Halbdunkeln erahnst Du besondere Dinge. Sogar meine alte Puppe aus der Kinderzeit hält uns vom Regal aus die ewig junge Maske ihres Gesichts entgegen.
Andi, mein einziger Zuhörer: Warum erzähle ich Dir das alles? Nun, vielleicht will ich mich damit rechtfertigen – obwohl ich das überhaupt nicht nötig habe. Vielleicht tue ich es auch nur aus alter Gewohnheit, weil wir uns so gut kennen. All die Jahre habe ich versucht, Dich abzuschütteln, denn Du bringst mir Unglück. Lange Zeit – jahrelang – hatte ich Ruhe vor Dir, und ich hoffte, es wäre für immer. Aber nun bist Du plötzlich wieder aufgetaucht. Du hast Dich in der Fußgängerzone an mich geheftet und folgst mir nun auf Schritt und Tritt. Du vergiftest mein Blut mit dem faunischen Rausch des Sumerlands. Dabei war ich bereits kurz vor dem Ziel. Ich war erfolgreich. Ich hatte Rechte. Früher einmal. Und auf dem Höhepunkt dieser goldenen, fast schon übermenschlich sorglosen Zeit kam es in einer stürmischen Nacht in der Bretagne sogar dazu, dass ich – leider nur halb – in das Geheimnis eingeweiht wurde. Dann hast Du von mir Besitz ergriffen und seitdem geht es abwärts mit mir.
Und das ist der eigentliche Grund, weshalb ich Dir das alles erzähle: Ich kann Dich nur loswerden, indem ich mich mit Dir auseinandersetze. Dann werden wir beide sehen, wer von uns die Oberhand behält. Der finale Kampf zwischen uns hat begonnen, und ich schätze, es wird ein langer Kampf werden.
Inzwischen bin ich fast fertig mit dem Abendessen. Tiramisu salbt meine Seele mit weicher dunkler Sahnigkeit. Ich erkenne darin die delikaten Versuchungen des waylhaghirischen Basars der tausend und abertausend Güter. Schokolade ist für uns Frauen wie geliebt werden. Das ist eine gefährliche Illusion, denn Schokolade macht dick und unattraktiv. Oft fühlt sich leider das gut an, was zerstört. Gewalt und Bezauberung sind untrennbar verwoben, seit Dein Fluch über mich gekommen ist. Ich persönlich habe nun mal eine Liebe zu Süßigkeiten. Süßigkeiten sind eins meiner beiden einzigen Laster. Ich habe heute Abend bestimmt zwei Kilo zugenommen. Hat sich dieser Exzess gelohnt? Außer dem Gefühl der Plumpheit ist das Essen vorbei, als wär’s nie da gewesen, sodass man genauso gut noch mal von vorn anfangen kann. Etwas Unersättliches nagt in mir.
Ich zünde mir eine Zigarette an, lasse mich zurückfallen und blase den Rauch in Richtung Zimmerdecke. Neben Süßigkeiten sind Zigaretten mein zweites einziges Laster. In gewisser Weise gleichen sich beide Laster sogar gegenseitig aus, denn Rauchen macht bekanntlich schlank.
Andi, erinnere Dich: Vor fünfzehn Jahren war das Rauchen noch schick, damals, als wir mittendrin waren in einer Gemeinschaft und mittendrin im Karussell des lebendigen Lebens. Jetzt stehe ich am Rand und werde immer weiter nach außen gedrückt. Aber damals war die Welt jeden Tag wie neu und im Radio hörte man ein ums andre Mal Lieder, die es nie zuvor gegeben hatte. Und Leute, die man lange kannte, konnten überraschende Dinge sagen und tun. Ich konnte mich damals sogar selbst überraschen. Ich wusste noch nicht, was in mir steckte. In meinem Herzen war grenzenloses Neuland, das die Jungen erkundeten, die mich liebten. Aber mit der Liebe ist es wie mit dem Essen: Es wirkt nichts nach, wenn sie vorbei ist, sodass man genauso gut noch mal von vorn anfangen kann. Etwas Unersättliches nagt in mir.
In meinem Kopf oder in der Luft um mich rauscht es. Die Tür zur Ferne der unbegrenzten Möglichkeiten ist wieder offen wie damals in der goldenen Zeit. Ich spüre gute sinnliche Dinge. Ich lächle ins Halbdunkel. Ich habe nach wie vor meine besonderen Fähigkeiten, sei gefasst auf Überraschungen! Du weißt ja, ich kenne ein fantastisches Reich, in dem immer Sommer ist. Ein goldenes Gestade an einem endlosen Ozean, ein ewiges Land, umweht vom Sommerwind, der Düfte und Nachrichten von den fernsten Orten herträgt. Jedes...




