Valéry / Stölzel | Ich grase meine Gehirnwiese ab | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Reihe: Fischer Klassik Plus

Valéry / Stölzel Ich grase meine Gehirnwiese ab

Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403309-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Reihe: Fischer Klassik Plus

ISBN: 978-3-10-403309-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Vor fünf aufgestanden - um acht scheint es mir, dass ich schon einen ganzen Tag geistig gelebt, somit das Recht erworben habe, bis zum Abend dumm zu sein.« Paul Valérys berühmte Cahiers, seine »Denkhefte«, wurden fast täglich und über ein halbes Jahrhundert lang mit Notizen gefüllt und erst 1945 nach seinem Tod veröffentlicht. Sie sind ein einzigartiges Denklaboratorium des modernen Menschen und ein Paradebeispiel lebensphilosophischer Selbsttherapie.

Paul Valéry, geboren am 30. Oktober 1871 in Sète, Languedoc-Roussillon, starb am 20. Juli 1945 in Paris. Er war ein französischer Lyriker, Philosoph und Essayist. Seine Gedichtsammlung ?Charme? wurde 1925 von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen. Zu seinen bekanntesten Werken gehören, neben den ?Cahiers?, ?Monsieur Teste? und ?Mein Faust?.
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Das immer wieder in den Cahiers aufscheinende Interesse Valérys an einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Person scheint zunächst – allerdings nur bei vordergründiger Betrachtung – im Widerspruch zu seiner persönlichen Ablehnung der in Frankreich hoch angesehenen Form der literarischen Autobiographie zu stehen. Valéry glaubte nach eigener Aussage nicht daran, daß man sich selbst auf diese Weise zutreffend darstellen könne. Um so mehr lassen sich die entsprechenden Cahiers-Einträge als Protokollfragmente einer kritischen Eigenrecherche lesen, die Blitzlichter auf die eigene Individualität werfen und in der Zusammenschau eine Art »fragmentarisches Autoportrait« bilden, wie dies der Valéry-Forscher Karl Alfred Blüher genannt hat. Dem Leser eröffnet sich dabei ein vielschichtiges Variationsfeld der potentialerkundenden Valéry-Frage: Wie genau – das heißt, wie realistisch, zutreffend oder gar ›richtig‹ – kann ein Mensch sich selbst überhaupt sehen bzw. wahrnehmen? Dabei geht Valéry in seiner kritischen Selbstbeobachtung sogar noch einige Schritte weiter, beispielsweise, wenn er herauszufinden versucht, was es eigentlich bedeutet, mit dem eigenen Anfang anzufangen.

Was mich von manchem unterscheidet, ist, daß ich von Anfang ausgehen wollte.

*

Bisweilen scheint mir, ich sei ein Mann ohne Datum. Es gibt in mir ein undatiertes Wesen, und im Album der Kostüme und der Sitten – genannt  – fühle ich mich als niemandes Zeitgenosse.

*

Ich habe vor langer Zeit schon festgestellt, daß es meine Manie oder mein Gesetz ist, immer mit dem Anfang anfangen zu wollen.

Und ich merke heute, daß es nichts gibt, woran ich treuer festgehalten habe.

Ich sehe, daß ich nur das als erworben betrachte, was ich selber erworben habe, durch Vorantasten und Fehlschläge.

*

Ich baue kein »System« – Mein System – bin ich.

*

– Jeder hat seine Asymmetrie.

Es ließe sich eine Biographie denken, die so angelegt wäre:

Ein Strahlenfeld, in dem sich das Wesen von einem Punkt aus ungleichmäßig in die verschiedenen Richtungen entwickelte. – Windstriche usw.

*

Meine Natur verabscheut alles Vage.

*

Nie habe ich den Gedanken ertragen können, daß ich, ich, unter einen Begriff zu fassen wäre. Ich bin allen Akten ausgewichen, die dem eine Idee von Selbstdefinition geben könnten.

Ich bin ausgewichen vor dem Dichter, dem Philosophen, dem Mann mit einem Beruf, was doch alles in mir angelegt war. Ich bin ausgewichen vor dem Gutsein und vor dem Schlechtsein.

Ich liebe mich, solange ich nicht das Gefühl haben muß, der und der zu sein: Menschen. Ich hasse mich, wenn ich mich wiedererkenne, wenn ich den Menschen mit seiner Eigenheit bei mir spüre; ich will niemand sein.

*

Ich habe die mißliche Angewohnheit, mich in der hohlen Hand zu wägen, einer monströsen mentalen Hand; und was gar nicht im Augenblick ist, wägt den Augenblick und befindet ihn als leicht …, wo doch dorthinein paßt.

*

Mein Charakter erheischt, daß ich in erster Linie mein Inneres erforsche, und diese Forschungen münden in ein endliches System, das als Ganzes immer schon bekannt ist und bei dem es nur darum geht, es besser zu ordnen, besser auszuprägen, besser zu meistern; während physikalische Forschungen überraschenden Umstürzen unterworfen sind – so wie auch der Globus plötzlich seine Gestalt und die Landkarte verändern kann, während der Mensch sich nur selbst aufzuheben oder sehr langsam zu wandeln vermag.

*

Variation über Descartes:

Manchmal denke ich; und manchmal bin ich.

*

Etwas anderes sehr Bemerkenswertes, leider! – Immer in höchster Eile – Kann mir nie Zeit , um … Zum Beispiel, gründlich aufzuräumen – Ausführliche Toilette. Um mich herum Ordnung zu schaffen. Ich habe das Gefühl verlorener Zeit. Und leide dann darunter.

*

Die Unordnung, die mich umgibt, ist mir ziemlich gleichgültig – Mich beherrscht der , auf Kosten der Zukunft – daher all die Fragmente oder momentanen Sachen! Ich esse zu schnell, spreche zu schnell,  – (woraus sich ergeben als aus langsamem Denken).

*

Ich glaube nicht an das, was ich sehe.

Darin einem »Mystiker« ähnlich, wie man sagt.

– Ich sehe was ich sehe mit einem Blick, der »gleichzeitig« mit den dargebotenen oder aufgenötigten Gegenständen ihren Feldbereich, ihre Tangentialpunkte, ihre Gruppenzugehörigkeit, ihr Referenzsystem und auch die Freiheiten dabei wahrnimmt.

*

Ich bin ein lebender Protest gegen das, was man von mir denkt – gegen alles, was man von mir denken kann / gegen das, was ich von mir denke/, und mich selbst!

Und alle Menschen sind wie ich.

*

Jedes Urteil über mich, das mich als homme de lettres betrachtet, ist von Grund auf verfehlt.

*

Einige Seiten aus Gides gelesen. Ich komme darin auch vor, auf recht wunderliche Art. Sehr nett behandelt. Sehr gefährlich wohl auch. Einiges erstaunt mich und ist unerklärlich, bei ihm, der doch mein Leben kennt – etwa, ich hätte es mir bis ins kleinste vorausüberlegt und gestaltet wie ein Schachspieler!! Dabei gibt es keinen äußeren Lebenslauf, der mehr dem Zufall überlassen worden wäre. Alle Ereignisse meines Lebens, Karriere, Ehe – usw., alles war das Werk der Meine einzige Politik bestand stets darin, meine unendliche Suche so gut wie möglich zu schützen – auf Kosten von mancherlei und zum Preis eines mittelmäßigen Lebens. Gide denkt nicht daran, daß ich mir stets »meinen Lebensunterhalt verdienen mußte, und den anderer dazu« – worin offensichtlich kein Adel liegt. Allein schon diese Worte auszusprechen ist unedel.

Mehr noch: er scheint keinen Augenblick lang zu ahnen, wie unermeßlich diese meine Erforschungsarbeit war – welche mein »Verhalten« weitgehend erklärt – das unliterarischste Verhalten, das sich ausmalen läßt.

Davon hat Gide keine Ahnung. Er lebt in einer ganz andern Welt – einer Welt, in der die emotionalen Fragen beinahe die einzigen sind, die es gibt, und in der der »Wille zur Macht« nur jene Macht meint, die Gefühle der anderen zu erschüttern, und nicht Macht, zu dem zu finden, was man vor sich selbst sein möchte, so WIE MAN IST – aber zu dem geworden, der

*

Manchmal bin ich trunken, überwältigt, wenn ich gewahr werde, wie potentiell unendlich meine Gedanken sind – ich halte inne, verzage angesichts all dieser Ideen, die sich abzeichnen, aufblitzen und wieder vergehen, so wie die riesige Anzahl der Schößlinge vergeht, um den Wald in seiner Seltenheit emporwachsen zu lassen – und das Schicksal trifft die Auswahl.

Diese unnütz wimmelnde, wogende Fülle, in der ich mich einen Augenblick lang verliere und die sich in demselben Augenblick eben dadurch verliert, daß ich mich darin verliere – ich gewinne ihr dennoch einen Gedanken ab (ich verliere eine Million und gewinne einen einzigen, den Gedanken dieses Verlierens), nämlich daß ich erkannt habe: In der unmittelbaren natürlichen Zeugung dieser Keime BLINDE NATUR. Ich denke an die Vielzahl der erzeugten Spermien oder Samenkörner, oder an das Getümmel der Atome und ihre Zusammenstöße. Nur ein Teil gelangt jeweils dazu, an die Wände des Gefäßes zu stoßen. Nur ein Teil – zu

*

Für mich bedeutet Liebe Rückkehr zu oder Wiederaneignung meiner als Lebewesen, Erinnerung an den Preis dieser Bedingtheit, Zustimmung zum Wirklichen, zum Trüben, zu einer außerhalb gelegenen Energiequelle. Sie setzt einen Schiffbruch voraus, in dem und durch den eine Planke, ein Balken, ein Floß mit einem Schlag zu einem entscheidenden Gegenstand werden. Sie ist auch die Erfahrung, einen Anderen wie ein Selbst wahrzunehmen und dort dasselbe Hindernis vorzufinden wie bei sich, dasselbe reale , dasselbe latente wie in sich.

*

Ich liebe irrsinnig – und plötzlich erlahmt das Interesse.

Ich war am Äußersten, und mit einem Mal spüre ich, daß in mir, gleich daneben, etwas ist, wodurch ich auf andere Gedanken komme.

Mitten durchs rasende Toben geht ein Strahl von Im Angesicht Gottes, im höchsten Himmel wandelt mich die Lust an, zu rauchen, der Wunsch, ruhig zu schlafen, Freude an den Dingen, mithin

Also

Unsere eigene Gleichgültigkeit überkommt uns inmitten unseres wahnwitzigen Eiferns und verblüfft und empört uns. – Mir wird deutlich, wieviel Leidenschaft in meinem Schrei war, das läßt mich erkalten, und diese Kälte wiederum schämt sich ihrer selbst. Man sehnt sich zurück nach jenem Maximum, das gerade war.

Etwas wird emporgehoben wie ein Korken. Die Fesseln des Lebendigen spannen sich zum...


Stölzel, Thomas
Thomas Stölzel ist als systemischer Therapeut und Berater, Philosophischer Praktiker und Coach, sowie als Autor, Herausgeber und Publizist tätig. Er lebt in Berlin.

Valéry, Paul
Paul Valéry, geboren am 30. Oktober 1871 in Sète, Languedoc-Roussillon, starb am 20. Juli 1945 in Paris. Er war ein französischer Lyriker, Philosoph und Essayist. Seine Gedichtsammlung ›Charme‹ wurde 1925 von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen. Zu seinen bekanntesten Werken gehören, neben den ›Cahiers‹, ›Monsieur Teste‹ und ›Mein Faust‹.

Paul ValéryPaul Valéry, geboren am 30. Oktober 1871 in Sète, Languedoc-Roussillon, starb am 20. Juli 1945 in Paris. Er war ein französischer Lyriker, Philosoph und Essayist. Seine Gedichtsammlung ›Charme‹ wurde 1925 von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen. Zu seinen bekanntesten Werken gehören, neben den ›Cahiers‹, ›Monsieur Teste‹ und ›Mein Faust‹.
Thomas StölzelThomas Stölzel ist als systemischer Therapeut und Berater, Philosophischer Praktiker und Coach, sowie als Autor, Herausgeber und Publizist tätig. Er lebt in Berlin.

Paul Valéry, geboren am 30. Oktober 1871 in Sète, Languedoc-Roussillon, starb am 20. Juli 1945 in Paris. Er war ein französischer Lyriker, Philosoph und Essayist. Seine Gedichtsammlung ›Charme‹ wurde 1925 von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen. Zu seinen bekanntesten Werken gehören, neben den ›Cahiers‹, ›Monsieur Teste‹ und ›Mein Faust‹.

Thomas Stölzel ist als systemischer Therapeut und Berater, Philosophischer Praktiker und Coach, sowie als Autor, Herausgeber und Publizist tätig. Er lebt in Berlin.



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