Varatharajah Vor der Zunahme der Zeichen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-403494-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-10-403494-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 erschien sein erster Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« im S. Fischer Verlag. Sein zweiter Roman »Rot (Hunger)« wurde 2022 veröffentlicht. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Varatharajah lebt in Berlin. Literaturpreise: - 3Sat-Preis bei den 38. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt - Kranichsteiner Literaturförderpreis 2016 - Bremer Literaturförderpreis 2017 - Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2017 - Rauriser Literaturpreis 2017
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Montag
Valmira Surroi 08:50
In einer Stunde beginnt mein letztes Seminar.
Valmira Surroi 09:00
Wir werden ein Gespräch mit einem führen, so steht es im Vorlesungsverzeichnis.
Valmira Surroi 09:13
Im Asylbewerberheim wurden jeden Montag gelbe Nahrungsmittelpakete verteilt. Als ich noch nicht die Schule besuchen durfte, holte ich sie morgens mit meinem Vater in der Gemeinschaftsküche ab, wo sie auf dem Fußboden übereinandergestapelt lagen, wie eine Pyramide. Die Tischdecke war blau mit weißen Punkten darauf, und ich erinnere mich daran, dass ich dachte, sie würde wie ein Kleid aussehen, das eine meiner Tanten besessen hatte, damals, in Prishtina. Wir warteten. Wir warteten im Eingangsbereich, ohne ein Wort zu sagen. Unser Zimmer lag im zweiten Stock neben einem vergitterten Fenster. Wir waren noch nicht lange hier in Deutschland. Auf der Rückseite des Kartons schrieb ich meinen Namen. Auch die Farbe des Filzstifts war gelb.
Senthil Vasuthevan 09:27
im asyllandheim begannen zeugen jehovas uns zu besuchen, in der ballung einer ausgestreckten hand. fünfzehn jahre sollten wir in ihrer mitte bleiben, in der , wie es in ihrer sprache hieß. sie wussten, dass asylbewerber auf jemanden angewiesen waren, der sie zur ausländerbehörde begleiten und ihre anträge übersetzen und ausfüllen konnte, auf jemanden, der weder schrie noch schwieg.
Senthil Vasuthevan 09:32
mein vater fing an, seine zeit mit einer schwester zu verbringen, die, von einem bruder aus der örtlichen versammlung begleitet, den wachtturm und erwachet, , wie schwester katharina sagte, jeden samstag in verschiedenen sprachen im asyllandheim verteilte. sie zeigte ihm aufgeschlagene seiten, durch einen rahmen und durch geteilte räume gereicht, glattes papier, mit zeichen bedruckt, die er monate zuvor bereits verlassen zu haben glaubte und die wiederkehrten, angekündigt von entschlossenem klopfen, an dieser tür. die wände waren dünn und mit filzstiften beschmiert. ich erinnere mich.
Senthil Vasuthevan 09:45
und sie legte ihm ein buch in die ungeduld seiner hände. schwarz, fast matt war der ledereinband, eine wortreihe darauf, körnig die gegerbte haut, in die eine vorhersage und ein versprechen, die , auf tamil eingestanzt war, eine prägung, die finger nachfuhren, allmählich; die schnittfläche war rot. zweimal wöchentlich, mittwochs und freitags, las er unter schwester katharinas anleitung die bibel, zunächst in der englischen übersetzung und auch später nicht auf deutsch; das , wie zeugen jehovas es nannten, fand in ihrer wohnung statt. er wartete vor dem zaun abseits des eingangs auf sie. als er an einem sonntag nach dem besuch des königreichssaals den aufgewellten linoleumbelag des zimmers betrat, in dem wir untergebracht waren, sah er seine frau auf einem stuhl vor dem offenen fenster stehen, im halbschatten des rückwärtigen raumes. aus eifersucht, sagte sie jahre später, wollte sie aus dem vierten stock fallen, damals, im fünften, vielleicht auch sechsten monat schwanger. ich schenkte ihren worten keinen glauben.
Valmira Surroi 10:12
Als sie das erste Mal kamen, hatten sie eine Packung Stifte dabei, die nach Farben geordnet waren, und einen weißen Plüschhasen, an dessem rechten Ohr ein kleiner Metallknopf steckte, eine gelbe Fahne mit rotem Schriftzug daran. Seine Augen waren braun. Meine Eltern saßen mit ihnen an dem kleinen Tisch, der in unserem Zimmer direkt am Fenster stand, und sie redeten mit meiner Tante und meinem Onkel in einer Sprache, von der ich nichts wusste außer einem Namen, , so hatte meine Mutter sie früher, als wir in Prishtina lebten, einmal genannt, und sie sagte ihn zweimal. Sie begleiteten uns zur Ausländerbehörde und füllten zusammen mit meinen Eltern unsere Anträge und Formulare aus. Ich erinnere mich nicht daran, wann ich genau damit anfing, sie und zu nennen.
Valmira Surroi 10:14
Erst vor kurzem erzählten mir meine Eltern, dass sie damals überlegt hatten, mich zur Adoption freizugeben.
Die Entscheidung über unseren Antrag stand noch aus.
Valmira Surroi 10:14
Er ist hier.
Valmira Surroi 11:58
Ismail wollte einen Brief verschicken. Er war an seinen ältesten Bruder adressiert, der zum türkischen Militärdienst einberufen wurde. Die Gendarmerie winkte den Bus heraus und kontrollierte die Passagiere. Bevor der Gendarm ihn mit einem Taschenmesser öffnete, habe er den Umschlag wie einen Schein gegen den Himmel gehalten. Als er ihn aufschnitt, sah er ihm in die Augen, und er sagte, es würde nicht lange dauern, es sei gleich vorbei. Ismail hatte den Brief auf Türkisch geschrieben, und ein oder zwei Sätze darin sollen in seiner Muttersprache Kurmandschi gestanden haben, er ist Kurde. Während er las, stand er vor ihm, und er habe den Boden betrachtet, und er beschrieb ihn, das wenige Gras in der Erde, auf dem er wartete und das noch feucht war vom Regen. Der Gendarm nahm seine Personalien auf. Er ließ ihn wieder gehen.
Valmira Surroi 12:02
Ismail sagte, dass es still im Klassenzimmer war, als sie ihn am nächsten Morgen holen kamen.
Sie klopften nicht an.
Er habe den Stift noch in der Hand gehalten.
Valmira Surroi 12:03
Eineinhalb Jahre saß er in einem ostanatolischen Gefängnis.
Sie brachen ihm vier Finger.
Valmira Surroi 12:05
Seit zehn Jahren betreibt er einen kleinen Imbiss in Gießen.
Valmira Surroi 12:12
Er zeigte uns den Brief, den er damals von der Ausländerbehörde geschickt bekommen hatte und in dem ihm die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis mitgeteilt worden war.
Valmira Surroi 12:16
Er sagte, er bewahre ihn zur Erinnerung auf.
Valmira Surroi 13:42
Ich erinnere mich an Prishtina, an unseren ersten Besuch seit der Flucht. Wir fuhren in einem roten Alfa Romeo, den unser Vater einen Monat zuvor in einem Zeitungsinserat gefunden hatte. Verwandte kannte ich nur noch aus Erzählungen und von Fotos, die früher, als wir im Heim wohnten, in einem Briefumschlag lagen. Sie waren zerknittert. In den letzten Tagen kurz vor den Sommerferien versuchte ich, jedem Gesicht einen Namen zuzuordnen. In unserer ersten Wohnung hier in Deutschland hing an der Wand über dem Sofa ein Bild mit der Familie meiner Mutter darauf, meine Großeltern mit ihren fünf Kindern, sie saßen an einem Tisch. Der Rahmen war aus Metall. Ich legte meinen Finger auf das Glas, und der Reihe nach nannte ich ihre Namen.
Valmira Surroi 13:49
Wir fuhren in eine Einfahrt und von hier aus konnte ich sehen, wie jemand am Fenster stand und auf die Straße sah. Mein Vater sagte, wir sollten uns zu erkennen geben, und meine Schwester presste ihr Gesicht an die Scheibe und mit beiden Händen begann sie zu klopfen. Sie fragten mich, ob ich mich noch an sie erinnern könne, an die Tante, die mir das Lesen und Haareflechten beigebracht, und an den Cousin, der aus Prizren kam und mir damals in unserer Küche gezeigt hatte, wie man die behaarten Zweige der Weißtanne zeichnet, ist ihr Name, und er wiederholte meinen drei- oder viermal. Sie küssten uns. Kein Gesicht ähnelte dem auf den Bildern.
Senthil Vasuthevan 14:23
ich erinnere mich an oslo, an unseren ersten besuch, april neunzehnhundertfünfundneunzig, mit meinen brüdern, mit unserer mutter. als mein cousin, ihr neffe, siebzehn jahre jünger als sie, die möblierte studentenwohnung schlüsseldrehend betrat, die er gemeinsam mit seiner schwester wenige wochen zuvor erst bezogen hatte, versteckte sie sich in einem winkel der küche, in der sie das abendessen zuzubereiten begann. zum ersten mal sollte sie ihn nach fünfzehn jahren wiedersehen, zum ersten mahl, seit sie beschlossen haben musste, die...




