E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Veenstra Unverblümt im Sommerwind
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24831-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-641-24831-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als sie dann das Tagebuch der im Jahr 1900 auf Föhr geborenen Teda entdeckt, ist sie nicht nur von deren abenteuerlicher Lebensgeschichte fasziniert. Langsam, aber sicher sieht sie auch ihr Vorhaben, Lügen zu lernen, damit andere sie mögen, in einem ganz anderen Licht.
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Mit kerzengeradem Rücken saß Judith auf der steinkalten Bank. Ihr Blick schweifte durch die hohen Wipfel der knorrigen, alten Bäume neben ihr. Durch die maibelaubten Äste konnte sie ein Stück Himmel sehen.
Von vorn war Kinderkreischen zu hören, von hinten das hektische Hupen der Busse, Klappern und Rufe der Müllmänner. Heute Abend waren die gelben Tonnen dran, was hieß, es lief nicht ganz so laut rumpelnd und schlecht gelaunt ab wie donnerstags während der Biomüllentsorgung. Judith verstand das: Je stinkiger, desto eiliger und lauter. Klar, oder?
Hier, ins Zentrum der grünen Oase, kamen Geräusche wie auch die grellen Straßenfarben glücklicherweise nur gedämpft an. Dieser Ort erinnerte Judith an Wälder, eine Lichtung und ließ sie an eine Zeit denken, bevor der kleine Friedhof mitten in die Stadt gerutscht war. Oder besser, bevor die Stadt nah und näher an ihn gekrochen war, um ihn in die Zange zu nehmen. Eine, die manchmal grellgelb in ihn hineindrückte und alarmrot an den Ecken fraß.
Judith wartete ein paar Herzschläge, bis das Vogelzwitschern und Ästeknarren wieder überhandnahm, und beugte sich zur Seite. »Also, wo waren wir?« Vorsichtig strich sie über den Grabstein neben sich, an dem ihr Koffer, ihr Rucksack und ein paar Jutetaschen lehnten. Adelgunde stand auf dem Stein, ein von, ein Nachname und Jahreszahlen, die so weit entfernt waren, dass nicht einmal das Leben von Judiths Eltern sie berührt hatte. Und darunter eingemeißelt: »Libera est«.
Frei ist sie.
Tot, aber frei? Tot und frei? Im Tode frei?
Judith wusste es nicht. Aber das Freisein an sich gefiel ihr. Adelgunde war endlich frei. So frei, dass Judith ihr Dinge erzählen und sich damit ebenfalls befreien konnte.
»Ich habe meinen Job verloren«, gestand sie leise, »schon wieder.«
Adelgunde reagierte nicht. Wie auch, sie lag hier schon viel länger, als Judith lebte, und schließlich war es genau das, was Judith bei ihr suchte: das Nicht-Reagieren und das Keine-blöden-Ratschläge-Geben, zu denen sich Lebende immer bemüßigt fühlten.
Natürlich wusste Judith, dass es auch diesmal ihre Schuld gewesen war. So wie bei ihrer Assistentenstelle an der Universität vor ein paar Jahren, im Museumsshop, dem Blumenladen oder aber in der Poster- und Postkartenabteilung des Kaufhauses. Auch diesmal war dem Debakel die Frage nach ihrer Meinung vorangegangen. Und ihre Meinung war irgendwie immer die falsche. Was daran lag, dass Judith eine offenbar wichtige Fähigkeit abging. Die Fähigkeit zu lügen. Sie verstand nicht einmal, was daran so erstrebenswert sein sollte.
»Keine Ahnung, wie ich das ändern soll«, seufzte sie. »Ich habe es wirklich versucht!« Erst hatte sie vorsichtshalber geschwiegen. Dann stumm den Kopf geschüttelt, aber als ihre Kundin das dritte Mal nachgefasst hatte, war Judith um eine Reaktion nicht mehr herumgekommen. Ja, die Hose war ein Designerstück und etwas Besonderes, hatte sie also gesagt. Ja, der Preis ein echtes Schnäppchen. Aber: Nein, leider stand sie der viel zu schmalhüftigen Frau nicht besonders.
Dass exakt in diesem Moment die Besitzerin des Vintage-Kleidungsladens hineinkommen würde, hätte sich Judith bei ihrem Glück auch denken können. Einmal mehr hatte sie sich angehört, dass Ehrlichkeit zwar eine Tugend, aber nicht gerade verkaufsfördernd sei. Was wiederum Judiths Aufgabe war … oder besser gewesen war.
»Das Gehalt für diese Woche zahle ich dir noch, aber kommen musst du morgen nicht mehr«, hatte ihre Chefin geseufzt. Im Gegensatz zu Judiths letzten Arbeitsstellen oder ihrer Assistentenstelle am Institut für Kunstgeschichte war das geschenkte Wochengehalt ein Fortschritt.
Gereicht allerdings hatte es nicht. Ihre Mitbewohner hatten ihr schon das letzte Mal erklärt, dass sie Judith nicht noch einmal die Miete ihres möblierten Zimmers stunden würden, bis sie endlich einen neuen Job gefunden hatte. Weshalb sie auch diesmal stumm dabei zugesehen hatten, wie Judith ihre Sachen zusammengerafft hatte. Warum das Unvermeidliche länger herauszögern? Mitleidig hatten sie ihr Proviant eingepackt und einen Ratschlag mit auf den Weg gegeben – denselben, den Judith schon so oft gehört hatte, dass es für dieses Leben reichte und für ihr nächstes gleich mit: »Am besten, du suchst dir als Nächstes was, bei dem du nicht so viel mit Menschen zu tun hast.«
Judith warf einen Blick auf ihre Siebensachen – oder besser, ihre Fünfsachen – hinter Adelgundes Grabstein und ließ sich erschöpft auf die Bank zurücksinken. »Vielleicht hatte Paul recht, und ich bin wirklich nicht kompatibel?«, murmelte sie. Ihre Eltern hatten sie speziell genannt und immer Das wird schon noch gesagt. Paul aber war der Meinung gewesen, wer kein Blatt vor den Mund nahm, müsse auch selbst mit der harten Wahrheit umgehen können.
Das Blatt vor dem Mund hatte Judith immer für einen dämlichen Vergleich gehalten, als bräuchte sie nur ein bisschen Zellulose, um Tatsachen in etwas für andere Menschen Erträglicheres umzuwandeln – eine Veritassynthese sozusagen.
Judith unterdrückte ein Lächeln. Dann wurde sie wieder ernst. Denn Paul hatte vermutlich besser über sie Bescheid gewusst als ihre Eltern, ihre Chefs und sogar sie selbst. Er nämlich hatte sämtliche zwischenmenschliche Regeln beherrscht, Regeln, über die Judith immer wieder stolperte und die er ihr versucht hatte beizubringen.
»So schwierig ist das doch nicht«, hatte er gemeint und Listen gemacht. Letztendlich ging es nur darum, dass Judith ihre erste Reaktion unterdrückte und sich stattdessen darüber Gedanken machte, was andere gerne hören wollten. Mit Ehrlichkeit gewinnst du nichts, hatte er ihr auf eine Karteikarte geschrieben und an den Kühlschrank geheftet. Auf »Wie geht’s?« erwartet niemand eine ehrliche Antwort auf eine andere und dann noch: Wenn du nicht weiterweißt, mach deinem Gegenüber ein Kompliment!
Geholfen hatte es nicht. Selbst als Judith damit begonnen hatte, Paul ein Kompliment nach dem anderen zu machen.
Nun waren sie schon einige Jahre kein Paar mehr, und manchmal fragte sich Judith, weshalb er erst angefangen hatte, ihr helfen zu wollen, nachdem sie ihren Professor auf die fachlichen Mängel seiner letzten Veröffentlichung hingewiesen hatte. Nachdem diesem der Kragen geplatzt war und Paul plötzlich Judiths Stelle an der Uni innehatte. Nachdem Judith also dank ihres vorschnellen Mundwerks ihre Promotion in den Sand gesetzt hatte, wie Paul es formuliert hatte.
Noch so ein blödes Bild. Dass etwas, das auf Sand gebaut war, nicht lange hielt, war logisch. Etwas aber in den Sand setzen – wieso war das negativ? Es gab fast nichts Netteres, als im Sand zu sitzen, vor sich das immer gleiche und doch nie dasselbe Meer.
Aber weil Judith zu sich selbst ebenso ehrlich war wie zu anderen, wusste sie auch, dass das zwischen Paul und ihr von Anfang an seltsam gewesen war, in Schräglage eben. Oder besser: auf Sand gebaut. Bei ihm jedenfalls würde sie nach all der Zeit nun sicher nicht unterkriechen!
»Ich weiß nicht mal genau, ob ich ihn überhaupt mochte«, vertraute sie Adelgunde an. »Müsste man seinen Freund nicht mögen?« Zumindest aber hatte sie mal einen gehabt – einen Freund – und das war … interessant gewesen. Interessant und anstrengend. Weil Paul zunehmend fand, Judith sollte dank seiner Hilfe auch Ungesagtes spüren: zum Beispiel, dass ein »Wenn du es unbedingt so willst« eigentlich ein »Ich möchte es aber anders« bedeutete.
Aber nun gut. Das war ja auch mit ein Grund, weshalb sie nun neben Adelgunde saß und hier völlig richtig war. Irgendwer hatte dieser ein Endlich ist sie frei auf den Grabstein gemeißelt, was ebenfalls nicht wirklich für eine gelungene, lebenslange Zweierbeziehung sprach, oder? Judith und Adelgunde passten also vielleicht besser zusammen als Beziehungen mit Freiheit?
»Ich vermute«, Judith beugte sich in Richtung des verwitternden Steins, »beides geht nicht. Entweder du bist du selbst und frei oder zu zweit.«
Es blieb still, Adelgunde teilte keine leichtfertigen Worte und Ratschläge. Judith lehnte sich zurück an die kühle Steinbank, die nicht dazu gemacht war, lange zu bleiben.
Da räusperte sich jemand nahe an ihrem linken Ohr. »Frollein?« Den Friedhofswärter hatte Judith in den letzten Wochen oft von Weitem gesehen. Jetzt aber beugte er sich über sie. »Wir machen Feierabend. Um achtzehn Uhr schließen wir den Friedhof, damit hier niemand … übernachtet.« Er besah sich stirnrunzelnd ihr Gepäck. »Haben Sie einen Platz zum Bleiben?«
Judith legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf. Sein sorgenvoll zerknittertes Gesicht vor den leise wippenden Baumkronen wirkte bedrückt, als täte es ihm leid, sie hinauszuwerfen.
Aber da Feierabend eben Feierabend war und Friedhofswärter Friedhofswärter, stand sie niedergeschlagen auf. »Noch nicht«, beantwortete sie seine Frage und ließ die Schultern hängen. »Deshalb bin ich ja hier.« Hier konnte sie am besten nachdenken – über ihre Eltern, den Job und Paul, über alles Verlorene eben. Denn wo konnte man Verlorenes besser verstehen und entscheiden, wohin mit sich, als auf einem Friedhof?
»Tut mir leid. Aber ich kann keine Ausnahme machen. Vielleicht versuchen Sie es mal im Hostel? Die haben auch einen Schlafsaal … Bei uns ist es nachts weder besonders warm noch bequem.«
Judith lächelte schräg. »Dafür aber sicher stiller.«
Der Schlafsaal war fürs Erste gar keine schlechte...




