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E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Vercher Umnachtet

Kriminalroman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910918-31-3
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-910918-31-3
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Xavier 'Scarecrow' Wallace, ein MMA-Kämpfer jenseits der Dreißig, steht vor dem Kampf seines Lebens. Allerdings kann er nicht länger leugnen, dass er seinen Kampf gegen die chronisch-traumatische Enzephalopathie, bekannt als Boxerdemenz, allmählich verliert. Im Nebel von Gedächtnisverlust, Migräne und Paranoia tut Xavier alles, um in Form zu bleiben, als ein Anruf kommt, der ihn wieder in den Ring schickt. Er trainiert in einem Fitnessstudio Jugendliche und wohnt mietfrei im Haus seines weißen Vaters, den er aufgrund einer fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung in ein Pflegeheim einweisen musste. Die Demenz hat seinen latenten Rassismus offenbart, und Xavier erfährt endlich, warum seine schwarze Mutter die Familie verließ, als er noch klein war.

Bevor er seine Karriere als Schriftsteller begann, war Alan Parks Creative Director bei London Records und Warner Music, wo er Künstler wie All Saints, New Order und The Streets vermarktete und betreute. Seine Liebe zur Musik spiegelt sich in seinen preisgekrönten Krimis wider, die von der Atmosphäre der 1970er Jahre durchdrungen sind. Parks wurde in Schottland geboren, erwarb einen M.A. in Moralphilosophie an der Universität von Glasgow und lebt dort.
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Grand Champ


Der Hund zitterte, obwohl die Haut unter seinem Fell glühte. Xaviers Shirt wurde schweißnass, als er ihn das kurze Stück bis zur hinteren Veranda trug. Während er mit einer Hand nach dem Knauf des Fliegengitters tastete, drückte er den Hund noch fester an sich. Er hörte ein Geräusch und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ray, der Nachbar seines Vaters – und somit jetzt auch Xaviers – saß auf der Veranda seines Hauses. Demonstrativ blätterte er eine Seite in seiner Zeitung um, als würde er sich nur um seinen eigenen Kram scheren, was ganz sicher nicht stimmte.

Zum ersten Mal hatte Xavier den Nachbarn nach einem Besuch im Supermarkt gesehen. Xavier hatte Medikamente für seinen Vater geholt und einen Vorrat an Fertiggerichten und Diät-Limos mitgebracht. Ray hatte im Vorgarten Laub geharkt, und Xavier hatte ihm zur Begrüßung zugewunken. Die weiße MAGA-Aufschrift auf der roten Basecap, die Ray über der beginnenden Glatze trug, hatte er da noch nicht bemerkt. Doch das Käppi war Xavier ins volle Bewusstsein gerückt, als Ray ihn mit dreistem Selbstverständnis fragte, ob er denn in der Straße wohne. Xavier hatte schmallippig gelächelt, so wie er es sich über die Jahrzehnte angewöhnt hatte, in denen ihm Aberhunderte von Rays ähnliche Fragen gestellt hatten; es war die Maske, hinter der er sich versteckte, wenn er niemandem eine Erklärung schuldete, diese aber trotzdem von ihm erwartet wurde.

Er sei Sam Wallaces Sohn, hatte er Ray erklärt. Im Gesicht des anderen hatte sich eine Mischung aus Erstaunen und Enttäuschung abgezeichnet. Ob der Gesichtsausdruck aus der Erkenntnis herrührte, dass der Sohn seines Nachbarn schwarz war oder dass Ray nun keinen triftigen Grund mehr hatte, die Polizei zu rufen, hatte Xavier nicht einschätzen können. Aber darauf kam es ohnehin nicht an. Wegen der schweren Einkaufstüten hatte Xavier die Schlüssel nicht gleich zur Hand gehabt und es dann auch noch zweimal mit dem falschen versucht, bevor er, in dem vollen Bewusstsein, dass Ray ihn die ganze Zeit anstarrte, den richtigen fand, aufschloss und hineinging. Drinnen hatte er sich vorgestellt, wie Ray etwas auf Rassistisch grummelte, ebenfalls in sein Haus ging und dann durch die Jalousien spähte, die er gerade so weit auseinanderschob, dass er erkennen konnte, welches schwarze Unwesen Xavier nebenan mit aller Wahrscheinlichkeit trieb.

»Wehe, das Viech scheißt mir auf den Rasen«, rief Ray jetzt. Den zitternden Hund noch fester an sich drückend, langte Xavier mit der freien Hand am Türknauf vorbei. Seine Arme brannten vor Anstrengung. Er verlagerte das Gewicht des Tieres, drückte mit dem Daumen auf den Entsperrer am Knauf. Ray schlug die Zeitung zu. »Oder einem anderen Nachbarn. Das hier ist eine anständige, saubere Gegend. Und ich will nach zwanzig Uhr nicht mal ein Gewinsel hören. Wir haben hier nämlich feste Ruhezeiten, nur damit Sie es wissen.«

Xavier lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und drückte sie ins Schloss. Obwohl ihm jetzt das Publikum fehlte, setzte Ray die Tirade fort. Xavier ging ins Schlafzimmer, gleich links neben der Hintertür. Ohne den Hund abzusetzen, zog er das Laken von der Matratze und schleifte es in die Küche. Dort schob er es mit einem Fuß zu einem Behelfsbett zusammen und legte den Hund behutsam ab. Aus einem Hängeschrank nahm er eine Schüssel und füllte sie mit kaltem Wasser. Er platzierte sie neben der Schnauze des Hundes, bevor er sich vor ihm auf den Boden legte, sodass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Der Hund blähte die trockenen Nasenlöcher auf, kämpfte mit jedem Atemzug. Er hob eine Augenbraue, dann die andere, während er auf die Wasserschüssel, zu Xavier und wieder zurück schaute. Sein Blick löcherte Xavier mit Fragen, wollte wissen, warum er es getan hatte. Xavier hörte die ungestellten Fragen, die ein Echo seiner eigenen waren, doch die Antworten waren von der Tafel gewischt worden wie so viele in letzter Zeit.

Gestern war, im Verhältnis gesehen, einer von Sams besseren Tagen im Seniorenheim gewesen. Die Woche über hatte Xavier ihn nicht so oft besuchen können, wie er es gewollt hätte – oder es zu wollen seinem Vater gegenüber behauptete. Denn jetzt, da sich seine Wettkampfsperre dem Ende neigte, hatte Xavier seine Trainingsfrequenz gesteigert, um für jeden noch so kurzfristig angesetzten Fight bereit zu sein, auch wenn die Chancen darauf wegen der Umstände seiner Sperre wohl eher gering waren. Wenigstens hatte der Promoter ihm das so gesagt. In Form bleiben musste er natürlich trotzdem. Unvorbereitet zu sein, wenn der Anruf kam, war ein Luxus, den sich nur Kämpfer unter Vertrag leisten konnten. Und wenn er Pop dann seltener besuchen konnte, ließ sich das eben nicht vermeiden. Seinen körperlichen und geistigen Verfall mitzuerleben, war schlimm. Nicht dabei zu sein, machte es erträglicher.

Natürlich gab es auch Tage, an denen Xavier den Besuch im Pflegeheim schlicht vergaß – und solche, an denen er vergaß, dass er es vergaß. Gestern war keiner dieser Tage gewesen.

Als er nun dem Hund gegenüberlag, fiel ihm ein, dass er daran gedacht hatte, an der Familienkonferenz mit Sams Pflegekoordinatoren teilzunehmen. Wie die Therapeuten und Pflegerinnen Xavier erklärt hatten, hatte sich Sams COPD weiter verschlechtert. Weil er wegen seiner Demenz aber zu Nervosität und Reizbarkeit neigte, zog er sich immer wieder die Nasenkanüle heraus, was dann schnell zu Hypoxie führte. Als Xavier erwiderte, er habe nur die Hälfte verstanden und bräuchte für die andere einen Übersetzer, hatte eine Frau aus dem Team erklärt, sein Vater würde von allein immer schlechter atmen können, sich wegen der Symptome seiner Alzheimer-Erkrankung aber immer wieder den Sauerstoffschlauch aus der Nase ziehen. Wenn ihm die Pfleger helfen wollten, wehrte er sich. Sie konnten ihm die Nasenbrille erst wieder aufsetzen, wenn er wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden war.

Und als hätte das nicht schon gereicht, hatten sie Xavier dann auch noch erklärt, dass sein Vater seinem Mitbewohner gegenüber verbal ausfallend geworden war, denn anscheinend konnte Sam sich nicht daran erinnern (und es auch nicht begreifen), dass ihm kein Einzelzimmer mehr zustand, seit sich seine finanziellen Mittel erschöpft hatten. Das alles wurde vorgetragen mit einstudiertem Mitleid, aber unter die Höflichkeit in ihren Stimmen mischte sich Ermüdung, weil sie es offenbar leid waren, immer nur schlechte Nachrichten überbringen zu müssen.

Xavier hatte die Hände auf dem Tisch übereinandergelegt und den Kopf hängen lassen. »Ich richte sein Haus gerade her, damit ich es auf den Markt bringen kann. Der Erlös sollte doch für ein Einzelzimmer reichen, oder?« Die Pflegerinnen und Therapeuten wechselten Blicke. »Was? So teuer kann es doch nicht sein.«

»Darum geht's nicht«, sagte die Sozialarbeiterin. »Das heißt, ja, es kann ziemlich teuer sein, aber das ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht der Hauptgrund.«

»Sondern?«

»Er war nicht nur seinem Mitbewohner gegenüber ausfallend. Einige unser Mitarbeiter haben sich ebenfalls beschwert.«

Langsam hatte Xavier genug von den Andeutungen. »Das tut mir ausgesprochen leid. Aber er ist nun mal nicht mehr der Jüngste. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber könnten Sie nicht einfach …«

»Er hat einige unserer Schwestern rassistisch beleidigt«, sagte die Pflegedirektorin. Sie war eine schlanke schwarze Frau mit kurzen, grau durchwirkten Haaren. Die Hände auf dem Tisch gefaltet, saß sie kerzengerade auf ihrem Stuhl. Dass ihre weißen Kollegen nun unbewegt auf ihre Notizblöcke starrten, verriet Xavier, dass diese Frau es sich längst abgewöhnt hatte, sich den anderen gegenüber als einzige Schwarze im Raum zurückhaltend zu benehmen. Xavier dachte an seine Mutter und fühlte sich mit der Frau verbunden und gleichzeitig von ihr abgelehnt.

»Ja, nein, das macht doch keinen Sinn.« Xavier spähte zum Namensschild der Frau. »Mrs Thomas. Sind Sie sicher, dass Sie oder Ihre Kollegen sich nicht verhört haben? Ich meine, schauen Sie mich an.«

»Leider hat sich da niemand verhört, Mr Wallace. Ich weiß, Sie machen eine schlimme Zeit durch, und bestimmt gibt es Dinge, die Sie nur schwer akzeptieren können.«

»Okay, weil hier ja offenbar niemand Tacheles reden will, spreche ich es mal aus: Sie wollen mir sagen, dass ich mich damit abfinden soll, dass mein Vater, der mit einer Schwarzen verheiratet war und seinen schwarzen Sohn liebt, eigentlich ein Rassist ist, und dass sein wahres Ich durch den Alzheimer endlich zum Vorschein kommt? Habe ich das richtig verstanden? Merken Sie nicht selber, wie lächerlich das klingt?«

Bis auf Mrs Thomas rutschten alle unruhig hin und her, schoben Papiere auf dem Tisch zurecht, räusperten sich. Mrs Thomas schaute Xavier weiterhin ruhig, aber durchdringend an. Ihr Blick entwaffnete ihn. Sie sagte nichts, und unter dem Gewicht ihres Schweigens senkte Xavier den Blick. Ihr unausgesprochener Tadel nahm seiner Wut den Wind aus den Segeln. Reumütig brach er das Schweigen.

»Schicken Sie ihn jetzt weg?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete die Sozialarbeiterin. »Also, wenigstens jetzt noch nicht.«

Mrs Thomas schüttelte wegen der zweideutigen Aussage der Kollegin den Kopf. »Mr Wallace, wir können hier keine Betreuung für fortgeschrittene Demenz anbieten. Wenn sich der Zustand Ihres Vaters weiterhin so rasch verschlechtert und er zu einer Gefahr für sich und unsere Mitarbeiter wird, dann werden wir uns gemeinsam nach einer Einrichtung umsehen müssen, wo man sich besser...



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