Vesper / Schaefer | Lichtspiele | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Vesper / Schaefer Lichtspiele

Essays und Berichte
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7317-6233-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays und Berichte

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6233-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach Guntram Vespers Jahrhundertroman »Frohburg« erschienen mit »Nördlich der Liebe und südlich des Hasses« die Prosa und mit »Tieflandsbucht« die Gedichte des Autors bei Schöffling & Co. Seine gesammelten Aufsätze ergänzen nun unter dem Titel »Lichtspiele«. Essays und Berichte die Werkausgabe dieses so bedeutenden Schriftstellers. Den Kern des Bandes bildet die 1992 erschienene Auswahl Lichtversuche Dunkelkammer, in der Vesper eine Bilanz seiner bis dato entstandenen essayistischen Arbeit zieht. Ergänzt wird dies insbesondere um nach 1992 publizierte Essays, vor allem aus der, vom Frohburg-Erfolg ausgelöst, besonders regen späten Schaffensphase.Der von Thomas Schaefer herausgegebene Band mit einem Nachwort von Andreas Platthaus versammelt Texte rund um das Schreiben, Geschichte(n), Orte, Porträts und Bücher und bezeugt den hellwachen, neugierigen Geist des 2020 verstorbenen Guntram Vesper.

1941 in der sa?chsischen Kleinstadt Frohburg geboren, kam 1957 über Berlin in die Bundesrepublik. 1967 las er auf der letzten Tagung der Gruppe 47. Sein umfangreiches Werk umfasst Prosa, Gedichte, Essays und Ho?rspiele. Für sein Opus magnum Frohburg erhielt Guntram Vesper den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik und den Erich-Loest-Preis. Guntram Vesper starb 2020 in Go?ttingen.
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Eingeladen, meiner Hinrichtung beizuwohnen

Eines alltäglichen Junimorgens liegt ein Brief im Kasten, aus Berlin oder München: Hans Werner Richter hat dir geschrieben. Du liest die zehn, allenfalls fünfzehn handschriftlichen Worte: Wenn Sie lesen wollen, hier die Einladung. Schreiben Sie, ob Sie wollen oder nicht. Du greifst zur Zeitung und willst deinen Morgenkaffee fortsetzen, aber du kommst nicht recht zur Ruhe, untersuchst das Kuvert und findest einen bunten Prospekt: Gasthof und Pension Pulvermühle, Waischenfeld, Fränkische Schweiz. Du schaust dir auch das Foto an: solide Gebäude aus deutscher Feudalzeit, in denen wirst du also drei Tage zubringen, wie. Aber als du auf der Rückseite des Zettels Verse findest, wächst deine Zuversicht, auch der Wirt ist ein Dichter: hast du satt das Weltgewühle, / dann reise in die Pulvermühle / hier kann der Gast in frohen Stunden, / als Mensch in der Natur gesunden, schreibt da der Kaspar Bezold. Die Interpunktion will dir altfränkisch erscheinen. Du ziehst die Hülle von der Olivetti und bittest gruppenerfahrene Bekannte um Rat und Tat. Innerhalb einer Woche weißt du dann, daß du Prosatexte, besser Gedichte, am besten beides oder am allerbesten gar nichts vorliest, daß du zurückhaltend auftreten sollst, nein auf den Putz hauen, am besten gar nicht hinfahren. Und du fragst dich: bei welcher Gruppe war denn der, und wo hat eigentlich der vorgelesen. Alle dagegen sagen dir: die Kosten trägt jeder selbst. Und gleich machst du dich auf den Weg, willst hundert Mark borgen, so viel, schätzt du, wird ein Debüt kosten. Und es stimmt.

Dann ist es soweit, der fünfte Oktober ist angebrochen: ein windiger Donnerstag, weiß Gott. Ich habe lange geschlafen, jetzt stopfe ich den Schlafanzug in die neue Reisetasche, Wildbison, sagte der Verkäufer, das hält ein Leben lang; seis drum, in Waischenfeld beginnt die Amortisation. Ich nehme die Manuskripte vom Schreibtisch, ich habe mich nun doch für Gedichte entschieden, habe in zwei Tagen fünfzehn gruppenfeste Stücke geschrieben, wie immer wars fünf vor zwölf, als ich anfing. Nach dem Mittagessen eile ich im geborgten Opel Rekord Baujahr dreiundsechzig der Autobahn zu, biege mit quietschenden Reifen in die Auffahrt ein und fange auch schon an, die Lastwagen nach rechts zu pflügen: eine Wohltat die Lichthupe. Ich durchmesse germanische und andere Kernlande, herbstliche Wälder, Spessart und was weiß ich; von hier ist mancher aufgebrochen: Ostland, Westmark, Nordmark, Tripolis, jetzt bin ich an der Reihe und am Drükker. In der Raststätte Würzburg einen Kaffee, schnell schnell, es dämmert, und Grass ist vielleicht vor mir da. Später dann ist für mich die Autobahn zu Ende, Forchheim kommt in Sicht, wird umfahren; überall gleich, diese Stadtränder, mittelgroße Betriebe, Hitler-Siedlungen, Tanklager, Gasometer, hier hat die Zivilisation sich übergeben. Ich säge mich in Täler, weiß die Straßen von Bächen begleitet, von überhängenden Felsen bedroht: vorwärts vorwärts, Goethe jedenfalls war langsamer gen Italien. Anscheinend komme ich dem Ziel näher; vor mir fährt ein Ford aus München, hält an jedem Einzelgehöft, sucht auch die Pulvermühle. Endlich hängt eine Leuchtreklame in den Bäumen, führt eine Bohlenbrücke nach rechts und ins wahrhaft Ungewisse, drauf ein breitschultriger Mann, in der Hand ein Schild: Gaststättenbetrieb geschlossen. Er will mich nicht passieren lassen, Soldat an der Wisent; durchs aufgekurbelte Fenster wird er besiegt, mit stählernem Blick und schnarrender Stimme kommst du auch in der Provinz voran. Ich rangiere zwischen einen Citroën aus Frankfurt, Unseld von Suhrkamp, wie ich später erfahren werde, und einen R 4, Rolf Haufs aus Berlin. Ich komme in die Pulvermühle, rechts steht die Theke, im Hintergrund tut sich ein weiter Raum auf; Grass, das erkenne ich bald, war nun doch vor mir da, er ißt schon Abendbrot; Härtling trinkt Bier, Walser gestikuliert, Lettau schweigt, noch. Hinter einem Tisch hat sich Hans Werner Richter, aus Bansin auf Usedom gebürtig, wo ich mal sechs Wochen im Zeltlager gewesen bin, verschanzt; er trägt braune Haut aus Samarkand und Freundlichkeit unter die Leute, nebenbei verteilt er die Zimmer. Ich stelle mich vor, aha der, wird er denken, so sieht der also aus, naja. Mit Auto, fragt er. Ja, sage ich. Einzelzimmer, fragt er weiter. Ja. Nachts, denke ich, löst sich die Gruppe wohl auf, da will auch ich meine Ruhe haben. Dann also Gasthof Sonne unten im Ort. Prima, sage ich und fädle mich gleich drauf aus der Lücke zwischen Unseld und Haufs. Die Sonne ist alt, so alt müßte eigentlich verboten sein: aber dann doch wieder recht gemütlich das Zimmer Nummer eins, die Bauernstube, die ich beziehe.

Abendessen in der Pulvermühle: setzen Sie sich hin, wo Platz ist, sagt Hans Werner Richter und gibt mir einen aufmunternden Stoß. Blindlings gerate ich an den Tisch mit dem gewesenen Preisträger vom letzten Mal, bacchantisch Peter Bichsel, und dem kommenden von diesem Mal, Jürgen Becker; aber der weiß noch nichts von seinem Glück. Ich esse gekochten Schinken und trinke Bier, bitter bitter, und alles dann: teuer teuer. Bekannte Gesichter heben sich ab: Hans Bender lächelt, Karsunke vom kürbiskern aus München begrüßt mich, ich sprech mit Tsakiridis. Es wird spät. Nachts schrecke ich aus dem Schlaf, ich habe geträumt, der Gang sei nicht drin gewesen und das Auto vom Parkplatz in die Wisent gerollt. Ich träume sonst nie.

Freitag morgen gegen zehn versammelt sich alles im großen Saal: Schriftsteller, Dichterfrauen, Journalisten und Hunde. Nur die Leute vom Fernsehen müssen auf dem Hof bleiben. Richter sitzt unter Girlanden und bunten Glühbirnen vom letzten Tanzabend vor dem Podium; zu seiner Rechten schweigt der sogenannte elektrische Stuhl, er wird auch später nie knarren. Dann hebt das Ballett der Debütanten, Arrivierten, Geheimtips, der Verlegerschaustücke und Streber an, wird mittags kurz unterbrochen, setzt sich bis zum Abend fort; viel wird einem zugemutet, man nimmt es hin, und gerne. In der Magengegend ein flaues Gefühl: vegetatives Nervensystem, die massenhaften Zigaretten. Du weißt nicht, wann du aufgerufen wirst, du wartest, es bekommt dir nicht, aber du hast es so gewollt, hast hundert Mark angelegt, also bleib sitzen.

Anderntags konzentrierst du dich am besten auf die Texte. Die Namen sind bekannter, die Texte farbiger, die Lesungen geschulter geworden. Zwischendurch wird die Resolution gegen Springer diskutiert. Hundert Schriftsteller verderben den Text, achtzig unterschreiben. Als der Schwede Gustafsson in seiner Erzählung gerade den Falken loslassen will, wem ist Bakunin wohl im Zug begegnet, ich werde es nie erfahren, denn zur gleichen Zeit drängen sich Marschmusik, Lautsprecherworte in jedermanns Ohren: Unruhe im Saal. Man dreht den Kopf zur Tür, auf geht sie, herein tritt der große kleine Augstein. Lachen, Entspannung, Augstein setzt sich, Gustafsson will fortfahren. Auf geht die Tür ein zweites Mal. Ein Fremder. Einer, der nicht dazugehört, jung, dick. Mit ernstem Gesicht geht er durch den Mittelgang, um den Hals ein Schild: hier tagt die Familie Saubermann. Richter geleitet ihn hinaus, Luftballons platzen. Die Gruppe tröpfelt auf den Hof. Wir sehen uns dem SDS gegenüber, kubanische Konfrontation, aber wer ist wer. Die fremden Freunde fordern: Preis der Gruppe für Hans Günter Wallraff, verkünden: lieber tot als Höllerer, verlangen: Resolution gegen Springer. Lettau verliest vor dem Mikro unseren Text: Genossen! Der SDS zeigt sich betroffen, faßt sich dann, einer ruft durchs Megafon: so ganz befriedigt uns das doch nicht. Aber die Dichter haben ihre Arbeit getan. Mögen jene sie fortsetzen. Rückzug ins Haus, allgemeines Kaffeetrinken im Wintergarten, wer Lust hat, kann sehen, wie im Garten Bild-Zeitungen verbrannt werden.

Das Fest zum zwanzigsten Jahrestag der Gruppenbildung findet uns vier Stunden später alle wieder im Saal; eine Beat-Band macht aus uns etwas, das könnte auch ein Kegel-, Schützen-, Taubenzüchterverein sein. Augstein trinkt viel Bier, Walser ist von der Politik noch nicht losgekommen, wieso auch. Grass hat seinen Ärger über Lettau vergessen und tanzt Shake, Hans Werner Richter ist auch hier die Seele vonnet Jantse, Erich Fried eilt, Papier unter dem Arm, von Tisch zu Tisch, und Reich-Ranicki lacht diabolisch. Es dauert dies bis zum Morgen; man hat sich privatisiert, Literatur ist erst anderntags, sonntags, wieder gefragt.

Du hast verschlafen und hastig gefrühstückt und wärst beinahe im Auto geblieben, weils keinen Parkplatz mehr gab und: heute passiert es. Aber dann sitzt du doch auf dem harten Stuhl in der Reihe, schon wieder eine Zigarette in der Hand, warum auch nicht, hast doch Quadronal genommen. Und Hans Werner Richter nickt lächelnd in deine Richtung, du denkst, er meint Walser schräg hinter dir, aber nein: dich.

Also doch. Ich stehe auf und gehe die Gasse lang, in der Jackentasche die Gedichte; sechs zu lesen, ist mir gesagt worden, sei vornehm. Ich lese fünf. Das erste Stück schließt mit der Zeile: hier lebte Marx für Historiker und Biografen; die Weiche muß eingangs gestellt werden, finde ich. Einmal glaube ich, eine Zeile ausgelassen zu haben. Schließlich bin ich am Ende. Hans Werner Richter fordert zur Diskussion auf. Schweigen. Das, denke ich, kann mir als Schlimmstes begegnen. Vorgekommen ist es auf dieser Tagung öfter. Fried bittet um nochmaliges Lesen. Ich lese. Fried lobt. Rühmkorf lobt, Höllerer lobt, Karsunke lobt: kluge Sachen werden gesagt, die ich, dort vorn neben Richter sitzend, nicht verstehe und auch nicht behalten habe. Aber schon meldet sich Grass und findet schlecht, daß ich vorher wisse, was ich schreiben wolle; Reich-Ranicki, mir direkt gegenüber, meldet sich...


Vesper, Guntram
1941 in der sa¨chsischen Kleinstadt Frohburg geboren, kam 1957 über Berlin in die Bundesrepublik. 1967 las er auf der letzten Tagung der Gruppe 47. Sein umfangreiches Werk umfasst Prosa, Gedichte, Essays und Ho¨rspiele. Für sein Opus magnum Frohburg erhielt Guntram Vesper den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik und den Erich-Loest-Preis. Guntram Vesper starb 2020 in Go¨ttingen.

Schaefer, Thomas
geboren 1959, lebt als Lektor, Korrektor, Autor, Rezensent in Go¨ttingen. Diverse Buchvero¨ffentlichungen als Herausgeber, zuletzt des Bandes Literarische Hochkomik bei der edition text + kritik. Mit Guntram Vesper, über dessen Werk er zahlreiche Artikel verfasst hat, verband ihn eine langja¨hrige Freundschaft.

Platthaus, Andreas
geboren 1966, studierte Rhetorik, Philosophie und Geschichte. Er ist verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Guntram Vesper, 1941 in der sächsischen Kleinstadt Frohburg geboren, kam 1957 über Berlin in die Bundesrepublik. 1967 las er auf der letzten Tagung der Gruppe 47. Sein umfangreiches Werk umfasst Prosa, Gedichte, Essays und Hörspiele. Für sein Opus magnum »Frohburg« erhielt Guntram Vesper den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik und den Erich-Loest-Preis. Guntram Vesper starb 2020 in Göttingen.Thomas Schaefer,geboren 1959, lebt als Lektor, Korrektor, Autor, Rezensent in Göttingen. Diverse Buchveröffentlichungen als Herausgeber, zuletzt des Bandes Literarische Hochkomik bei der edition text + kritik. Mit Guntram Vesper, über dessen Werk er zahlreiche Artikel verfasst hat, verband ihn eine langjährige Freundschaft.Andreas Platthaus,geboren 1966, studierte Rhetorik, Philosophie und Geschichte. Er ist verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.



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