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E-Book, Deutsch, Band 313, 512 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

Viertel Das unbelehrbare Herz

Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts
2. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8477-5313-1
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts

E-Book, Deutsch, Band 313, 512 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

ISBN: 978-3-8477-5313-1
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Einer der Quelltexte der Exilforschung des 20. Jahrhunderts*'Salkaherz' - ein Genie der Freundschaft im kalifornischen Exil

*Wie aus einem Künstlerlexikon zur ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lesen sich die Namen der Freunde, die Salomea Steuermann, von allen nur Salka Viertel genannt, um sich zu versammeln wusste: Karl Kraus und Alfred Polgar, Max Reinhardt, Thomas und Heinrich Mann, Albert Einstein und Arnold Schönberg, Sergej Eisenstein und Greta Garbo, deren Drehbuchautorin sie war, Bertolt Brecht und Bruno Frank, Hanns Eisler - und viele andere Künstler, mit und ohne Namen.

Salka Viertels Lebenserinnerungen, Ende der 60er Jahre in den Vereinigten Staaten erschienen, sind die Memoiren einer fast Vergessenen, die einen unvergleichlichen Blick auf dramatische Jahrzehnte europäischer Kulturgeschichte ermöglichen - vor allem auf die Welt des Theaters und des Films bis 1933 und die Exilierung dieser Kultur in Kalifornien.



Salka Viertel wurde 1889 als Salomea Steuermann geboren und entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Familie im damals österreichischen Galizien. Sie spielte in Berlin Theater unter Max Reinhardt, und in Wien lernte sie ihren Mann, den Regisseur Berthold Viertel, kennen, den ein Hollywood-Engagement nach Kalifornien führte; ein Intermezzo wurde zum Exil. Dort zieht sie drei Söhne groß, organisierte Hilfe für die von den Nazis Verfolgten - und kehrte in der McCarthy-Ära nach Europa zurück. 1978 starb Salka Viertel in der Schweiz. Der Autor des Vorworts Michael Lentz, 1964 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Lyriker und Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken - und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2001. Er ist Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman 'Pazifik Exil' stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2007.

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Kindheit


1


Vor langer, langer Zeit, als ich ein ganz junges Mädchen war, sagte mir einmal eine Zigeunerin, dass ich von Leid und Kummer verschont bleiben würde, solange ich nahe am Wasser lebte. Ich weiß, es ist recht banal, eine Geschichte mit Prophezeiungen, besonders denen von Zigeunerinnen, zu beginnen, aber glücklicherweise hat diese Vorhersage sich nicht erfüllt. Ob ich nahe am Wasser lebte oder nicht, das hatte auf Glück oder Unglück in meinem Leben keinerlei Einfluss. Aber mancher innere Sturm legte sich, wenn ich auf die schaumgekrönten Wellen des Pazifiks blickte oder dem Gemurmel eines Alpenbaches lauschte. Und so vergaß ich nie die Zigeunerin und ihre Prophezeiung, die vor mir die Landschaft meiner Kindheit heraufbeschwor und das Haus am Fluss, in dem ich lebte und aufwuchs.

Der Name des Flusses war Dnjestr. Wo wir wohnten, war er jung und wild, er war nicht weit von seiner Quelle in den Karpaten, und er floss durch ein Kieselbett und nahm, an manchen Stellen seicht, an anderen plötzlich tief und reißend, seinen steten und unregulierten Lauf zum Schwarzen Meer.

Das Land, in dem ich geboren wurde, war Galizien, jener Teil Polens, der nach der Teilung von 1775 zu Österreich gehörte. Heute heißt es Karpato-Ukraine und ist ein Teil der Sowjetunion. Die Stadt Sambor hatte fünfundzwanzigtausend Einwohner, etwa viertausend Polen, achtzehntausend Ukrainer und dreitausend Juden. Sie war auch Garnisonsstadt, was für die jüngere weibliche Bevölkerung nicht ohne Bedeutung war.

Die Stadt lag zwei Kilometer östlich vom Fluss und von unserem Haus entfernt, das »Wychylowka« hieß. »Wychylac« bedeutet auf Polnisch »hinauslehnen«.

Die Rechtsanwaltskanzlei meines Vaters war in der Stadt. Er besaß auch dort ein Haus, wohnte aber lieber auf dem Land. Nachdem man ihn zum Bürgermeister von Sambor gewählt hatte, musste Wychylowka eingemeindet werden, denn es war schlechterdings unmöglich, dass der Bürgermeister seinen Wohnsitz außerhalb der Stadtgrenzen hatte.

Wychylowka blieb von alldem unberührt, und uns Kindern machte es nichts aus, ob wir in der Stadt oder auf dem Lande lebten. Zwischen dem Haus und dem Fluss lagen unsere Felder und eine Wiese; auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich weit das sanft hügelige, fast unbewohnte Land mit Weizenfeldern, Weiden und Wäldern.

Jenseits der Straße lag ein Gehölz. Wir nannten es das »Wäldchen«. Alte knorrige Bäume standen in kleinen Gruppen, und unter ihnen weidete das Vieh. Dahinter kam wieder weites bestelltes Land, und dann ragte die lange blaue Kette der Karpaten auf, fern, hell und verschwommen an sonnigen Tagen und dunkel, graugrün und schrecklich nahe, wenn Regen und Schneestürme drohten.

Ein großer, leerer Platz auf der Ostseite trennte unser Anwesen von dem einzigen Industrieunternehmen der Gegend: einer Likörfabrik, die einst Verwandten meines Vaters gehört hatte, sich jetzt aber (ebenso wie der leere Platz) im Besitz eines reichen Juden namens Pan Tiger befand. Mein Vater sprach nicht mit ihm.

Unser anderer Nachbar weiter unten an der Straße war der alte Lamet; ihm gehörte die »Kartschma«, das Wirtshaus am Wäldchen, eine uralte, primitive Hütte mit einer Holzveranda, wo die Bauern auf dem Weg zum Markt oder bei der Rückkehr aus der Stadt einkehrten, um Wodka zu trinken. Der alte Lamet war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war groß und aufrecht, sein edles Gesicht umrahmte ein langer schneeweißer Bart. Er sprach ein schönes akzentfreies Polnisch. Am Sabbat trug er einen seidenen Kaftan und eine pelzbesetzte Kappe. Wenn ich vorn Wäldchen um das Wirtshaus herumschlich, konnte ich den alten Lamet am weiß gedeckten Tisch sitzen sehen, umgeben von Söhnen, Töchtern und Enkelkindern. Seine Frau, ein verschrumpeltes altes Weiblein, zündete die Kerzen an, dann sprach er den Segen. Da meine Eltern sich nie um irgendeine Religion gekümmert hatten und ihre eigene nicht praktizierten, war dies alles für mich seltsam geheimnisvoll und faszinierend.

Unser Haus war groß und voller Ecken und Winkel. Es war kein architektonisches Meisterwerk, aber auch nicht ausgesprochen hässlich.

Auf der Rückseite lag unter einer langen gedeckten Veranda der riesige Obst- und Gemüsegarten, aufgeteilt in rechteckige Beete, die durch Kieswege voneinander getrennt waren, an denen Himbeer-, Stachelbeer- und rote und weiße Johannisbeersträucher wuchsen. Der Obstgarten mit seinen Hunderten von Bäumen war im Frühling ein verheißungsvoll weißes und rosarotes Paradies. Die Erfüllung, die der Herbst brachte, war berauschend und von verheerender Wirkung auf den Magen – außer wir hatten einen regnerischen Sommer, was sehr oft der Fall war.

Wir waren vier Kinder. Ich, meine Schwester Ruzia und mein Bruder Edward waren jeweils nur ein Jahr auseinander. Der Jüngste, mein Bruder Zygmunt, den alle »Dusko« nannten, kam zur Welt, als ich neun Jahre alt war, und obwohl er von Mutter und Vater verwöhnt und angehimmelt wurde, spielte er damals in unserer Welt keine große Rolle. Wir drei, alle verschieden in Temperament und Charakter, waren eine sehr eng verbundene Gemeinschaft und hielten durch dick und dünn zusammen. So ist es unser ganzes Leben lang geblieben.

Da wir auf dem Lande lebten, schickte man uns nicht zur Schule. Wir hatten immer eine deutsche oder französische Gouvernante, und täglich kam ein polnischer Hauslehrer und unterrichtete uns in allen Fächern, die in der höheren Schule verlangt wurden. Einmal im Jahr brachte man uns zu den Prüfungen dorthin. Mit fünf Jahren lernte ich von einer älteren Spielgefährtin das polnische (lateinische) Alphabet lesen und schreiben. Mit sechs beherrschte ich das russische. In der zweiten Klasse wurde Ukrainisch unterrichtet (eine Konzession an den sonst schlecht behandelten Bevölkerungsteil), und in der dritten lernten wir, in spitzen gotischen Buchstaben unsere deutschen Sätze schreiben. Wir lasen gierig und voll Leidenschaft. Musik und Bücher waren das ständige Thema unserer Gespräche. Wir diskutierten darüber mit unseren Freunden und Freundinnen, die alle belesen waren. Ich werde nie die Begeisterung und Erregung vergessen, mit der ich die Lektüre von Schillers ›Maria Stuart‹ beendete. Ich lernte das Stück auswendig und spielte und rezitierte daraus mit Hingabe.

Da ich das Interesse an Puppen zu jener Zeit immer mehr verlor, baute ich mir in einer Ecke unseres Zimmers aus Stühlen, Büchern und Decken eine kleine Bühne. Meine Schauspieler waren hübsche Damen, die ich aus Modezeitschriften ausschnitt und auf Pappe klebte. Ich sprach ihre Rollen, einmal mit hoher, einmal mit tiefer Stimme. Die Stücke dauerten tagelang, wie im chinesischen Theater. Ruzia, Edward, Njanja, meine Amme, und die Dienstboten, manchmal sogar unsere jeweilige Gouvernante waren ein aufmerksames und interessiertes Publikum. Nur mit der Rollenbesetzung hatte ich Schwierigkeiten. In den Modejournalen meiner Mutter gab es keine Männer.

Ganz entgegen ihren Absichten förderte und nährte meine Mutter meine Leidenschaft für das Theater. In jener Zeit betrachtete man eine Schauspielerin als ein lockeres Frauenzimmer. Es gab nur eine Ausnahme – das Kaiserliche Burgtheater. Dort wurden großen Schauspielern Titel verliehen, und manche Schauspielerin hatte in die österreichische Aristokratie eingeheiratet. Doch ich war wohl nicht hübsch genug, um von solch einer Karriere träumen zu können. Meiner Schwester Ruzia, goldblond, zart und lieblich, hätten meine Eltern viel weniger Widerstand entgegengesetzt, wenn sie den Wunsch geäußert hätte, zum Theater zu gehen. Doch sie unterdrückte ihn klugerweise, während ich kein Hehl daraus machte.

Eine Opernsängerin, das war etwas ganz anderes – diesen Beruf hielt man für »viel respektabler«, und meine Mutter hatte sich selbst als junges Mädchen eine Weile auf diese Laufbahn vorbereitet. Ihr klarer, schöner Sopran und ihr großes musikalisches Talent – sie war außerdem eine sehr gute Pianistin – rechtfertigte diese Ambition. Sie wäre eine ideale Elsa, Sieglinde oder Senta gewesen. Ihr rötlichblondes Haar, ihre blauen Augen und ihr rosiger Teint hätten den besten Experten für Rassenfragen getäuscht: Diese nordische Schönheit entstammte einer reichen russisch-jüdischen Familie.

Für viele, die sich unter einem russischen Juden stets entweder einen Händler oder einen Violinvirtuosen vorstellen, mag es seltsam klingen, aber die Vorfahren meiner Mutter waren seit Generationen Landwirte. Mein Urgroßvater, Salomon Rafalowicz, besaß vier Landgüter, zwei in Podolien und zwei in Bessarabien. Er und seine Frau Rachel hatten drei Töchter. Eine von ihnen wurde meine Großmutter Deborah, schlank, dunkel und immerzu in einen französischen Roman vertieft.

Mein Urgroßvater Rafalowicz muss ein außergewöhnlicher Mann gewesen sein. Mama und meine Großmutter zitierten ihn bei jeder Gelegenheit. Er war hoch gebildet, sprach vierzehn Sprachen, war liberal in seiner politischen Einstellung, half den polnischen Rebellen beim Aufstand gegen Russland im Jahre 1863 und rettete, da er unter den russischen Aristokraten einflussreiche Freunde hatte, vielen das Leben. Auch die Polen respektierten und bewunderten ihn. Er half jedem, der in Not war, und seine Freigebigkeit und Gastfreundschaft kannte keine Grenzen.

Das Edikt, das den Juden in Russland verbot, Land zu besitzen, zwang meinen Großvater, eilends seine Güter zu verkaufen und sich mit seiner Familie – außer meiner Mutter hatte er noch zwei andere Töchter und einen Sohn – in der österreichischen Bukowina niederzulassen. Er pachtete einen großen Hof, um das Land zu bebauen und Vieh zu züchten. Meine...



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