E-Book, Deutsch, 316 Seiten
Vlautin Lean on Pete
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7270-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 316 Seiten
            ISBN: 978-3-8270-7270-2 
            Verlag: Berlin Verlag
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nun also Portland. Neue Stadt, neues Glück, hatte Charleys Vater gedacht, aber auch Portland bringt nur die alten Probleme. Und dann stirbt er, und Charley, 15, ist ganz auf sich allein gestellt. Der abgehalfterte Del Montgomery versucht, die Leute seit mindestens sechs Jahrzehnten übers Ohr zu hauen, und heuert Charley an. Ab und zu bezahlt er ihn dafür, dass er sich um seine Pferde kümmert. Es ist der Hengst Pete, der Charley besonders ans Herz wächst; er leidet mit ihm, wenn Del ihn für ein paar Dollars bei illegalen Rennen verheizt, und nachts flüstert er ihm ins Ohr, wie einsam er sich fühlt. Als das Pferd an einen Metzger verkauft werden soll, haut Charley mit ihm ab. Er beschließt, seine Tante zu suchen, und diese Reise wird zu einer Odyssee, an deren Ende so etwas wie Hoffnung aufblitzt. Willy Vlautin macht es uns unmöglich, Charley nicht augenblicklich ins Herz zu schließen. Und so wie Charley sich um Pete sorgt, fiebern wir mit und hoffen so sehr, dass seine Geschichte doch noch ein Happy End findet.
Willy Vlautin, geboren 1967 in Reno, Nevada, ist Sänger und Songschreiber der Folkrockband The Delines. Seine Romane »Motel Life«, »Northline« und »Lean on Pete« wurden zu internationalen Erfolgen, »Motel Life« wurde mit Emile Hirsch, Dakota Fanning und Stephen Dorff in den Hauptrollen verfilmt. Willy Vlautin lebt in Portland, Oregon. Mitseiner Musik tourt er regelmäßig auch in Europa.
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 1
Als ich an jenem Morgen aufwachte, war es noch ziemlich früh. Der Sommer hatte gerade erst angefangen, und von meinem Platz im Schlafsack konnte ich aus dem Fenster sehen. Der Himmel war klar, blau, beinahe wolkenlos. Mein Blick fiel auf das Polaroid, das ich über mir an die Wand gepinnt hatte. Es zeigt meine Tante und mich an einem Fluss, sie trägt einen Badeanzug. Sie ist die Schwester meines Vaters, und sie sieht ihm ähnlich, schwarze Haare, blaue Augen, ganz dünn. Auf dem Foto hat sie eine Coladose in der Hand und lächelt. Sie hat den Arm um mich gelegt. Meine Haare sind nass, und ich grinse. Das war damals, als wir noch in Wyoming lebten. Aber inzwischen hatte ich sie vier Jahre nicht Gesehen und wusste nicht einmal mehr, wo sie wohnte. Mein Dad und ich waren gerade nach Portland, Oregon, gezogen. Wir kannten dort keinen Menschen. Zwei Tage vor Schulschluss hatten wir den Pick-up vollgepackt und waren aus Spokane verschwunden. Wir hatten unseren Küchentisch und vier Stühle mitgenommen, Teller, Töpfe und Pfannen, unsere Klamotten und den Fernseher und das Bett von meinem Vater. Alles andere hatten wir dagelassen. Wir waren beide noch nie in Portland gewesen. Aber mein Dad kannte jemanden, der ihm von einer freien Stelle als Gabelstaplerfahrer bei der Spedition Willig Freight Lines erzählt hatte. Er hatte sich beworben und sie bekommen. Das Bewerbungsgespräch hatten sie am Telefon geführt, und sie hatten ihm die Stelle gleich gegeben, weil er damals Gabelstaplerfahrer bei TNT Freight Lines in Rock Springs war und die Art Job schon seit Jahren machte. Ein paar Tage wohnten wir in einem Motel, dann mietete er uns ein Haus nicht weit von seiner Arbeit. Warum er aus Spokane wegwollte, weiß ich nicht genau. Ich hatte ihm gesagt, dass ich nicht wegwollte, ich hatte ihn angefleht zu bleiben, aber er hatte geantwortet, er wolle lieber in den Knast gehen und sich jeden Tag grün und blau prügeln lassen, als noch länger in einem Drecksloch wie Spokane zu bleiben. In dem Haus, das wir gemietet hatten, gab es zwei Schlafzimmer. Es gab eine Küche mit einem Elektroherd und einem Kühlschrank und ein Wohnzimmer, das leer war, abgesehen von dem Fernseher, den wir auf einen Stuhl gestellt hatten. Es gab ein Bad mit Wanne, Waschbecken und Klo und eine Abstellkammer mit Wasseranschlüssen, so dass man Waschmaschine und Trockner reinstellen konnte, wenn man so etwas hatte. Das Viertel war voller heruntergekommener Häuser und lag neben einer Wohnwagensiedlung. Die Häuser stammten aus den Vierzigerjahren. Delta Park hieß das Viertel. An den Straßen standen Bäume, und wir hatten einen Hintergarten. Weil es ein richtiges Haus war, versprach mir mein Dad, dass wir einen Grill und dann einen Hund anschaffen würden. Der Grill war mir egal, aber einen Hund wollte ich unbedingt und hoffte, dass ich ihn diesmal auch bekommen würde. Ich versuchte, noch mal einzuschlafen, aber es ging nicht, also stand ich auf. Ich zog Shorts und ein Holzfällerhemd an und meine Joggingschuhe. Es war Samstag, und als ich loslief, die Straße entlang, standen die meisten Autos noch vor den Häusern. Anstatt wie sonst bei dem kleinen Laden links abzubiegen, lief ich nach rechts, unter einer Eisenbahnbrücke hindurch, vorbei an ein paar Lagerhäusern, einem Schrottplatz und einem Laden für Autoteile. Ich lief unter noch einer Brücke hindurch, und auf der anderen Seite tauchte in der Ferne eine Pferderennbahn auf. Ich hatte noch nie eine Rennbahn gesehen, und Pferde hatte ich bislang außer im Fernsehen nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, bei einem Rodeo mit meinem Dad und ein paar seiner Freunde. Aber ich hatte Pferde immer gemocht. Sie kamen für mich gleich nach Hunden, die hatte ich am liebsten. Es war noch nicht einmal sieben Uhr, aber hinter der Rennbahn war schon Betrieb. Alles war mit Maschendraht abgesperrt, mit Stacheldraht obendrauf. Es gab mindestens ein Dutzend große Ställe. Das Gelände war einige Hektar groß, und überall liefen Menschen und Pferde herum. Ich joggte auf einer zweispurigen Straße am Zaun entlang. Vor einer Werkstatt standen zwei Wassertanklaster mit dem Schriftzug »Portland Meadows«. Zwei Männer waren am Schweißen, und ein Mechaniker arbeitete an einem der Laster. Ich kam an der Hauptbahn vorbei, auf der Pferde liefen, dann an der Haupttribüne. Davor war ein riesiger leerer Parkplatz. Das Gebäude selbst war alt, weiß und grün angestrichen. »Portland Meadows« stand in riesiger roter Neonschrift darauf. Daneben hing ein galoppierendes Neon-Rennpferd. Ich blieb stehen und ging auf die Tribüne zu, zum Eingang mit den hohen Glastüren, aber ich ging nicht hinein. Ich ruhte mich bloß einen Moment aus, dann machte ich vierzig Liegestütze und lief weiter. Ich lief ein paar Meilen, dann machte ich an einem breiten Fluss Halt. An den Ufern waren Kaianlagen, und an den Kais lagen Boote und reihenweise Hausboote. Ich setzte mich ans Ufer und sah zu, wie ein Lastkahn vorbeizog, dann ein Speedboat und ein rotes Segelboot, und dann kamen ein paar Jet-Skis vorbei, die einander jagten. Ich machte ein paar Dehnübungen, dann lief ich langsam und locker zurück nach Hause. Als ich ankam, war ich todmüde. Ich ging in die Küche, ein Glas Wasser holen, und am Herd stand eine halbnackte Frau und briet Eier mit Speck. »Wer sind Sie?«, fragte ich. Sie drehte sich um und lächelte. »Und wer bist du?«, fragte sie zurück. Sie war schon älter, wahrscheinlich über vierzig. In einem Aschenbecher auf dem Küchentisch brannte eine Zigarette, und sie griff danach. »Ich bin Charley Thompson.« »Du bist Rays Kleiner?«, sagte sie und nahm einen Zug. »Ja«, sagte ich. Unter dem T-Shirt zeichneten sich ihre Brustwarzen ab. Ihr Höschen war schwarz und beinahe durchsichtig. Sie hatte rote Haare und Sommersprossen im ganzen Gesicht. Hübsch war sie nicht. »Du siehst ihm wirklich ähnlich«, sagte sie. »Aber ich werde größer als er«, sagte ich. »Ach ja?« »Klar«, sagte ich. »Ich bin ja jetzt schon fast so groß wie er.« »Ich mache grade Frühstück«, sagte sie. »Möchtest du auch was?« »Wo hast du das Essen her?« »Ich habe deinen Dad einkaufen geschickt. Im Kühlschrank hattet ihr nichts als Bier, Milch und Honigpops. Das sind bestimmt deine.« »Stimmt«, sagte ich. »Frühstücksflocken muss man nicht in den Kühlschrank stellen, weißt du.« »Hier gibt es Kakerlaken.« Sie nickte, dann ging sie wieder zum Herd hinüber. »Ich hole mir ein Glas Wasser, okay?« »Du bist doch hier zu Hause, oder?«, sagte sie, lächelte und drehte sich wieder um. Ich wusste nicht, was ich von alldem halten sollte, aber ich hatte nun mal Hunger. Ich holte mir ein Glas Wasser, setzte mich an den Tisch und wartete. Nach einer Weile kam mein Dad in Unterwäsche aus dem Bad, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu mir. Er griff nach einer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. »Lynn schon kennengelernt?«, fragte er und gähnte. Ich nickte. Lynn drehte sich um und lächelte ihn an. »Sie ist Sekretärin bei uns.« Er machte das Bier auf und nahm einen Schluck. »Wie weit warst du laufen?« »Ziemlich weit. Wusstest du, dass unten an der Straße eine Pferderennbahn ist?« »Bin dran vorbeigefahren«, sagte er. »Als ich vorbeigelaufen bin, haben sie draußen trainiert. Ich habe bestimmt fünfzig Pferde gesehen.« Mein Dad lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schwieg. Er blickte die Frau an und rauchte. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß, schlank. Seine schwarzen, noch nassen Haare hatte er zurückgekämmt. Seine Brust wirkte irgendwie eingesunken, und am Bein hatte er eine große Narbe von einem Motorrad, an dem er sich verbrannt hatte. Aber er hatte ein schönes, freundliches Gesicht, dunkelblaue Augen und lächelte oft. Alle fanden, dass er gut aussah. Lynn wandte uns den Rücken zu. Der Arsch hing ihr aus der Unterhose, und ich blickte an ihren Beinen herab. Am Fußknöchel hatte sie ein Tattoo, eine Blume, aus der sich eine Art Schlange wand. Wir saßen zu dritt am Tisch und aßen unser Frühstück. Ich sah sie immerzu an und dachte an ihr Höschen und ihre Brustwarzen unter dem T-Shirt, und auf einmal kam sie mir ganz nett vor, ganz okay. Nach dem Frühstück gingen sie zum Anziehen in sein Zimmer. Kurz darauf kam mein Vater wieder heraus, setzte sich mir gegenüber an den Tisch und zog sich die Stiefel an. »Ist das deine neue Freundin?«, fragte ich. »Nein«, sagte er. »Vielleicht bald?« »Weiß ich nicht.« »Ich mag sie lieber als Marlene.« »Marlene war okay.« »Sie war gemein«, sagte ich. »Und kochen konnte sie auch nicht.« »Lynn und ich sind bloß Kollegen. Außerdem ist sie verheiratet.« »Sie ist verheiratet?« »Na ja, sie leben getrennt. Ihr Mann ist angeblich Samoaner.« Er beugte sich... 




