Volckmer | Der Termin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Volckmer Der Termin

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-98568-001-6
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-98568-001-6
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieser Roman ist obszön - und grandios! Katharina Volckmer ist mit ihrem Debüt zum internationalen Shootingstar einer neuen Literatur geworden. Auf Englisch verfasst, zielt ihr radikaler Roman auf die Deutschen und ihre Scham.In einer Londoner Praxis entblößt sich eine junge Frau aus Deutschland vor ihrem Arzt Dr. Seligman. Obwohl sie nur seinen Hinterkopf sehen kann, vertraut sie ihm ihr Innerstes an: ihre heimlicheLust, ihre Schuldgefühle und ihr Ringen um sichselbst. Obwohl sie sich von ihrer katholischen nachkriegsdeutschen Familie abgewandt hat und seit Jahren in London lebt, verfolgen sie die alten Geister. In einem messerscharfen Monolog nabelt sie sich noch einmal von ihrer Vergangenheit,aber auch von ihrer Gegenwart ab. Vom Umkleiden in der Badeanstalt bis zum Toilettenfick in der Bar begleiten wir eine junge Frau, die sich von ihrer Scham, ihrer Kultur und ihrer Geschlechtlichkeit fundamental befreit.'Katharina Volckmer ist eine Draufgängerin erster Güte. Ihr Roman steckt voller hypnotischem, poetischem Erfindungsreichtum und Witz ... So düster und brillant wie Naked Lunch und dabei hinreißend schön.' Ian McEwan'Erstaunlich, originell, verstörend und wunderschön. Der Termin ist ein lang überfälliger, radikaler Eingriff.'Chris Kraus, Autorin von 'I Love Dick'

Katharina Volckmer wurde 1987 in Deutschland geboren. Sie lebt in London, wo sie für eine Literaturagentur arbeitet. 'Der Termin' ist ihr erster Roman.
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Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, um davon anzufangen, Dr. Seligman, aber ich musste gerade daran denken, wie ich einmal geträumt habe, ich wäre Hitler. Wenn ich so darüber rede, ist es mir immer noch peinlich, aber ich war es wirklich. Auf ein Heer fanatischer Anhänger blickend, stand ich auf einem Balkon und hielt eine Rede. Dazu trug ich diese Uniform mit den komisch gebauschten Hosenbeinen. Auf meiner Oberlippe konnte ich den kleinen Schnurrbart spüren, und meine rechte Hand flog durch die Luft, während ich mit meiner Stimme alle in meinen Bann zog. Ich weiß nicht mehr genau, worüber ich geredet habe – ich glaube, es ging irgendwie um Mussolini und einen absurden Expansionstraum –, aber das ist auch egal. Der Faschismus ist ja nur Ideologie um ihrer selbst willen, er vermittelt keine Botschaft, und am Ende waren uns die Italiener da sowieso voraus. Ich kann in dieser Stadt keine hundert Meter gehen, ohne irgendwo oder zu lesen, und ihre grässliche Flagge hängt an jeder Ecke. Das Wort sehe ich nie irgendwo. Es war immer ausgeschlossen, dass wir mit einer derart miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können, es gibt einfach Grenzen, was man den Leuten antun kann, und jeder normale Mensch würde nach einem Nachschlag von unserem sogenannten Essen anfangen, sich nach Freiheit zu sehnen. Das war schon immer unsere Schwäche, wir haben nie etwas geschaffen, das ohne höheren Zweck genossen werden kann – nicht umsonst gibt es im Deutschen kein Wort für ; wir kennen nur und . Unsere Kehlen werden nie feucht genug, um jemandem mit Hingabe einen zu blasen, weil wir als Kinder zu viel trockenes Brot essen mussten. Kennen Sie dieses grauenhafte Brot, das wir andauernd essen und von dem wir allen erzählen? Eine Art selbsterhaltender Mythos. Ich glaube, es ist eine Strafe Gottes für all die Verbrechen, die wir begangen haben, insofern wird wohl nie etwas so Sinnliches wie ein Baguette oder etwas so Saftiges wie die Blaubeermuffins, die es hier gibt, aus diesem Land kommen. Es war einer der Gründe, weshalb ich auswandern musste: Ich wollte nicht länger an dieser Brotlüge teilhaben. Während ich also hielt, was man heutzutage eine Hassrede nennen würde, hatte ich das Gefühl, der orgiastische Applaus von unten war nur ein schwacher Trost für meine unübersehbare Missgestalt. Ich war mir der Tatsache schmerzlich bewusst, dass ich dem Arischen Ideal, auf dem ich jahrelang herumgeritten war, selbst nicht im Geringsten entsprach. Ich meine, ich hatte keinen Klumpfuß oder so, aber trotzdem würden alle toten Juden dieser Welt und sogar mein angeblicher Vegetarismus nicht ausreichen, um mich als Modell für eines dieser heißen Riefenstahl-Bildchen zu qualifizieren. Ich fühlte mich wie ein Betrüger. Hatte denn niemand bemerkt, dass ich aussah wie eine alte Kartoffel mit Plastikhaaren? Ich kann noch immer die Traurigkeit spüren, mit der ich an jenem Morgen aufgewacht bin – die Traurigkeit darüber, dass ich nie einer von diesen blonden deutschen Boys sein würde, mit einem Körper wie die Alten Griechen und Haut, die in der Sonne so wunderbar golden wird, dass ich nie das sein würde, was ich hätte sein sollen.

Ich will damit nicht sagen, dass Hitler mir leidtat, und es ist natürlich trotzdem inakzeptabel, sämtliche Angehörige eines Kulturkreises auszulöschen, weil man sich in seinem Körper nicht wohlfühlt und sie das repräsentieren, was man an sich selbst hasst, aber der Traum hat mich doch dazu gebracht, über sein Privatleben nachzudenken. Hitlers Alltag. Haben Sie sich den Führer schon mal im Schlafanzug vorgestellt, Dr. Seligman, wie er nach dem Aufwachen durchs Schlafzimmer stolpert und seine Pantoffeln sucht? Irgendein armseliger Mensch hat bestimmt schon ein Buch über sein Leben daheim geschrieben, aber ich stelle es mir eigentlich lieber selber vor; ein Buch würde es nur wieder schaffen, dass es langweilig wird. Ich sehe die Bettwäsche mit Hakenkreuzmuster vor mir, den dazu passenden Schlafanzug, alles, sogar die passende Müslischüssel kommt vor. Einmal habe ich in Polen so welche gesehen, in einem dieser seltsamen Antiquitätenläden, wo sie ausschließlich Memorabilia ihrer Peiniger verkaufen, wie diese Schüsseln und Teller mit kleinen Hakenkreuzen auf dem Boden. Es war fast wie eine Art perverses Barbie-Universum, als könnte man sich, wenn man nur lang genug sparte, ein völlig neues, glänzendes, zusammenpassendes Leben kaufen. Ich hatte sofort eine kleine Fernsehreklame vor Augen, in der eine gut geölte Hitlerpuppe auf so einem Glitzerpferdchen eine anständige deutsche Frau aus den Händen eines lüsternen Juden befreit und dann in den Sonnenuntergang reitet – die Rasse geschützt und in Sicherheit. So schlau sie im Umgang mit den Medien auch waren, an dieser Stelle haben die Nazis meiner Meinung nach einen echten Marketing-Coup versäumt. Stellen Sie sich doch nur vor, wie viel Spaß die kleinen deutschen Kinder mit so einem LEGO-Konzentrationslager namens Freudenstadt gehabt hätten – baue deinen eigenen Ofen, organisiere deine eigenen Deportationen, und denk an ausreichend neuen Lebensraum! Sie hätten auch Produktlinien für Erwachsene herausbringen können. Mal abgesehen von den Handschuhen und Lampenschirmen aus Menschenhaut hätten sie auch Pferdeschweif-Buttplugs aus echtem Feindeshaar machen können. Aber da ist der Zug wohl abgefahren. Und ich will Sie nicht provozieren, Dr. Seligman, erst recht nicht jetzt, da Sie Ihren Kopf zwischen meinen Beinen haben, aber finden Sie nicht, dass so ein Genozid auch ein bisschen was mit Geilheit zu tun hat?

Als ich letztens auf dem Nachhauseweg war, hatte sich jemand vor den Zug geworfen, wollte wohl einen Abgang mit Knall hinlegen und ein paar Pendlern noch eins reindrücken, ein finaler Akt in unserem modernen Verzweiflungskrieg. Also musste ich zu Fuß gehen und kam durch eins dieser Londoner Viertel, wo Leute der vorherigen Generation wohnen, mit richtigen Möbeln und sauberen Badewannen, wo es diese lichtdurchfluteten Spielzeugläden gibt, die den Eindruck erwecken, die Kindheit sei eine französische Erfindung, und Vorgärten, in denen der Frühling früher als überall sonst anzubrechen scheint. Ganz besonders liebe ich diese dunklen Magnolienblüten, sie sind so elegant, beinahe lilafarben. Bestimmt haben Sie die schon mal gesehen, Dr. Seligman. Niemand würde je auf die Idee kommen, seinen Müll vor so einem Haus abzuladen – sogar grobe Gemüter werden bei ihrem Anblick weich –, meine Einfahrt dagegen ist andauernd Schauplatz der Übertretungen anderer, und wenn ich morgens durch meine Vorhänge blinzle, kann ich alles Mögliche, von rostigen Gefrierschränken über alte Kulturbeutel bis hin zu gebrauchtem Spielzeug, dort liegen sehen. Ich frage mich, wie die Leute darauf kommen, dass ich mich über ihre kaputten Sachen freuen würde, und ich bin kurz davor, meine Erniedrigung öffentlich zu machen und ihnen einen Zettel zu schreiben und sie zum Aufhören aufzufordern, was fast genauso schlimm ist, wie um Essen oder frische Unterhosen zu bitten. Haben Sie schon einmal versucht, von jemandem grundlegende Achtung als Mensch einzufordern? Ich verlange ja gar nichts Drastisches wie respektvollen Sex oder echte Gefühle, aber das ist, als würde mich eine irre Fee heimsuchen, die unbedingt sicherstellen will, dass ja kein Prinz durch mein Fenster schaut und dass alle meine Träume irgendwann nach Fuchspisse stinken und aussehen wie das Plastik, das in diesen Dokumentationen über unsere Zerstörung von Mutter Natur gezeigt wird. Diese Gegenstände werden zu Objekten der Schuld und des Ekels, und nachts versuche ich, ohne eine klare Vorstellung von meiner Zukunft einzuschlafen. Deshalb gehe ich auch nicht mehr in solche Stadtviertel, die ich mir nicht leisten kann. Sie lassen mich all meine Fehler wie durch eine Lupe sehen und erinnern mich an alles, was mir meine Eltern nie verzeihen werden. Warum habe ich nicht im rechten Moment die Beine breit gemacht, mehr auf meinen Körper geachtet und einen dieser Männer mit lilafarbenen Magnolienbäumen im Vorgarten geheiratet? Ich könnte so eine Frau sein, die in schicken Cafés sitzt und sich um nichts in der Welt sorgen muss. Es wäre ein Leben wie im Schokoladengeschäft, Dr. Seligman. Ich glaube, dass reiche Leute deshalb immer aussehen, als wären sie gerade mit einem maßgeschneiderten Strapon gefickt worden, während nebenan jemand ihr frisch gewaschenes Bettzeug gebügelt hat. Deswegen sind ihre Kinder auch nicht so hässlich – weil sie sich die tatsächlich leisten können, weil die Kinder wissen, dass sie ein Recht haben zu existieren. So muss Überlegenheit wohl funktionieren. Glauben Sie, dass es ein Fehler war, stattdessen zu Ihnen zu kommen, Dr. Seligman?

Aber ich habe keine Angst vor dem, was wir tun werden, Dr. Seligman. Ich habe keine Angst vorm Sterben oder so. Ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann und dass der Tod still ist. Es sind nie die lauten Dinge, die uns umbringen, die, von denen wir kotzen und schreien und heulen müssen. Die wollen nur Aufmerksamkeit. Sie sind wie Katzen im Frühling, Dr. Seligman – sie wollen unseren Widerstand spüren, uns aus dem...


Katharina Volckmer wurde 1987 in Deutschland geboren. Sie lebt in London, wo sie für eine Literaturagentur arbeitet. "Der Termin" ist ihr erster Roman.



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