E-Book, Deutsch, 288 Seiten
von Minden Meine Grenzen erweitern
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7495-0099-4
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
155 Techniken zur Selbstbehauptung und zum Abbau innerer Blockaden
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0099-4
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Petra von Minden ist seit über 25 Jahren selbständig als Psychologische Beraterin, Coach und Supervisorin sowie als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig. Zu ihren Schwerpunkten gehören Kommunikation und Gesprächsführung, Konfliktbewältigung und Selbstbehauptung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie Emotion, Motivation, Handlung
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
Weitere Infos & Material
1. Was ist das überhaupt – eine Grenze?
„Seit ich die Grenze, die man mir setzte, nicht mehr anerkenne, nicht mehr als Grenze erlebe, spüre ich erst, wie stark ich bin ... wie grenzenlos ich sein kann.“
– Kristiane Allert-Wybranietz –
1.1 Der Versuch einer Definition
Jedes Mal, wenn wir eine Grenze ziehen, erschaffen wir einen neuen möglichen Gegner, eine Gefahr! Wir erschaffen ein weiteres Feld, das es
zu kontrollieren und zu verteidigen gilt.
Bereits eine Definition (lateinisch definitio = Abgrenzung) ist eine Form der Grenzziehung, denn sie grenzt einen Begriff von einem anderen ab, macht ihn unterscheidbar von ähnlichen Begriffen. Es geht also um ein Sichtbarmachen von Anfang und Ende. Auch der österreichischer Philosoph Konrad Paul Liessmann stellt in einem Interview mit brand eins fest: „Ohne Grenzen wäre nichts wahrnehmbar“ (Link, 2013). Und der Sozialpsychologe Harald Welzer schreibt dazu: „Grenzen geben … dem Menschen Orientierungssicherheit“ (Werres, 2018). Etwas endet und etwas anderes beginnt: Eine Grenze ist also immer auch eine „Kampflinie“, die Linie, an der wir möglicherweise Gefährlichem begegnen. Für unser Unbewusstes ist alles, was als fremd wahrgenommen wird, auch immer erst einmal eine Bedrohung, und wir stellen uns vorsichtshalber auf einen möglichen Kampf ein.
Der Philosoph Ken Wilber führt das weiter aus:
„Wir spalten unser Gewahrsein künstlich in Abteilungen auf: Subjekt / Objekt … – eine Trennungsregelung, die zur Folge hat, dass ein Erleben das andere einschneidend stört und das Leben sich selbst bekämpft. Das Ergebnis ist einfach Unglücklichsein, auch wenn man ihm viele andere Namen gibt. Das Leben wird zum Leiden, von Kämpfen erfüllt. Aber all diese Kämpfe, die wir erleben – unsere Konflikte, Ängste, Leiden und Verzweiflungen – werden durch die Grenzen verursacht …“
(2008, Seite 7)
Gibt es eine allgemeingültige Aussage darüber, wo die Grenze einer Person „verläuft“? Ist die Haut eine allgemeingültige Grenze? Die Menschen sind sich einig, dass die Haut eine Grenze darstellt, die für andere unbedingt zu respektieren ist. Aber reicht uns das? Eine Berührung von Fremden empfinden wir in der Regel als grenzüberschreitend. Nur: Welche Grenze haben sie denn überschritten? Begann sie 20 Zentimeter vor meinem Körper oder reagiere ich schon alarmiert, wenn ein 80-Zentimeter-Abstand überschritten wird?
Die meisten Menschen sagen zudem „mein Körper“, also ist das gefühlte Ich nicht gleichbedeutend mit meinem Körper: Ich habe einen Körper, aber ich bin nicht mein Körper. Und tatsächlich empfinden einige ihren Körper als etwas Fremdes und Feindseliges. Sie kämpfen mit ihrem Körper und gegen ihn wie gegen einen Widersacher. Wenn sie eine Grenze zwischen „Ich“ und „dem Körper“ ziehen, dann ist der Körper außerhalb des Ich und daher potenziell gefährlich. Er kann mich verraten und gegen meine Interessen handeln.
Oder geht es bei der Grenzziehung um unseren Besitz, um den wir – um es für alle deutlich zu kennzeichnen – einen Zaun ziehen? Dann wären Grenzen ziemlich beliebig oder sogar Glückssache, denn wir besitzen unterschiedlich viel. Auch einen Angriff auf meine Familie oder meine Heimat, mein Land, nehme ich persönlich – und die „besitze“ ich nun wirklich nicht.
Es wird also deutlich, dass es mit den Grenzen und Grenzziehungen gar nicht so einfach ist. Es gibt schlicht keine genormten Grenzen, die wir einfordern können und auch bei anderen eindeutig beachten müssten. Jeder empfindet sein Ich anders. Jeder hat andere „Schätze“, die er beschützen möchte. Jeder reagiert an einem anderen Punkt empfindlich und beginnt, sich zu verteidigen. Das macht dieses Thema schwierig und den Umgang miteinander auch so kompliziert. Es wäre ein fataler Fehler, von dem eigenen Ich-Verständnis und von den persönlichen Grenzen, die man selbst benötigt, um sich wohl und sicher zu fühlen, auf das Ich-Verständnis und die notwendigen Grenzen anderer zu schließen. Mit anderen Worten: Wir wissen nie genau, wo unser Gegenüber seine Grenzen ziehen möchte.
Abbildung 1.1 zeigt, wie unterschiedlich das Ich-Verständnis von Menschen sein kann – von einem ziemlich „aufgeblähten“ Ego bis hin zu einem stark begrenzten engen Ich-Verständnis, das sich vielleicht nur auf das Denken reduziert (und den Körper als fremd empfindet).
Abbildung 1.1: (Körper-)Grenzen
Gemeinhin ziehen wir unsere Grenzen so, dass wir unseren Raum als groß genug empfinden, um uns frei bewegen und entfalten zu können, sowie eng genug, um ein Gefühl von Sicherheit zu erleben: Unser Bereich muss ja auch noch kontrolliert, geschützt und notfalls verteidigt werden können. Die ideale Größe bedeutet für alle Menschen etwas anderes. Das macht die vielen gegenseitigen (Grenz-)Verletzungen und Missverständnisse erklärbar, wenngleich auch nicht entschuldbar: Es liegt in unserer Verantwortung (und im Bereich unserer Möglichkeiten), unsere Grenzen anderen gegenüber deutlich anzuzeigen und ebenso achtsam zu sein für die Signale der anderen.
Ein Mensch mit einem „engen“ Ich hat nicht nur gegen all die Unwägbarkeiten des Alltags und gegen schwierige Zeitgenossen zu kämpfen, sondern letztlich auch noch gegen sich selbst. In meiner Tätigkeit als Psychologische Beraterin und Coach begegnen mir leider viele Menschen, die nahezu ihre komplette Energie für den Kampf mit sich selbst und ihren eigenen Grenzen (siehe hierzu auch Kapitel 2) aufwenden. Kommen dann Hindernisse im Außen dazu, sind sie völlig überfordert.
Erfreulicherweise sind Grenzen aber veränderbar und wachsen in der Regel mit uns mit. Grenzen können überschritten und erweitert werden. Wenn Sie also Ihren Raum als zu eng empfinden, dann wird es höchste Zeit, dass Sie ihn vergrößern. Das wird anderen eventuell nicht gefallen, aber das muss es auch gar nicht. Sie werden sich daran gewöhnen, Ihre Grenzen gemäß Ihren Bedürfnissen zu ziehen und unabhängiger zu werden von den Unkenrufen Ihrer Mitmenschen.
1.2 Die evolutionäre Bedeutung von Grenzen
Wir stecken buchstäblich und im übertragenen Sinn unsere Grenzen ab, markieren sie in irgendeiner Weise und „kämpfen“, wenn jemand sich erdreisten sollte, in unser Revier einzudringen. Dann versuchen wir – im Rahmen unserer Möglichkeiten –, den Eindringling zu vertreiben. Und das hat einen guten Grund.
Wie alles in der Natur folgt auch dieser Impuls einer Gesetzmäßigkeit, die unser Überleben sichern soll. Jedes Revier sollte groß genug sein, die eigene Familie oder Sippe zu ernähren und paarungsbereite, artgleiche Partner zu finden. Beides war überlebenswichtig, um Überfremdung und Nahrungsmangel zu vermeiden und den Fortbestand zu sichern. Und darum geht es auch heute noch, wenn jemand in mein Revier eindringt: ums Überleben. Da gibt es kein Überlegen und auch unsere viel gepriesene Vernunft setzt erst einmal aus. Wir reagieren nach evolutionären Mustern, ungeachtet der Tatsache, dass unser Überleben schon lange nicht mehr davon abhängt. Es ist eine uralte Angst.
Auch im Kleinen ist die Angst, etwas zu teilen und damit einen „Teil“ zu verlieren, oftmals größer als das Vertrauen und die Vernunft, die uns sagt, dass wir gemeinsam sehr viel mehr erreichen können. Lieber schaffen wir etwas alleine und heimsen dafür auch alleine das Lob ein. Einen aufgeweckten Neuen im Team könnten wir viel eher als eine Bereicherung sehen, wenn wir nicht Angst hätten, dass er alles an sich reißen und uns unsere Position streitig machen könnte.
Es sollte uns bewusst sein, dass unsere „territorialen Gefechte“ nicht mehr lebensnotwendig sind. Absprachen – Ja! Grenzen, die eine Orientierung ermöglichen – Ja! Aber sehr viele Auseinandersetzungen um Grenzziehungen sind überflüssig und schaden mehr, als sie nutzen – auch uns selbst.
Dass wir diese Erkenntnis nicht so einfach verinnerlichen und danach leben können, liegt auch an einem weiteren evolutionären Erbe: Wir sind soziale Wesen und markieren mit unseren Grenzen unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Wir brauchen diese Grenzen, können ohne sie nicht leben und werden ohnehin in sie hineingeboren. Mit spezieller Kleidung, einem bestimmten Sprachstil, Insiderwitzen, gleichen Wertvorstellungen bis hin zu äußeren Signalen wie Logos, Emblemen etc. zeigen wir deutlich, wer wir sind und wie wir uns von anderen Gruppierungen absetzen. Diese Normierung bedeutet sowohl Einschränkung als auch Sicherheit.
Grenzen haben also sowohl eine Wirkung nach innen, für mich oder für meine Gruppe, als auch eine Wirkung nach außen. Nach innen geben sie uns Halt und das sichere Gefühl dazuzugehören, aufgehoben zu sein und aufgefangen zu werden, wenn wir schwach sind. Wir finden innerhalb dieser Grenzen Menschen, die uns ähnlich sind und uns deshalb leichter verstehen. Sie geben uns eine Identität.
Nach außen wird ein deutliches Signal gesetzt, unter welchen Bedingungen man sich dieser Gruppe (Person) nähern darf, was akzeptiert wird und was nicht.
Das Bedürfnis nach Veränderung unserer Grenzen innerhalb einer bestehenden Gruppe geht allerdings fast immer mit erheblichen Schwierigkeiten einher. Es bringt uns in einen inneren Konflikt: Akzeptieren wir unsere (vielleicht viel zu engen) Grenzen in der Familie, im Job, im Freundeskreis, sichert uns das einen festen Platz in der Gemeinschaft (und selbst als Außenseiter haben wir einen festen Platz in der Hierarchie). Der Preis für die Sicherheit sind unter Umständen eingeschränkte...