Voss | "Ich bin kein Papagei" | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Voss "Ich bin kein Papagei"

Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-903217-83-6
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-903217-83-6
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der 'beste Schauspieler Europas' ('The Times') Gert Voss war ein Meister seiner Zunft. Über Jahrzehnte prägte der 1941 in Shanghai geborene Schauspielstar die deutschsprachigen Theaterbühnen zwischen Stuttgart, Bochum, Berlin, Wien und Hamburg. 1986 unter Claus Peymann ans Burgtheater engagiert, wurde er bald zum Publikumsliebling der Wiener. Ob als ikonischer Shakespeare-Held Richard III., Othello oder König Lear, in Rollen von Büchner, Schiller oder Thomas Bernhard - Gert Voss brillierte stets als wandlungsfähiger, vielseitiger Charakterdarsteller. Mit demselben Tiefgang und Humor erzählt er von seiner Kindheit in China und seinem Theaterleben, von Kollegen und Freunden, von seiner Familie, Glück und Empfindungen. Die letzten Jahre seiner Lebensreise hat seine Tochter Grischka Voss berührend und persönlich zu Ende erzählt. Mit zahlreichen Privatfotos

Gert Voss (1941-2014) war einer der größten Schauspielstars seiner Generation. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen prägte er in vielseitigen Darstellungen das deutschsprachige Theater unter Regisseuren wie Claus Peymann, Peter Zadek, George Tabori oder Luc Bondy u. a. am Wiener Burgtheater, dem Berliner Ensemble sowie der Schaubühne in Berlin. Grischka Voss, geboren in Braunschweig, Mitbegründerin und ehemalige Ko-Leiterin von 'das bernhard ensemble'. Seit 2017 Solo-Auftritte als freie Schauspielerin, Autorin und Regisseurin, u. a. im Theater Drachengasse und Dschungel Wien. 2020 Erfolg mit dem Ein-Frau-Stück 'Bulletproof'. 'Nestroy' 2001, zahlreiche weitere Nominierungen. Sie versteht sich als Geschichtenerzählerin mit starken sozialen Anliegen.

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I.Amhurst Avenue, Shanghai
Im alten österreichischen Kino im ehemaligen jüdischen Viertel von Shanghai sitzend, stelle ich mir vor, wie ich an meinem 70. Geburtstag mit meiner Frau zusammen noch einmal alle Orte aufsuche in Shanghai, der Stadt, in der ich geboren wurde und sieben Jahre leben durfte. Vielleicht fände ich doch mein altes Shanghai wieder und all meine Erinnerungen. Ich habe mir immer gewünscht, noch einmal nach Shanghai zu kommen. Lange Zeit ging dies aus politischen Gründen nicht, das Land war wie in seiner frühen Geschichte abgesperrt, später durfte man zwar einreisen, aber sich nicht frei bewegen, und noch später sagten wir uns, wir müssen noch so viel sehen, New York, Amerika, den Pazifik von Westen nach Osten. Dann aber kam im Jahr 1998 Rose Kern vom ORF, sie wollte ein Filmportrait machen und fragte mich, ob ich einen Ort wüsste, an dem der Film gedreht werden sollte. »Ein Ort, egal wo in der Welt? Dann bin ich ganz kühn und sage Shanghai.« Sie war einverstanden, und ich gab ihr mein in blaue Seide gebundenes Kinderalbum, damit sie recherchieren konnte, wo ich als Kind mit meinen Eltern gewohnt hatte. Nun kamen wir nach Shanghai – und ich habe nichts wiedererkannt. Die neueren Viertel nicht, und nicht die wenigen alten Stadtviertel. Ich stand in einer Stadt, die mir dem Namen nach bekannt war, aber es gab keinen Ort, von dem ich sagen konnte, ach, ich erinnere mich, hier bin ich damals gestanden. Und selbst an dem berühmten Bund, dem damaligen Prachtboulevard, wo wir damals das amerikanische Schiff bestiegen und 1947/48 von Shanghai nach Bremerhaven gebracht wurden, kam nicht eine Erinnerung, auch nicht an das Peace Hotel am Bund mit der Jazz-Kapelle, in dem meine Eltern wohnten, wenn sie von Europa kamen oder nach Europa reisten, und in dem ich Eis und Schokolade bekam. Dann kam der Tag, an dem Rose Kern und ihr Team mich in die Amhurst Avenue führten in der ehemaligen Französischen Concession. Im Fotoalbum war unser damaliges Haus zu sehen, die Adresse stand unter dem Bild. Und wieder habe ich nichts wiedererkannt. Auch jedes andere Haus hätte unser damaliges Zuhause sein können. Die heutigen Bewohner kamen zu mir, ich stand da mit dem Fotoalbum in der Hand, bald war ich umringt von zehn, zwanzig chinesischen Männern und Frauen, alle gestikulierten, zeigten auf die Fotos, die Straße, das Haus. Wir hatten damals in Shanghai Pidgin-Englisch gesprochen, nur meine Großeltern, die ihr Leben in China verbracht hatten, sprachen sehr gut Chinesisch, doch ich verstehe wenig und ahnte daher nicht, dass sie mir mein ehemaliges Zuhause zum Kauf anboten. Am Angelteich im Jessfield Park Wir gingen in den Jessfield Park, im Fotoalbum gab es Bilder, wie ich dort mit meinem Vater einen herrlichen chinesischen Papierdrachen aufsteigen lasse. Schließlich kamen wir an einen kleinen See, um den viele Kinder saßen und angelten. Gegen ein geringes Entgelt konnte man eine Angel ausleihen und einen Eimer mit Wasser, als Köder bekam man ein paar Regenwürmer. Den Goldfisch, den man fing, durfte man dann in dem Eimer mitnehmen. Das Filmteam wollte eine Szene filmen, wie ich bei den Kindern sitze und angle. Und tatsächlich fing ich einen Goldfisch. Ich nahm ihn vorsichtig vom Haken ab, setzte ihn in den Eimer – und endlich kamen Erinnerungen an meine Kindheit zurück. Ich wusste, dass ich oft in diesem Park gewesen war, und ich verstand plötzlich ein Foto in meinem Album, das meinen Bruder und mich vor einer großen Aluminiumwanne sitzend in unserem Garten zeigte. In der Wanne schwamm ein Fisch. Meine Mutter konnte mir nie sagen, was dieses Bild bedeutete. »Hatten wir ein Aquarium?«, habe ich sie oft gefragt, »haben wir den Fisch im Sommer nach draußen getragen, damit er es dort kühler hat?« In dem Moment, als ich den erfolgreich gefangenen Goldfisch in den Eimer tat, wusste ich, ich war mit meiner chinesischen Amah hier gesessen. Und wohin mit dem Fisch, den man nach Hause nehmen durfte, wenn man kein Aquarium hat? In die Aluminiumwanne, die Wanne mit Hilfe der Amah in die Mitte des Gartens gestellt, mit einem Schlauch Wasser eingefüllt, damit der Fisch wieder schwimmen kann. Später erinnerte ich mich an Gerüche, an Mahlzeiten, die an der Straße zubereitet wurden, ich erinnerte mich an zwei silberblitzende kleine Flugzeuge direkt über unserem Garten. Sie flogen zueinander, flogen umeinander, tanzten und torkelten wie silberne Vögel. Plötzlich kam die Amah, holte uns schnell ins Haus und sagte voller Angst, wir sollten uns unter dem Bett verstecken. Aber wir entwischten ihr, weil wir weiter sehen wollten, was die beiden Silbervögel da oben trieben. Man sah kleine Blitze hin und her fliegen, und mit einem Mal leuchteten beide Silbervögel leuchtend rot auf und gelb und verschwanden weit hinten über der Stadt. Mein Vater erklärte uns am Abend, dass ein nordchinesisches und ein japanisches Flugzeug sich bekämpft hatten, weil Krieg war zwischen China und Japan, und dass beide Flugzeuge über Pudong abgestürzt waren. Wir machten uns weiter keine Gedanken darüber, ahnten nicht, dass Menschen dabei umgekommen waren, für uns war das ein aufregendes Schauspiel am Himmel. Baby-Album aus China Mit Amah, Shanghai 1942 Ich wusste nicht, was Krieg ist, aber ich wusste, was der Tod ist: Als ich mit meiner Mutter zum Einkaufen gehen durfte – wir hatten zwar Personal zum Kochen, Putzen, für die Wäsche und eben auch ein oder zwei Boys zum Einkaufen, aber manchmal wollte meine Mutter selbst einkaufen und ich als der Ältere durfte mit: Plötzlich, an einer Eisenbahnschwelle, wir überquerten die Gleise, lag da ein Stoffbündel. Ich sah, eingewickelt in den Stoff, einen Säugling. Und noch ein Stoffbündel. Und noch eines. »Was ist das?« »Lass uns schnell weitergehen.« »Nein, ich will wissen, was das ist!« »Das machen viele Chinesen. Weil sie viele Kinder haben. Auf diese Weise entledigen sie sich der Kinder. Manche drücken ihren Kindern die Fontanelle ein und töten sie gleich, wenn sie auf die Welt kommen. Andere machen es dann so, indem sie sie auf die Gleise legen.« »Kann man das Kind nicht retten?« »Natürlich könnte man es retten, aber es ist schon tot, und was sollten wir denn machen mit so einem kleinen Würmchen?« Davon habe ich immer wieder geträumt, von den toten Kindern auf den Gleisen und von den vielen kleinen weißen Kindersärgen. Ich hatte viele Ängste. Ich träumte oft, einsam zu sein, verlassen und allein in Shanghai durch die Straßen zu irren. Eines Tages war ich mit meinen Eltern im Zentrum von Shanghai, als eine riesige Menschenmenge auf uns zurannte. Alles schrie und brüllte. Ich stand plötzlich ganz allein, meine Eltern waren weggetrieben worden von der Menge. Ich stand unter Hunderten von Chinesen, weinte, sie hörten mich nicht, verstanden mich nicht, ich gestikulierte, sie stießen mich. Wie von einem Gespenst verjagt, rannten sie mit einem Mal alle weiter, und meine Eltern, die sich in einen Hauseingang gedrückt hatten, fanden mich mitten auf der Straße stehend wieder. In der Not keine Sprache zu haben – das ist ein nie vergessenes Erlebnis. Und endloses Alleinsein unter vielen fremden Menschen, wie damals, als ich mit meinen Großeltern eine Spazierfahrt in der Rikscha machen durfte. Ich hatte eine Rikscha für mich, meine Großeltern waren zunächst hinter mir, aber mein Rikschafahrer wurde immer schneller und schneller, und so konnte ich sie bald nicht einmal mehr sehen. Wieder vergingen Stunden, allein in einer riesigen rasenden, schreienden Menschenmenge. Als mich meine Großeltern wieder fanden, erklärten sie mir, dass die Menschen Hunger hatten und dass sie gegen die japanischen Besatzer demonstrierten. Im Kimono mit Ente, Shanghai 1943 Einmal war ich mit meiner Großmutter unterwegs, wir kamen zu einem Zauberer, der an der Straßenecke saß, ein Hypnotiseur, die Kunststücke haben mir keinen sonderlichen Eindruck gemacht, ein Europäer lachte sogar laut den Zauberer aus. Der Zauberer hat seine Vorführung unterbrochen, er hat den Europäer fixiert, wenige Sekunden, und der Mann fiel ohnmächtig zu Boden. »Wie ist das möglich?«, fragte ich meine Großmutter. »Der Zauberer hat das Gesicht verloren, achte darauf, dass du nie etwas tust, wodurch ein anderer sein Gesicht verliert. Der Zauberer nimmt den Mann, der ihn ausgelacht hat, mit den Augen in eine andere Welt, damit er zur Strafe das Bewusstsein verliert und umfällt.« Das hat mir zutiefst imponiert, dass man auf einen Menschen so eine Macht ausüben kann, nur mit den Augen. Ich habe das oft nachgespielt, mein kleiner Bruder war immer so nett umzufallen, als wäre er von mir erfolgreich hypnotisiert worden. Mit den Eltern Marion und Wilhelm Voss und Bruder Christian, Weihnachten, Shanghai 1943 Meine größte Liebe war die chinesische Oper, und mein höchstes Vergnügen als Kind war, chinesische Musik zu dirigieren. Nach einem...


Gert Voss (1941–2014) war einer der größten Schauspielstars seiner Generation. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen prägte er in vielseitigen Darstellungen das deutschsprachige Theater unter Regisseuren wie Claus Peymann, Peter Zadek, George Tabori oder Luc Bondy u. a. am Wiener Burgtheater, dem Berliner Ensemble sowie der Schaubühne in Berlin.

Grischka Voss, geboren in Braunschweig, Mitbegründerin und ehemalige Ko-Leiterin von "das bernhard ensemble". Seit 2017 Solo-Auftritte als freie Schauspielerin, Autorin und Regisseurin, u. a. im Theater Drachengasse und Dschungel Wien. 2020 Erfolg mit dem Ein-Frau-Stück "Bulletproof". "Nestroy" 2001, zahlreiche weitere Nominierungen. Sie versteht sich als Geschichtenerzählerin mit starken sozialen Anliegen.



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