Vuillard | Ballade vom Abendland | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 166 Seiten

Vuillard Ballade vom Abendland


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88221-409-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 166 Seiten

ISBN: 978-3-88221-409-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wir kennen alle Details des Ersten Weltkriegs, seinen Beginn, seinen Verlauf, sein Ende. Doch die Wahrheit über diese fundamentale Erschütterung des Abendlandes kennen wir nicht. Vuillard führt uns diese Unkenntnis mit seiner grandiosen literarischen Geschichtsrhapsodie vor Augen. Er vermischt die sonst säuberlich getrennten Perspektiven und fügt sie zu einem neuen Ganzen zusammen. Mit atemberaubenden, musikalisch komponierten Assoziationen verbindet er die große Politik mit dem Elend der Schützengräben, die Detonationen der Gasgranaten mit den gemeinsamen Tänzen der Mächtigen jenseits der Front. In der ?Ballade vom Abendland? wird die Geschichte zum Handelnden, erkennbar im Mosaik der Bilder, Vuillard will uns befreien, ernüchtern vom trunkenen Schwelgen in Tod, Opfer, Schlachten, Zerstörung und Heldentum.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l'Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

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Die Osterglocken hatten schon Mitte März geblüht. Dann war die Reihe an den Kirschbäumen, den Magnolien, all die weißen und rosafarbenen Büschel, die verwaist auf schwarzen Ästen wachsen. In diesem Jahr hatte man schöne weiße Blüten auf den Büschen gesehen, besonders dichte Blütenzöpfe, ungleich dichter als gewöhnlich. Es war ziemlich lange kalt gewesen und ganz plötzlich hatte wohl das mildere Wetter zu diesem dichten und seltenen Aufblühen aller Blumen gleichzeitig geführt. Auch der Ginster war in diesem Jahr besonders gelb gewesen, ein leuchtendes und frisches Gelb. Schon im April brach der Farn durch die feuchte Bodenkruste, seine eingezogenen Blätter rollten sich auf wie kleine Liebesbriefe, die zusammengefaltet in der Handfläche liegen und sich mit dem Fingernagel öffnen lassen. Der erste weit entfernte Donnerwirbel tönte am Himmel, sehr weit weg, aber da es keine Wolken gab, achtete man kaum darauf. Ein jeder lebte in seiner naiven Selbstgewissheit weiter, in seiner diffusen Privatheit, machte mit, arbeitete, ohne von den ersten Erschütterungen gestört zu werden. Die Wolken zogen über die Kirchtürme hinweg, überall zeigten sich Blumen in der lauen Luft, die Abende waren schön. Das Tagwerk schien plötzlich weniger mühsam, man beeilte sich, seine Verlobte nach der Fabrik zu treffen, vergaß die undankbare Mühsal vor dem hübschen rosigen Gesicht. Morgens verursachte die Kühle kaum ein leichtes Kratzen im Hals, eine Jacke reichte aus, auf einmal war man fast glücklich in die Werkstatt zu gehen, man freute sich, die anderen wiederzusehen, zu plaudern, banale Vertraulichkeiten mit ihnen zu wechseln. Manche flüsterten furchtbare Dinge, aber man hörte nicht hin; sie würden den Frühling schon nicht verderben. Die Jungen wandten sich oft zum ersten Mal an die Mädchen, in dieser sittsamen und stolzen Mundart, die eine Mischung aus Schule und Familie verrät, aber auch noch etwas Anderes, kaum Wahrnehmbares, das diese brutale Zärtlichkeit ausmacht, dieses Glück, zu zweit allein zu sein. Da steht man dann, unmögliche Geschwister, fremd. Man trifft sich eines Tages, beim Ball, auf der Kirmes, egal wo, es scheint einem geheimen Gesetz zu gehorchen, ein Glücksfall. Aber ob man sich bei den Eltern wiedersieht, sich im Kolonialwarenladen über den Weg läuft oder im Zug, man beobachtet einander, scheu und ungeschickt, macht sich schnell davon, um zu tun, als habe man sich nicht gesehen. Denn man hat Angst, Angst, der andere möge die heilige Lüge unserer Gleichgültigkeit brechen. Man will miteinander reden, sich umarmen, sich berühren, aber man hat Angst, und das ist dasselbe wie immer, es ist dasselbe Wollen und Angst-Haben, dasselbe Prickeln der Haut, derselbe Splitter. Und dennoch gehen die Jungen zu den Mädchen, bedeutungsvoll, ungelenk in ihren großen Holzpantinen. Die Mädchen, spöttischer, aber auch direkter, schauen ihnen mit roten Wangen entgegen, keck. Und das Verlangen lässt sich Zeit das ganze Herz zu überfluten, die ganze Spelze. Die Sonntage sind nun lang, immer länger, es sind lange Tage des Lichts und der Langeweile. Man schläft im Gras, mit vollem Bauch, ein bisschen angetrunken. Man tanzt am Ufer, man lacht, spuckt aus, trinkt. Wenn es regnet, suchen kleine Schwärme aus Kleidern und Rockschößen Schutz unter den Wellblechdächern, den hohen Bäumen. Sie lachen beim Laufen, klauben schnell zusammen, was herumliegt, die Jacken, die Tischdecken, die Körbe. Natürlich spürte man für Augenblicke eine unbestimmte Sorge, aber man weigerte sich daran zu denken. Wohl gab es ein paar Blitze, ein entferntes Grollen; die Spannung zwischen Frankreich und Deutschland war gestiegen, aber niemand wollte die Lage Europas gründlich überdenken. Man wollte lieber glücklich sein in diesem Frühjahr, wollte lieber stolz und glücklich sein. Sobald die Ellbogen auf dem Tisch lagen, der Hintern im Gras saß, wollte man an etwas anderes denken als an die Pflicht, an die Maschinen, an die Schwierigkeiten. Die Nadelstiche zu ignorieren bedeutete, noch einen Augenblick auf das Plätschern der Marne hören zu dürfen, zu träumen. Denn sie wollten noch träumen, diese jungen Männer und Mädchen im Jahr 1914, sie wollten noch von dem kaum Greifbaren träumen, von dieser kühlen Hand im Gras, von diesem Kuss, den sie sich, ohne es einander zu sagen, seit Anbeginn der Zeiten versprochen hatten. Sie wollten mit aller Kraft diese zarte Haut, diese billige Zigarette, diesen schlechten Wein, diese in der Strömung zurückgelassene Barke. Alle hatten das Gefühl, es gebe gar keine andere Wahl als glücklich zu sein. Es war wie in jedem Frühjahr, und vielleicht noch ein bisschen stärker als sonst; man sagte ja, nachdrücklicher als gewöhnlich. Und so, ihrer Rechte und ihrer Wünsche sicher, einfach in ihrer Liebe – in diesem Augenblick des Lebens, der sich nicht erzählen lässt, weil das Leben weiß, dass es in diesem Moment nicht mehr der Erzählung gehört, ihr entgleitet, sie überrollt, dass es sich selbst überall ausdehnt und nicht den kleinsten Platz lässt, nicht den schmalsten Spalt, um sich zu erklären und darzustellen –, so randvoll von sich selbst erfüllt, mitten im großen frühlingshaften Toben, in ihrem Fleisch nur einen winzigen Funken Zweifel, berauschten sie sich. Die Stimme, die singt und flüstert, die rosige Wange, hoffend, der geschmeidige Körper, das alles weigert sich, ein anderes Lied zu hören. Das alles verfängt und kratzt sich an der Dorne, ohne es zu merken. Und doch ist alles da, offensichtlich, einmalig; eine Jugend, die sich rüstet und es nicht weiß, das Unglück in Reichweite, von Schnauzen beschnüffelte Gesichter, das weiße Kleid, das zerreißen wird. Man will ihnen »Achtung!« zurufen, will sie warnen, aber man weiß nur zu gut, dass das nichts bringt, weiß, dass sie nichts hören wollen. Sie wollen sich vom anbrechenden Tag einlullen lassen. Und man muss sich diesen grandiosen Schnitzer ausmalen, der gerade eingefädelt wird, die Zwietracht zwischen einer jungen Welt, voller Herzenslust, und dem Speer im Hinterhalt – die Fratze. Denn schon knistert die Welt, schon haben die Erzherzöge Aufstellung genommen, schon gerät etwas ins Stottern und produziert, was an Granaten und Kanonen gebraucht werden wird. Der Krieg ist eine Überraschung, die vorbereitet werden will. Hohe Stirnen beugen sich herab, wägen ab. Die Angst späht nach Fehlern, bügelt die Falten aus, brennt vor Ungeduld. Man bereitet seine Rede vor. Der Rost ist fertig, die Kelle schabt über die Mauer, man wird das Fleisch brechen können wie Brot. Die Herden junger Ziegen mit ihren feuchten Lippen, ihren schmalen Hufen, werden langsam an die Vorstellung von Blut gewöhnt. Seit ihrer frühesten Kindheit präsentiert man ihnen den Tod im Gewand von Ruhm und Theater; sie tun so, als glaubten sie es, gehen von der Schule ab und vergessen. Immerhin erinnern sie sich, dass man sie vielleicht brauchen wird, ihren unversehrten und gesunden Glauben. Man wird sie vielleicht brauchen, um eine große Schlange zu zertreten, später, ein andermal. Der glühende Scheit ist in ihr Fleisch eingegraben, an der richtigen Stelle; ein Strohfeuer wird reichen, mehr nicht; alles andere wird sich finden. In der Schule erzählt man ihnen von einem Feind, einem Gewitter; und wenn es sein muss, werden sie rennen, nicht mehr an den Fluss oder zur Gartenlaube, sondern in den Tod. Sie träumen von dem, was ihnen gesagt wurde, und stellen sich vor, wie sie die Welt für einen nicht mal Sekunden währenden Krieg zu Pferde durchqueren, Blut, Schreie, der Triumphbogen; ein Ritt und dann – die Geburt. Doch es ist der Tod, der dort hinter der Ecke lauert, gierig und verlogen geduldig. Er ist es, der von Sarajevo spricht, von der Mobilmachung, der Ehre und dem ganzen Rest. Schnell werden die Soldaten verstehen, dass man sie für etwas ganz anderes als das, was ihnen erzählt wurde, hierhin gelotst hat, schnell werden sie wissen, dass die Pflicht, das Vaterland, Deutschland und Frankreich – nun ja! – Redensarten sind, Geschichten, die ihnen aufgetischt werden, um sie weit von Zuhause wegzulocken. Sie werden all das sehr schnell, aber zu spät begreifen. Sie werden sehen, dass ihr eigenes Leben gegenwärtig nichts mehr wert ist, dass ganz andere Interessen an Bedeutung gewinnen, dass ihr gesamtes Leben requiriert, verkauft und in ein großes, für sie unsinniges Opfer gestürzt wurde. Schnell werden sie sehen, dass sie zu einem grauenhaften Stelldichein geschleift wurden, dass sie um alles gebracht wurden, was sie kennen, und dass sie, aus freien Stücken oder gewaltsam, die herrliche Frische opfern sollen, um die man sie beneidet. Sie sehen klar, dass man sie herbestellt hat, damit sie dieses einfache Glück und ihre Freude verlieren. Sie sehen, wie sich ihnen alles entzieht, was sie leben wollten. Und in diesem Alptraum, in den sie gesteckt wurden, könnte man bei genauerem Hinsehen etwas von dem vergangenen Winter finden, etwas von der Arbeit, die sie vergessen wollten, als sie sich an der frischen Luft erquickten. Denn wieder sind es die Maschinen, sind es die robusten Stahlgelenke, die Geräusche, die Befehle, die fehlende Liebe. Es...


Denis, Nicola
Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, lebt als Literaturübersetzerin und Autorin im Westen Frankreichs. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard und Vinciane Despret.2021 erhielt sie den renommierten Prix Lémanique de la traduction, 2023 den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis. 2022 erschien ihr literarisches Debüt  »Die Tanten «.

Vuillard, Éric
Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l'Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für Die Tagesordnung den renommierten Prix Goncourt.



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