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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 70, 78 Seiten

Reihe: FILM-KONZEPTE

Waack Mia Hansen-Løve

E-Book, Deutsch, Band 70, 78 Seiten

Reihe: FILM-KONZEPTE

ISBN: 978-3-96707-822-0
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mia Hansen-Løve hat sich international einen Namen gemacht für ihre meditativen Filme – und gilt heute als eine der interessantesten Regisseurinnen ihrer Generation. Erstmalig im deutschsprachigen Raum versammelt der Band Beiträge zu ihrem Filmschaffen, verortet es innerhalb der französischen Filmlandschaft und gibt Einblick in das spezifisch Zeitgenössische ihrer Erzählweise. Da die Filme eigenwillig nah um ihre Biografie herum organisiert sind, scheint es naheliegend, ihr Werk mit der Figur der Autorin zu verklammern: Von Amy über Maya bis Camille tragen die Filmfiguren Anagramm-Namen der Regisseurin. Zugleich handelt es sich um Codeformen, die auch eine Differenz zu ihrem Leben anzeigen und auf die Gefahr einer Verwechslung hindeuten. Mit Blick auf die Kurz- und Langfilme von Mia Hansen-Løve wird die Frage gestellt, welches ästhetische Programm sich darin artikuliert und wie sich dieses mit Blick auf z. B. philosophische, feministische oder musikalische Intertexte ausbuchstabieren lässt. Dabei treten Themen wie Trennung, Trauer und Resilienz in Zusammenhang mit spezifischen filmischen Gestaltungsweisen, etwa einer besonderen Temporalität.

Mit Texten von Kate Ince, Till Kadritzke, Elena Meilicke, Hannah Pilarczyk und Linda Waack.
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Elena Meilicke L’AVENIR und Mia Hansen-Løves kinematografische Poetik der Liquidation
Fast mag man es nicht mehr lesen, auch wenn es stimmt: Irgendwie flüssig und fließend erscheinen die Filme von Mia Hansen-Løve ihren Kritiker:innen. Immerzu finden sie darin den Fluss des Lebens und den Strom der Zeit repräsentiert, aufgezeichnet von einer fluiden Kamera und aufgehoben in einer narrativen Fließbewegung. Bewundert wird der flow, hervorgehoben die stylistic fluency der Hansen-Løve-Filme.1 Auch wenn diese Beschreibungen durchaus zutreffend sind, macht mich die Wiederholung und Häufung dieser Charakterisierungen und Metaphern in den Texten, die sich mit Hansen-Løves Kino beschäftigten, ein wenig skeptisch. Widerstand regt sich in mir, ich spüre einen Anflug von Argwohn. Denn es stellt sich die Frage, inwiefern mit solchen Beschreibungen nicht überkommene und stereotype Deutungsmuster reaktiviert und perpetuiert werden, seien sie nun beabsichtigt oder nicht. Ich meine die uralte Verknüpfung von Fließen und Weiblichkeit. Immer wieder in der abendländischen Kulturgeschichte wurden weibliche Körper mit Wasser-Attributen versehen, als fließend und formlos beschrieben, wurden umgekehrt Flüsse und Meere in weibliche Allegorien gefasst. »Es ist«, schreibt Klaus Theweleit in seinen Männerphantasien über diesen traditionsreichen Komplex, »ein Fluß ohne Ende und riesig breit, der so durch die Literaturen fließt. Immer wieder: die Frau aus dem Wasser, die Frau als Wasser, als brausendes, spielendes, kühlendes Meer, als reißender Strom, als Wasserfall, als unbegrenztes Gewässer, durch das die Schiffe treiben, mit Seitenarmen, Tümpeln, Brandungen, Mündungen; die Frau als lockende (oder gefährliche) Tiefe, als Becher, in dem der Saft sprudelt, die Vagina als Welle, als Schaum, als dunkler Ort, umrahmt von Pazifikkränzen (...).«2 Unzählig sind die Geschichten und Darstellungen von Sirenen, Nixen, Nymphen, Melusinen und Undinen – verführerische, oft aber auch todbringende Wasserfrauen, in deren Darstellung erotische Verehrung und misogyne Verachtung gleichermaßen präsent sind. Vor dem Hintergrund dieser langen, mindestens ambivalenten Tradition lässt es auf horchen, wenn das Werk einer Filmemacherin ständig und immer wieder mit Attributen des Flusses und des Fließens in Verbindung gebracht wird, selbst wenn das aus einer vordergründig affirmativen und wohlmeinenden Haltung heraus geschieht.3 Ich will im Folgenden versuchen, dieser Rezeption und ihren problematischen Implikationen und Kurzschlüssen – à la »weibliche Regisseurin macht irgendwie weibliche Filme, in denen alles fließt und strömt, wunderschön, aber auch flüchtig und schwer in Worte zu fassen« – etwas entgegenzusetzen; und zwar nicht, indem ich die Kategorie des Fließenden als Beschreibungsmatrix für Hansen-Løves Kino zurückweise oder verwerfe, sondern, im Gegenteil, indem ich sie ernst nehme und ihr nachgehe. Dabei möchte ich zum Einstieg vorschlagen, sich dem Flüssigen und Fließenden bei Hansen-Løve anders als metaphorisch zu nähern – über das Wasser nämlich oder vielmehr: über die Gewässer, die in ihnen fließen. Treiben wir für den Anfang ein wenig Motivgeschichte. Hansen-Løves Protagonistinnen sind Wasserratten. In so gut wie jedem ihrer mittlerweile acht Langspielfilme gibt es ausgedehnte Badeszenen. Nur im Wasser, beim Schwimmen im Fluss oder an der dänischen Küste kann etwa Camille, die unglücklich Liebende aus UN AMOUR DE JEUNESSE (EINE JUGENDLIEBE, 2011), zu sich selbst kommen, ein wenig Linderung ihres unablässig heiß brennenden Liebesschmerzes erfahren. Und in Hansen-Løves Debütfilm TOUT EST PARDONNÉ (2007) sieht man Pamela, gerade erst der Kindheit entwachsen und auf der schwierigen Suche nach ihrem verlorenen Vater, mit einer Gruppe kleinerer Kinder im tiefgrünen Flusswasser waten und Kaulquappen fangen – ein Moment selbstvergessener Konzentration. In LE PÈRE DE MES ENFANTS (DER VATER MEINER KINDER, 2009) spaziert Sylvia, nach dem Selbstmord ihres Mannes, mit ihren drei Töchtern ein Flussufer entlang. Das Wasser strömt träge, am anderen Ufer sieht man die Pappeln im Abendlicht; ein idyllisches Bild, das Ruhe und Frieden verspricht. In einer weiteren herausragenden Wasser-Szene dieses Films sieht man eine von Sylvias kleinen Töchtern in einer Höhle baden, wie die Filmwissenschaftlerin Emma Wilson beobachtet hat: »(W)e see a close-up of her head in the opaque, pale water of the pool. (...) The image of her face amidst the opacity of the water is at once vivid, dimensional and otherworldly. She sinks under and emerges again, her disappearance into the milky liquid seeming almost a figure for the intermittence of identity, for its rhythmic, serial qualities. Hansen-Løve finds an elemental, liquid setting for a scene that interrupts her narrative, and immerses the viewer suddenly and unexpectedly in the sensory field of a girl protagonist.«4 Im Wasser, so ließen sich diese ersten Befunde zusammenfassen, sind Hansen-Løves Protagonistinnen ganz bei sich und die Zuschauer:innen dürfen ihnen dabei nah sein. L’AVENIR (ALLES WAS KOMMT, 2016) Auch L’AVENIR (ALLES WAS KOMMT, 2016) beginnt auf dem Wasser. Zu sehen sind hier aber nicht das stete Fließen eines Flusses oder der eng abgesteckte, geschützte Raum eines natürlichen Beckens, sondern ein wilderes, weniger badetaugliches Wasser. Zu sehen ist ein Wasser, das dem Wechsel der Gezeiten unterworfen ist und neben der Flut auch die Ebbe kennt – das Meer. Die erste Einstellung des Films zeigt ein Boot, eine kleine Fähre, die von Saint-Malo an der bretonischen Küste zur Insel Grand-Bé im Ärmelkanal übersetzt. Das Meer spielt auch in Hansen-Løves siebtem Langspielfilm BERGMAN ISLAND (2021) eine hervorgehobene Rolle, einem Ehe- und Liebesdrama, dessen Schauplatz die dänische Ostseeinsel Fårö ist. Im 19. Jahrhundert beschrieb der deutsche Geograf und Technikphilosoph Ernst Kapp die Weltgeschichte als Abfolge dreier Kulturformen, die in Abhängigkeit von ihrem Wasserbezug charakterisiert sind, und unterschied dabei »potamische« Kulturen – gemeint sind Flusskulturen wie das alte Ägypten und Mesopotamien – von »thalassalen« und »ozeanischen« Kulturen; während erstere um Binnenmeere herum organisiert sind (Griechen und Römer), sind letztere auf die Weltmeere ausgerichtet (Spanier, Engländer). Ganz frei nach Ernst Kapp legt das Auftauchen des Meeres in den letzten Filmen von Hansen-Løves dann die Hypothese nahe, dass das Werk der Filmemacherin nach einer potamischen Frühphase mittlerweile in eine thalassale Phase übergegangen sein könnte und eine ozeanische vielleicht noch aussteht.5 In L’AVENIR jedenfalls ist es ein Ferienausflug ans Meer, der dem Film als Prolog dient: Gemeinsam mit ihrer Familie besucht Nathalie (gespielt von Isabelle Huppert), die als Philosophielehrerin an einem Pariser Gymnasium arbeitet, das Grab des Dichters Chateaubriand. Ins Bild gesetzt wird dabei vor rauer Meereskulisse auch gleich, worum es in der Folge gehen wird. »Kommst du?«, fragt der Mann und zerrt an der Frau, die Tochter an den Eltern, die Frau am Mann. So erweist sich das Familiengebilde von Anfang an als schön anzuschauendes, aber prekäres und unter Spannung gestelltes.6 Nur einen kleinen Schnitt und großen Zeitsprung später bricht diese Familie auseinander. Nathalie ist jetzt um die 50, 60 Jahre alt, die Kinder sind aus dem Haus, der Mann hat eine andere, ihre Mutter liegt im Sterben. L’AVENIR zeigt »das Leerwerden eines Lebens«7 und findet dafür starke Bilder. Auf der Suche nach Handyempfang schleppt sich Nathalie einmal durchs Watt und stakst über pieksige Muschelbänke. Eine Frau auf dem Trockenen. Wie umgehen mit Verlust und Verlassenwerden, wie dabei nicht starr werden, sondern flüssig, geschmeidig und weich bleiben, wie weiterleben? Wie (trotz Ebbe und Dürre und Wüste) hin und zurück zum Wasser kommen – das ist die Frage, die alle Hansen-Løve-Filme stellen, das ist der narrative Bogen, den sie stets schlagen. Besonders eindrücklich zeigt das LE PÈRE DE MES ENFANTS, Hansen-Løves zweiter Film. Ihm gelingt etwas scheinbar Unmögliches, indem er die Geschichte einer fröhlichen Liquidation erzählt. Im Mittelpunkt steht der Filmproduzent Grégoire, der sich das Leben nimmt, als seine Produktionsfirma vor dem Bankrott steht (und dessen Geschichte an das Schicksal des wirklichen Filmproduzenten Humbert Balsan angelehnt ist, der Hansen-Løve bei der Realisierung ihres Debütfilms unterstützt hatte).8 Im Film nimmt seine Witwe Sylvia seinen Platz ein und unternimmt Anstrengungen, Moun Films zu retten, aber es ist umsonst: Auftritt des Insolvenzverwalters (frz. le liquidateur). »C’est qui, le liquidateur? Qu’est-ce qu’il fait?«, fragt eine von Sylvias und Grégoires kleinen Töchtern die Mutter. »Il liquide«, lautet Sylvias lakonische Antwort, in der das Flüssigmachen natürlich enthalten ist. Die kleinen Mädchen toben durch das Büro ihres toten Vaters, stecken herumliegende Filmschnipsel und übriggebliebene Visitenkarten ein und verabschieden sich am Ende höflich vom alten Insolvenzverwalter, der so freundliche Augen hat: »Au revoir, Monsieur le liquidateur!« ...


Köhler, Kristina
Kristina Köhler ist Juniorprofessorin für Kunst- und Mediengeschichte der Bildmedien an der Universität zu Köln. Zuvor war sie Juniorprofessorin in Mainz sowie Assistentin und Oberassistentin in Zürich.

Liptay, Fabienne
Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Aspekte der Bildlichkeit und Erzähltheorie des Films sowie die Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Medien und Künsten.

Waack, Linda
Linda Waack ist Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Von 2016 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, zuvor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Schweinitz, Jörg
Jörg Schweinitz ist emeritierter Professor für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der "Film-Konzepte", der Zeitschrift "Montage AV" sowie mit Margrit Tröhler der Reihe "Zürcher Filmstudien".

Linda Waack ist Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Von 2016 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, zuvor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.


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