Wackwitz | Fifth Avenue | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Wackwitz Fifth Avenue

Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400806-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-10-400806-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Fifth Avenue im Herzen New Yorks ist die Hauptstraße des 20. Jahrhunderts. Schnurgerade geht ihr Lauf durch die Kulturgeschichte der Moderne. Einige der berühmtesten Museen der Welt liegen an ihr und epochale Bauwerke wie das Empire State Building. Stephan Wackwitz folgt ihr von einem unscheinbaren Verkehrskreisel in Harlem bis in die Künstlerwelten von Greenwich Village. Er trifft die mächtigen Kuratoren des Metropolitan Museum, erhält Zugang zu den Wohnungen der Superreichen am Central Park und beschreibt die exaltierten Bewohnerinnen von Midtown Manhattan. Und zeichnet in einzigartig persönlicher Weise das Bild eines von Erinnerungen, Träumen, Sehnsüchten und Visionen unaufhörlich belebten Weltboulevards.

Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016
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Musik


Die Fifth Avenue entspringt (denn wir erzählen in Richtung des Verkehrsflusses von der berühmten New Yorker Einbahnstraße) am nordöstlichen Stadtrand von Harlem. An einem strahlenden Samstagnachmittag im März 2008 habe ich mich in die unansehnliche, vage heruntergekommene Stadtlandschaft am Harlem River verirrt, wo der Weltboulevard seinen Ausgang nimmt. Das Flussufer riecht nach Wasser und Verwesung. Eine Brücke aus Stahlträgern führt in die Bronx hinüber. Lagerhäuser und backsteinerne Sozialwohnungen nehmen quadratkilometerweit kein Ende. Der Highway, der die Insel Manhattan einfasst, wütet hinter einer Absperrung vorüber. Er folgt dem Verlauf des Harlem River von Nord nach Südost zum East River. Eine ihrer ästhetischen Absichten nicht ganz gewisse Stadtplanung hat das Dreieck, das durch die Begegnung von diagonalem Flussverlauf und rechtwinkligem Straßengitter zustande gekommen ist, auf der Mitte der Straßenkreuzung in Gestalt eines kaum vorgartengroßen Verkehrsinselparks wiederholt. Drei kleine Bäume. Zwei unbequeme Bänke. Pflegeleichtes Bodengehölz. Vom unablässig wehenden Wind der Flusslandschaft hergetragene Plastiktüten haben sich in ihm verfangen. Zigarettenkippen. Werbeprospekte, wie man sie in Hauseingängen findet und irgendwo wegwirft, vergilben im Rinnstein. Und inmitten der Vernachlässigung steht und glänzt im kalten Frühlingssonnenlicht ein drei Meter hoher Obelisk aus dunkelgrauem Granit.

Einen Moment lang ist er ein Zitat aus den Anfangsszenen von Stanley Kubricks »2001 – Odyssee im Weltraum«. Wenn man sich nicht entschließen will, den wie vom Himmel in diese denkbar unpassende Gegend gefallenen Stein auf eine schwer greifbare Weise unheimlich zu finden, ist er entschieden rührend in seinem rudimentären und schmutzigen Miniaturpark – und deswegen wie alles Rührende auch ein bisschen lächerlich. Obelisken sind seit dem frühen 19. Jahrhundert die schwersten, die geheimnisvollsten, die ultimativ dramatischen Zeichen repräsentativer Städtebaukunst gewesen. 1836 wurde der Obelisk von Luxor auf der Place de la Concorde in Paris aufgestellt. Nicht lang zuvor war die riesige Freifläche zwischen Stadt und Palast nach der Revolution benannt gewesen und hatte die Guillotine beherbergt. Die von undeutbaren Bildern bedeckte Steinsäule aus dem fremden Land war dort aufgerichtet als nicht zu entzifferndes und deshalb auf alles Erdenkliche verweisendes Zeichen eines wiederhergestellten Zusammenhangs der Stadt, des Landes, der Lebenden und der Toten (die Ägypter symbolisierten in diesen seltsamen, eleganten und unübersehbaren Stelen, wie man vermutet, die Strahlen des Göttlichen, das in ihnen auf die Erde trifft). Seitdem ließ sich jedes Beaux-Arts-Stadtbild des 19. Jahrhunderts angelegen sein, einen wirklich aus Ägypten herangeschafften oder vor Ort selbst behauenen Obelisken an denjenigen Plätzen, Embankments und Promenaden aufzustellen, wo es besonders mysteriös, bedeutungsreich und romantisch zugehen und den Spaziergänger anmuten sollte.

Allerdings hat der Obelisk am Ursprung der Fifth Avenue nichts von der Größe, der Verwittertheit, der Authentizität zum Beispiel des sogenannten »Obelisken von Heliopolis«, der ein paar Kilometer südlich von hier zwischen Metropolitan Museum und Central Park steht (der New Yorker Industriefürst William H. Vanderbilt hat ihn im späteren 19. Jahrhundert aus Ägypten hierher transportieren lassen). Doch sind auch die goldenen Inschriften des kleinen Monuments in Harlem fast hieroglyphenhaft geheimnisvoll, und ihr Sinn wäre nicht zu enträtseln, wenn nicht eine grünweiße Erklärungstafel der Stadtverwaltung einen ins Bild setzen würde. Die französischen Ortsnamen nämlich, die kryptischen Datumsangaben, das Symbol der drohend aufgerollten, zum Vorschnellen bereiten Schlange und die zugleich umständliche wie lakonische Truppenbezeichnung »369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored)«, erfährt man, verweisen auf eine Einheit der US-Nationalgarde. Als regulärer Truppenteil der vierten Armee der französischen Republik hat das hier geehrte 369. Infanterieregiment nach 1917 gegen das Deutsche Kaiserreich gekämpft (und gegen meinen Großvater, dachte ich sofort, der als Offizier damals in Flandern stand). Allein bei der Befreiung des Fleckens Sechault in den Ardennen fiel ein Drittel der Einheit. Die Überlebenden des Kriegs wurden nach ihrer Rückkehr mit einer Parade geehrt, die vom Washington Square aus die gesamte Fifth Avenue stadtauswärts nach Harlem entlanggeführt hat – bis zu dem seltsamen Platz, auf dem wir jetzt stehen und in der Märzsonne blinzelnd uns einen Reim auf die goldenen Inschriften des kleinen grauen Obelisken zu machen versuchen.

Die »Harlem Hellfighters«, wie das »369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored)« der New Yorker Nationalgarde sich irgendwann selbst getauft hat und von seinen weißen Kameraden bald immer respektvoller genannt werden sollte, ist eine rein afroamerikanische Einheit gewesen (in der American Army herrschte zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch ). Nach dem Eintritt der USA in den Krieg im April 1917 wurden die »Hellfighters« in die Armee übernommen. In South Carolina trainierte man sie unter dem rassistischen Hohngelächter der Einheimischen als eine Art Exotikum auf Gefechtsbedingungen. Und am Neujahrstag des Jahres 1918 schließlich betrat mit dem »369th Infantry Regiment« ein Gepäckträger und Mietpage aus Albany im Staat New York den in schon vier entsetzlichen Jahren umkämpften Kontinent Europa: Henry Lincoln Johnson. Diesem Mann wird unsere Erzählung jetzt eine Weile lang folgen, bis seine Gestalt sich wieder in den Atmosphären, Erinnerungen und Geistererscheinungen verflüchtigen wird, die in dem kleinen vernachlässigten Verkehrsinselpark am Ursprung der Fifth Avenue umgehen.

Man weiß im Grunde nicht viel von Henry Lincoln Johnson. Er war 1897 irgendwo im Süden zur Welt gekommen, noch vor der Übersiedlung der Familie nach New York State. Sein zweiter Vorname lässt darauf schließen, dass seine Eltern gehofft haben, mit ihrem Kind der Erinnerung an die Sklaverei, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch schwer auf den amerikanischen Südstaaten gelastet hat, in erfolgversprechendere Gegenden zu entfliehen. Aber es war dann doch nur ein professioneller Lastenträger aus Henry Lincoln geworden, der sich in Albany am Bahnhof bereithielt, um gegen Entgelt Golfausrüstungen, Hutschachteln, Seekisten und Koffer in Autos zu verladen oder auf Hotelzimmer zu schleppen. Auch seine Karriere in Nationalgarde und Armee war lange Zeit unspektakulär verlaufen. Bis am 14. Mai 1918 Private Johnson im Niemandsland zwischen den Fronten des Argonner Walds einen verwundeten Kameraden zu seiner Einheit zurückbegleitete und in einen Spähtrupp von dreißig bis vierzig deutschen Soldaten hineinlief, die das Feuer eröffneten. Johnson wurde in dem sich nun entfaltenden Schusswechsel verwundet. Er scheint einen Moment in Ohnmacht gefallen und für tot liegengelassen worden zu sein, während die Deutschen seinen Kameraden in die Gefangenschaft davonführten.

Nun passierte Folgendes: Henry Lincoln Johnson erlangte nach kurzer Zeit das Bewusstsein wieder und sah sich ohne seinen Schutzbefohlenen allein im Schlamm des Argonner Waldes liegen. Er stand trotz seiner schweren Verwundung irgendwie auf, nahm – offenbar vollkommen von Wut und Adrenalin – sein noch geladenes Gewehr an sich, setzte dem deutschen Spähtrupp, seine Waffe leerschießend, nach und warf sich, ausgerüstet mit nichts als seinen Fäusten und dem sogenannten »Bolomesser«, einer unterarmlangen Machete, auf den Feind, dessen Verblüffung in einen entscheidenden taktischen Vorteil umwandelnd. Der sich rücksichtslos in die völlig aus dem Konzept gebrachten deutschen Pioniere hineinkämpfende (dabei, wie gesagt: selbst schwer verwundete) Henry Lincoln Johnson ließ eine beispiellose Schneise der Vernichtung hinter sich. Der Entfesselte tötete vier deutsche Soldaten, verwundete um die zwanzig, schlug die übrigen in die Flucht, kümmerte sich eine Nacht lang um seinen Kameraden und wurde erst im Morgengrauen von seinen scheu staunenden Kameraden entsetzt.

Die Nachricht vom Amoklauf des Gepäckträgers aus dem amerikanischen Albany verbreitete sich mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrands bei Freund und Feind. Henry Lincoln Johnson wurde im französischen Heeresbericht erwähnt und erhielt das »Croix de la guerre«. Das 369. Infanterieregiment sollte wenig später auch als Einheit diesen Orden erhalten und wurde weithin berühmt als eine der tapfersten Truppen des großen Krieges. Der Mann jedoch, der in einem einzigen, nie mehr zu vergessenden Lebensmoment eine generationenalte Wut auf den weißen Mann im Rahmen des militärisch Zulässigen und Erwünschten in sich befreit und eine gar nicht mehr übersehbare Schuld der Weißen an deutsche Soldaten zurückgezahlt hatte, wurde wie so viele Veteranen aus dem ersten großen Krieg des 20. Jahrhunderts nicht mehr heimisch in der Welt. Militärische Heldenstücke wie das von Henry Lincoln Johnson am 14. Mai 1918 vollbrachte sind vielleicht nur zu erklären durch die Annahme eines in vielen (vielleicht allen) Menschen bereitliegenden Dispositivs der Tötungslust. In bestimmten Extremsituationen von Angst und Wut entlädt es sich (das ist die eine Möglichkeit)...


Wackwitz, Stephan
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹, ›Die Bilder meiner Mutter‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹, ›Fifth Avenue‹ und ›Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan‹.

Literaturpreise:

Wilhelm-Müller-Preis 2010
Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012
Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016

Stephan WackwitzStephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, studierte Germanistik und Geschichte in München und Stuttgart. Er leitet heute das Goethe-Institut in Tiflis, nach Stationen in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio, München, Krakau, Bratislava und New York. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen von ihm Romane (›Die Wahrheit über Sancho Pansa‹, ›Walkers Gleichung‹), autobiographische Bücher (›Ein unsichtbares Land‹, ›Neue Menschen‹, ›Die Bilder meiner Mutter‹) sowie die Reisebücher ›Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen‹, ›Osterweiterung‹, ›Fifth Avenue‹ und ›Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan‹.

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Wilhelm-Müller-Preis 2010
Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012
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