E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Wade Und dann kamst du
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96122-412-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman.
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-96122-412-8
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Becky Wade steht für unterhaltsame zeitgenössische Romane und einen humorvollen und mitreißenden Schreibstil, der ihr bereits mehrere Auszeichnungen eingebracht hat. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Dallas, Texas.
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Kapitel 1
Sich plötzlich auf Gnade und Barmherzigkeit einem irren Amokschützen ausgeliefert zu sehen, ist ganz und gar nicht lustig.
Ganz und gar nicht, dachte Nora Bradford. Wirklich überhaupt nicht. Nicht einmal dann, wenn der besagte Amokschütze ein Schauspieler war, der mit einer Gewehrattrappe herumfuchtelte, und man selbst sich freiwillig und aus noblen Gründen bereit erklärt hatte, die Rolle der Geisel zu spielen.
Wenn man ihrer Schwester Britt glauben wollte, dann inszenierte Lawson Training Incorporated Notfallsituationen wie die, in der sie gerade mitten drinsteckte, als Höhepunkt jedes Kurses, den das Unternehmen anbot. Heute waren die Teilnehmer Sozialarbeiter der Gemeinde Centralia. Direkt hinter der Wand des Raumes, in den Nora und Britt eingeschlossen worden waren, suchten die Sozialarbeiter nach einer strategisch geschickten Reaktion auf einen Pseudofeind, der versuchte, dieses Pseudobürogebäude in seine Gewalt zu bringen.
Angesichts des gegenwärtigen Zustands der Welt glaubte Nora ganz sicher daran, dass es seinen Wert hatte, auf Notfälle vorbereitet zu sein und zu wissen, wie man sich im Fall der Fälle verhalten sollte. Tatsächlich hatte Nora nur deshalb zugestimmt, ihre Schwester heute zu begleiten, weil Britt ihr diesen Ausflug als Möglichkeit dargestellt hatte, proaktiv etwas für den Frieden in der Welt zu tun. Und Nora wollte Frieden in der Welt! Nur dass jetzt mit jeder Minute, die verstrich, ihre Gewissheit wuchs, dass sie für die Rolle der Geisel ganz und gar ungeeignet war. Ihre jahrzehntelange Liebe zum Lesen hatte in ihr eine sehr lebhafte Vorstellungskraft ausgeprägt.
In ihren Ohren klangen die aufgeregten Kommandos des Gangsters erschreckend echt.
Seit der „Angriff“ begonnen hatte, war ihre Anspannung beständig gestiegen. Jetzt saß sie ihr im Nacken, und die Nervosität verursachte in ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie hätte sich besser als Freiwillige für die Suppenküche in ihrer Gemeinde melden sollen, um etwas für den Weltfrieden zu tun. Das wäre definitiv eher etwas für ihre Nerven.
Zornige Stimmen drangen durch die Wand, gefolgt von ein paar Angstschreien.
Nora schluckte. Angstschreie? Sie konnte nur hoffen, dass die Freiwilligen, die die Büroangestellten spielten, sich einige künstlerische Freiheiten erlaubten.
Britt schien den ganzen unheilschwangeren Aufruhr überhaupt nicht wahrzunehmen. Natürlich. Sie war vier Jahre jünger als Nora, das Nesthäkchen der Familie, und die Unerschrockenste von allen.
Britt schob ihre Fingerspitzen unter den Rand des einzigen Fensters im Raum und probierte, es aufzuziehen. „Ich glaube, wir sollten versuchen zu fliehen.“ Sie warf Nora ein Lächeln von der Art zu, wie sie es ihr auch immer geschenkt hatte, wenn sie irgendwelche nicht ganz koscheren kindlichen Abenteuer vorgeschlagen hatte. Ihre Augenbrauen zuckten vergnügt in die Höhe.
„Nein“, antwortete Nora entschlossen. „Der Gentleman, der uns diesen Raum hier zugewiesen hat, sagte eindeutig, wir sollen nichts anderes tun, als hier zu warten.“ Sie sagte es in einer Art, als wäre sie die Ruhe in Person. „Wenn wir entdeckt werden, sollen wir auf die Situation, die sich dann ergibt, so reagieren wie im echten Leben.“
„Genau das tue ich gerade! Nämlich, das Ganze als Herausforderung zu betrachten. Weißt du – wie in diesen Escape-Spielen, die gerade so in sind.“
„Das hier ist kein Spiel. Wir sind hier, um den Kursteilnehmern Anschauungsunterricht zu geben. Es geht hier doch nicht um uns.“
Britt zog noch ein paarmal kräftig am Fensterrahmen, bevor sie zurücktrat und die Hände in die Hüften stemmte. Langsam drehte sie sich um und ließ den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Der enthielt nichts außer einem Schreibtisch und dem Stuhl, den Nora belegte.
Britts Aufmerksamkeit blieb an dem Entlüftungsgitter hängen, das ein Stück unterhalb der Decke in der Wand installiert war.
Nora verengte die Augen zu Schlitzen. „Du glaubst doch wohl nicht, dass wir durch einen Luftschacht hier rauskommen?! Das machen vielleicht die Schurken in Filmen, aber im wirklichen Leben sind diese Schächte viel zu eng. Oder etwa nicht? Und vor allem: Die Anweisung lautet, hier zu warten! Und wir werden nicht versuchen, als die mutigsten Pseudogeiseln in die Geschichte einzugehen.“
„Ich überzeug mich lieber selbst.“ Britt kam mit scheuchenden Handbewegungen auf Nora zu.
„Schhhh, weg!“
„Britt …“
„Weg da!“
Nora gab den Stuhl frei.
Britt zog ihn unter den Luftschacht, kletterte auf den Stuhl und spähte in den Schacht.
Nora wollte sich gerade auf dem Teppich niederlassen, als von der anderen Seite der Wand ein lautes Krachen zu hören war, als ob ein großes Möbelstück umgefallen wäre.
Konnte es vielleicht sein, dass diese Übungsveranstaltung von einem echten Angreifer übernommen worden war?
Nein. Aber trotzdem fühlte Nora sich genau so, wie sie sich immer im Flugzeug fühlte, wenn es über die Startbahn rollte und dann abhob. Ihr Verstand wusste, sie war sicher. Aber ihre Emotionen sprachen dagegen, sie flüsterten ihr zu, dass Flugzeuge auch abstürzen können.
Wie gern wäre sie jetzt in der Suppenküche.
„Ist der Schacht denn groß genug, um durchzukriechen?“, fragte Nora.
„Nein.“
„Tja, wir könnten ja den Schreibtisch zerhauen und mit den Tischbeinen ein Loch in die Wand schlagen.“
Britt sprang vom Stuhl auf und nickte geschäftsmäßig. „Okay, ich bin dabei.“
„Das war ein Scherz!“
„Könnte aber funktionieren.“
„Nie im Leben. Außerdem können wir nicht das Eigentum von Lawson Training demolieren.“ Nora runzelte die Stirn und zupfte das braune Tuch zurecht, das sie als Dekoration um ihre Rosie-the-Riveter-Frisur gebunden hatte. „Hör auf, diesen Schreibtisch mit deinen Augen zu verschlingen, Britt.“
Ihre Schwester kehrte ans Fenster zurück. Ihre Gesichtszüge wiesen eine entfernte Ähnlichkeit mit der jungen Sophia Loren auf. Am Morgen hatte Britt ihr langes kastanienbraunes Haar in einen losen einseitigen Zopf geschlungen, der ihr absolut stand. Sie trug schmale Jeans unter einem weiten silberfarbenen Top. Flach ausgebreitet würde Britts Top aussehen wie ein Rechteck mit Ärmeln. Aber an ihrer fünfundzwanzigjährigen Schwester sah es bequem und trendy aus. Britt machte sich nicht allzu viel aus ihrem Outfit, aber das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Alle Klamotten bestanden darauf, ihr zu schmeicheln.
An diesem ersten Tag im Mai hatte der Wetterbericht für den pazifischen Nordwesten Temperaturen von höchstens 17 Grad vorhergesagt. Daher trug Nora ihren Lieblingsstrickpulli. Der war drei Jahre alt, und ausgebreitet sah auch er aus wie ein Rechteck mit Ärmeln. Unglücklicherweise änderte sich das nicht, wenn er Noras Körper umhüllte.
Gott musste sie als einen sehr leidensbereiten Menschen diagnostiziert haben, denn er hatte ihr zwei attraktive Schwestern geschenkt. Eine ältere und eine jüngere. Nora selbst fühlte sich manchmal, als wäre sie dazu verdonnert, eine alte Jungfer zu werden.
Sie sah auf die Uhr. Fünf vor zwölf. „Wir sind hier jetzt schon fast eine Dreiviertelstunde drin. Was meinst du, wie lange das noch dauert? Ich vermisse mein Telefon.“
„Du brauchst mal einen Handy-Entzug.“ Wieder ein Rütteln am Fenster.
Hätte Nora ihr Smartphone bei sich gehabt, hätte sie sich abgelenkt und ihre Mails und Chats nach einer Nachricht von Duncan durchsucht. Sie hier in diesem Raum ohne ihr Telefon einzuschließen, war ungefähr so, als stieße man Linus ohne seine Schmusedecke hinaus in die böse Welt.
Ein weiterer dumpfer Aufschlag ließ die Luft erzittern. Zwei Männerstimmen stießen gedämpfte Drohungen aus.
Nora schloss die Augen. Um sich abzulenken, ließ sie im Geist eine Liste all der Dinge abspulen, die sie sich für Samstag vorgenommen hatte. Sie wollte den sechsten Band der Silverstone-Chroniken lesen. Flyer für den Sommerantikmarkt in Merryweather entwerfen. Apfel-Zimt-Seife nach einem handschriftlichen Rezept ihrer Urgroßmutter von 1888 herstellen. Und wenn dann noch Zeit war, hatte sie gehofft, noch das tun zu können, was sie am Wochenende immer mit noch nicht verplanter Zeit tat: ein paar Episoden von Northamptonshire ansehen.
Es hatte sie und Britt dreißig Minuten gekostet, um hierher in das Städtchen Shore Pine zu fahren. Wenn sie auf der Rückfahrt noch bei Mr Hartnett vorbeischauen würden, damit Nora das jüngste einer langen Reihe von kleinen Bestechungsgeschenken abliefern konnte, und dann schließlich endlich in Merryweather ankommen würden, wäre ganz sicher nicht mehr genug Zeit, um heute noch ein bisschen ihre geliebte Serie zu genießen.
Ein Geruch wie von brennenden Chemikalien, in die man Zucker gemischt hatte, drang an Noras Nase. Ein Seitenblick zur Tür zeigte ihr, dass Rauch in den Raum eindrang. Rauch! „Ähem!“ Sie wies mit der Hand in die Richtung.
„Wow!“, sagte Britt. „Cooler Effekt.“
Nora atmete sehr bewusst ein, um sich zu vergewissern, dass der Rauch nicht roch wie ein echtes Feuer. Aber das war nicht der Fall.
Stimmen im Befehlston und Geräusche von einem Tumult, einem Handgemenge, näherten sich ihrem Aufenthaltsort. Noras Herzschlag beschleunigte sich wie die Nadel einer Nähmaschine, die immer schneller wird …
„Oh...