E-Book, Deutsch, Band 2, 576 Seiten
Reihe: The Four Winds
Warwick The West Wind – Reich aus Licht und Dornen (The Four Winds 2)
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8458-6118-0
Verlag: arsEdition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 576 Seiten
Reihe: The Four Winds
ISBN: 978-3-8458-6118-0
Verlag: arsEdition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alexandria Warwick ist die Autorin der Bestsellerreihe 'The Four Winds'. Als ausgebildete Violinistin verbringt sie einen Großteil ihrer Zeit damit, in Orchestern aufzutreten. Sie lebt in Florida.
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1
Vor mir liegt ein Mann bäuchlings auf der Erde, und wenn mich nicht alles täuscht, ist er tot.
Tot, oder nicht weit davon entfernt. Er ist vollkommen reglos. Keine Bewegung deutet darauf hin, dass er noch atmet. Ein Wirrwarr aus schmutzstarrendem, von goldenen Strähnen durchzogenem Haar klebt ihm am Kopf, und durch die feinen Locken krabbeln Insekten.
Ich stelle meinen Korb mit den gesammelten Perlblumen beiseite und trete einen Schritt näher heran. Eine Windböe fegt durch den uralten Wald, hier, wo einsam der Berg thront. Hier in Carterhaugh, dieser von dichten Wäldern voller Moos und Farn geprägten Region, verstummt die Welt, sobald sich der Wind legt. Hier dringt kein Geräusch besonders weit. Auch kein Vogelgesang. Nicht einmal Schreie.
Ich stupse das Bein des Mannes leicht mit der Stiefelspitze an. Er rührt sich nicht. Offensichtlich ist er vom Pfad abgekommen, hat sich verirrt – der letzte Fehler seines Lebens. Wenn er tot ist, dann muss die Abtei davon in Kenntnis gesetzt werden. Wenigstens wird er eine angemessene Beerdigung erhalten.
Ich knie mich neben ihn, und die vom vielen Regen vollgesogene Erde gibt unter meinem Gewicht nach wie ein weicher Schwamm. Schnell streife ich meine dünnen Lederhandschuhe über, erst dann berühre ich das Gesicht des Mannes.
Es ist warm. Selbst durch das Leder spüre ich die Wärme seiner Haut.
Ich wuchte den Mann auf den Rücken. Als er zusammenzuckt und dann wieder erschlafft, keuche ich erschrocken auf. Ich habe mich geirrt. Der Fremde ist nicht tot.
Seine Augen sind mit Blutergüssen bedeckt und grotesk geschwollen, die Nase ist durch einen Bruch furchtbar entstellt. Zwischen aufgesprungenen Lippen blitzen weiße Zähne hervor. Dass seine Haut sonnengeküsst ist, lässt sich wegen all der Blessuren nur erahnen. An seinem Haaransatz klebt verkrustetes Blut.
Ich hocke neben ihm, überlege. Der intensive Rauchgeruch, der meinem Kleid anhaftet, erinnert mich an die Klingen, die in der Schmiede darauf warten, gehärtet zu werden.
Die Kleidung des Mannes hat, genau wie sein geschundenes Gesicht, eindeutig schon bessere Tage gesehen. Er trägt eine schlammbespritzte Tunika, dazu einen schweren, grünen Mantel. Seine Hose ist am Knie zerrissen und gibt den Blick auf muskulöse Beine frei, die in abgetragenen kniehohen Stiefeln stecken.
»Lass dich nicht vom äußeren Schein täuschen«, sage ich leise zu mir selbst.
Ich kenne die Geschichte dieses Mannes nicht. Er könnte ein Reisender sein. Vielleicht hat er sich in der Dunkelheit von Carterhaugh verirrt und nicht mehr nach Thornbrook gefunden, seinem eigentlichen Ziel? Kilkare liegt nur neun Meilen südwestlich von hier – mit einem Fuhrwerk ist es eine halbe Tagesreise entfernt. Doch seine Verletzungen lassen vermuten, dass ihn jemand hier abgeladen hat in der Annahme, er wäre tot oder würde bald sterben. Woher stammt dieser Mann? Und, noch wichtiger, wer hat ihn so zugerichtet und aus welchem Grund? Die Luft schimmert vor goldenen Klängen. Glockengeläut schallt von den Berghängen als Echo zurück. Sieben Schläge zeigen die heilige Stunde an und ich bin bereits zu spät, ich bin auf der Suche nach den Heilpflanzen zu weit gelaufen.
Ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf den reglosen Fremden zu meinen Füßen und balle die Hände zu Fäusten, während die Glockenklänge schließlich verhallen. Wer weiß, womöglich ist dieser Mann den Feen begegnet. Immer wieder bekommt man zu Ohren, dass Sterbliche vom Feenvolk unter die Erde verschleppt und gefangen gehalten werden. Wenn man den Geschichten Glauben schenken kann, ist es auch der Äbtissin von Thornbrook einmal so ergangen. Doch selbst wenn ich ihm helfen wollte, wäre es mir nicht möglich. Mutter Mabel betont zwar stets, dass die Tore von Thornbrook allen Hilfe Suchenden offen stehen, allerdings dürfen nur Frauen die Abtei betreten.
Ich stehe auf, und während mir klar wird, dass dieser Mann schutzlos hier liegen bleiben wird, wenn ich gehe, regt sich ein kaltes Gefühl in meinem Magen. Doch ich habe keine andere Wahl.
Ich schnappe mir meinen Korb und fliege förmlich den Hang hinauf, auf dem gewundenen Pfad nach Norden. Eine Lücke zwischen den Bäumen vor mir gibt den Blick auf den imposanten Turm der Abtei frei. Er thront über den moosüberwachsenen Mauern, die das weitläufige Gelände umfrieden.
Thornbrook ist Triumph gewordener blasser Stein. Wie in der Schrift nachzulesen ist, wurde die Anlage von den frommsten Akolythinnen des Vaters mit eigenen Händen errichtet, indem sie die mächtigen Steinblöcke den Berg hinaufgezogen und drei Geschosse hoch aufgetürmt haben. Farne verdecken nun den unteren Teil und sind in die Ritzen des Mauerwerks gekrochen.
Ins Torhaus kann man auf zwei Wegen gelangen: einmal durch einen breiten Torbogen für Fuhrwerke und zum anderen durch eine kleine Tür für jene, die zu Fuß unterwegs sind. Beide sind als Schutzmaßnahme gegen das Feenvolk gesichert. Ich winke der Torwächterin, und sie zieht sofort das Eisengitter hoch.
Das Klostergebäude mit seinem offenen Kreuzgang kommt in Sicht und ich eile über den grasbewachsenen Hof zum Dormitorium und die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Sobald ich in meiner kleinen Zelle bin, wechsle ich mein graues Alltagskleid gegen meine Albe – das lange weiße Gewand, das wir bei der Messe tragen – samt Zingulum, dem Gürtel, den ich um meine kräftige Taille lege und mit einem Knoten schließe. Diejenigen, die ihr ewiges Gelübde abgelegt haben, schließen das schmale weiße Band mit drei Knoten. Doch so weit bin ich noch nicht.
Schweißüberströmt erreiche ich die Kirche, wo sich die Töchter von Thornbrook versammelt haben, ein Meer aus Weiß, von dem sich nur die rubinroten Stolen der Akolythinnen abheben.
Bevor ich den Gebetsraum betrete, wasche ich mir im Becken gleich neben dem Eingang die Hände. Sobald ich gereinigt bin, gehe ich in den hinteren Teil der Kirche und lasse mich unauffällig in einer Bankreihe neben einer anderen Novizin nieder. Sie scheint mich nicht zu bemerken, sondern hält den Blick fest auf den weißen Marmoraltar gerichtet, der mit einem scharlachroten Tuch verhüllt ist und auf dem drei Ewiglichter brennen – Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Weiter vorn steigt Mutter Mabel die Stufen zum Altarraum hinauf, wo sich auch die Plätze für den Chor befinden. Sie schreitet weiter zum Presbyterium, um sich uns dann mit erhobenen Händen, die Handflächen nach oben zeigend, zuzuwenden. Direkt hinter dem Altar fällt durch ein grünes Glasfenster ebensolches Licht auf das Altartuch und die liturgischen Gegenstände.
Wie auf Befehl senken wir alle gleichzeitig den Kopf.
»Ewiger Vater, unsere Herzen sind weit geöffnet. Geleite uns durch die kommenden Monate, während wir uns dem Zehnt nähern.« Ich hebe die gefalteten Hände an die Stirn, wie auch der Rest der Gemeinde. Mutter Mabels Gebet wird zu einem leisen Raunen. Meine Gedanken schweifen ab.
Es scheint mir sehr plausibel, dass der Mann Opfer eines Angriffs wurde. Die Feen, auch die Unterirdischen genannt, haben ihre Gründe. Sie müssen sich auf die engen Tunnelgänge und lichtlosen Höhlen beschränken, sie sind nicht befugt, die Städte der Sterblichen zu betreten, sie dürfen nicht regieren und keinen Rat abhalten, obwohl sie sich, Jahrhunderte bevor wir Sterblichen sie unter die Erde vertrieben haben, hier in Carterhaugh angesiedelt hatten. Doch im Schutz des Waldes mit seinen verhüllenden Schatten lockt es viele von ihnen hinauf an die Oberfläche.
Was den Mann betrifft … Ich sollte gar nicht über ihn nachdenken. Ich bin hier im Haus des Vaters, seine Mauern und Türen bilden ein kostbares Refugium. Was würde er von mir denken, wenn er wüsste, dass in meinem Kopf neben ihm noch ein anderer Mann Platz hat? Mit Mühe schiebe ich meine ketzerischen Gedanken beiseite und hebe den Blick zu den Ewigen himmlischen Gefilden. Unser Vater, der Schöpfer zweier Reiche. Carterhaugh: idyllisch, voller Fülle, ohne Makel. Und Untererden: eine in der Tiefe dahinfaulende Saat.
»Lasst uns die Sieben Gebote rezitieren«, fordert uns Mutter Mabel auf; ihre Worte hallen in der Kirche wider.
Pflichtbewusst wiederholen wir die sieben Vorschriften.
»Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht begehrlich sein und du sollst deine Mutter und deinen Vater ehren. Du sollst deinen Gott nicht verleugnen. Du sollst den Feiertag ehren.« Und zuletzt: »Du sollst nicht lügen.«
»Indem wir diese Gebote in den Stoff unseres Lebens einweben, erfüllen und erneuern wir unser Gelübde«, fährt Mutter Mabel fort. »Mögen wir immer ehrenvoll und rechtschaffen handeln.«
Meine Hände sind schweißnass. Ehrenvoll. Wie ehrenvoll ist es, einen Mann im Wald zurückzulassen, als Opfer für alle möglichen heimtückischen Wesen?
»Mögen wir uns demütig von unserem Glauben leiten lassen. Mögen wir vor dem Vater keine Geheimnisse haben.«
Ich öffne schlagartig die Augen, als ich merke, wie in die Ordensgemeinschaft Bewegung kommt.
»Und möge es uns niemals...




