E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Regency Romantics
Waters Wie man einen Lord gewinnt
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95818-633-0
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Regency Romantics
ISBN: 978-3-95818-633-0
Verlag: Ullstein Forever
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martha Waters stammt aus dem sonnigen Süden Floridas und studierte in North Carolina, wo sie auch heute noch lebt. Sie arbeitet in einer Kinderbücherei und verbringt ihre freie Zeit am liebsten auf Reisen.
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Prolog
Mai 1812
Lady Violet Grey, achtzehn Jahre alt und von schöner Gestalt, mit einem respektablen Vermögen und makellosem Stammbaum, zeigte alle Vorzüge, die sich eine junge Dame aus guter Gesellschaft zu wünschen vermochte. Nur eine wichtige Eigenschaft fehlte ihr, laut ihrer Mutter: eine Sanftmütigkeit, die einer Dame angemessen wäre.
»Neugier, meine Liebe, wird dich nirgendwohin bringen«, hatte Lady Worthington ihre Tochter im Laufe der Jahre ihrer nicht enden wollenden Jugend schon mehr als einmal getadelt. »Neugier führt einen auf ! Und sie treibt einen in den Ruin!«
Ruin.
Auch wenn Violet nichts gegen das Wort als solches hatte, es ließ sie an den Parthenon in Griechenland denken – einen Ort, den sie nur allzu gern besucht hätte, wäre sie kein englisches Mädchen aus gutem Hause gewesen –, hasste sie es jedoch mittlerweile, sobald es im Zusammenhang mit jungen Damen, wie sie selbst eine war, fiel. Ihre Mutter hatte das Wort bereits so oft erwähnt, um Violet vor ihrem unpassenden Verhalten zu warnen, dass sie es sich mittlerweile immer mit großem R vorstellte. Man besuchte Ruinen. Man war Ruiniert.
Und durfte man Lady Worthingtons ständigen Ermahnungen Glauben schenken, so lief Violet große Gefahr, in diesen überaus unerwünschten Zustand zu verfallen. Als Lady Worthington ein Buch mit skandalöser Poesie entdeckte, das Violet aus der Familienbibliothek entwendet hatte, warnte sie vor dem Ruin. Als sie einen Brief entdeckte, den Violet an den Herausgeber des geschrieben hatte bezüglich eines in Frankreich neu entdeckten Kometen, warnte sie vor dem Ruin. (»Aber ich wollte ihn unter männlichem Pseudonym abschicken!«, protestierte Violet, als ihre Mutter den Brief in Fetzen zerriss.) Laut Lady Worthington lauerte der Ruin an jeder Ecke.
Kurzum: Es war besorgniserregend.
Oder zumindest hätte es jeder andere als besorgniserregend empfunden. Nur Violet nicht.
Die ständigen Ermahnungen, die in den Monaten vor Violets Präsentation bei Hofe und ihrer ersten Saison in London immer häufiger wurden, machten sie noch neugieriger, was genau es mit diesem Ruin auf sich hatte.
Ihre Mutter, normalerweise fürchterlich redselig, was dieses Thema betraf, wurde auffällig wortkarg, wenn Violet sich nach konkreten Details erkundigte. Violet hatte bereits ihre zwei besten Freundinnen, Diana Bourne und Lady Emily Turner, gefragt, aber sie schienen genauso wenig darüber zu wissen. Sie begann, die Bibliothek von Worth Hall, dem Landgut der Worthingtons, nach Informationen zu durchforsten, wurde jedoch zur Anprobe nach London geschickt, bevor sie Fortschritte verzeichnen konnte.
Es war frustrierend, die erste Saison so unwissend zu beginnen. Und es war ziemlich enttäuschend, als sie sich ein paar Wochen später an einem der gefährlichsten Orte überhaupt befand, an denen man mit großer Wahrscheinlichkeit den Ruin fand – auf einem Balkon. Sie stellte fest, dass es nicht annähernd so aufregend war, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Der Gentleman, der versuchte, sie in den Ruin zu treiben, Jeremy Overington, Marquess of Willingham und berühmt-berüchtigter Lebemann, war ihr nicht ganz unbekannt, da er der beste Freund des großen Bruders ihrer besten Freundin Diana war. Violet erinnerte sich lebhaft, wie Penvale sie, Diana und Emily während seines Heimatbesuchs aus Eton mit Willinghams Heldentaten erfreut hatte. Sie hatte Lord Willingham allerdings schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, bis zu diesem Monat, als sie in die Londoner Gesellschaft eingeführt wurde.
Man konnte Willinghams Attraktivität nicht leugnen, vorausgesetzt, man fand goldenes Haar, blaue Augen und perfekt sitzende Reithosen anziehend (was bei Violet – wie bei jedem anderen richtigen englischen Mädchen – der Fall war). An jenem Abend auf dem Montgomery-Ball merkte sie, dass er einen Walzer mit einer jungen Dame gerne dafür nutzte, die besagte junge Dame hinaus auf einen dunklen Balkon zu führen.
Violet war von dieser Entwicklung der Ereignisse ziemlich überrascht. Vor wenigen Augenblicken hatten sie sich noch müßig über ihre ersten Eindrücke von London unterhalten, unter den Kronleuchtern getanzt und in romantischem Kerzenlicht gebadet, und nun waren sie hier. Allein. Die Orchestermusik drang gedämpft durch die französischen Türen, die zurück in den Ballsaal führten. Plötzlich ging alles sehr schnell. Sie konnte gar nicht sagen, wie es passiert war. Doch im einen Moment fragte Jeremy sie lachend, ob es das erste Mal war, dass sie jemand auf einen Balkon gelockt habe, und im nächsten landete sein Mund auf ihrem.
Nun war sie Ruiniert. Und dennoch. Violet hatte bisher den Eindruck gewonnen – durch die vielen Bücher, die sie heimlich gelesen und vor ihrer Mutter versteckt hatte –, dass Ruin eine eher freudvolle Erfahrung war. Warum sonst sollte eine Dame für einen flüchtigen Moment alles aufs Spiel setzen? Doch um ehrlich zu sein, fand Violet ihren eigenen Ruin weitaus weniger vergnüglich, als sie es sich erhofft hatte.
Sicherlich, Lord Willinghams Arme waren stark, als er Violet gegen seine Brust drückte, die beruhigend muskulös war. Und ja, er duftete angenehm nach Bergamotte, und sein Mund bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die auf jahrelange Erfahrung schließen ließ, über ihren. Und dennoch.
Und dennoch.
Violet fühlte sich auf seltsame Art unbeteiligt. Während sich ein Teil von ihr auf das Geschehen konzentrierte, eine Hand in Willinghams Nacken, die Augen fest geschlossen, konnte ein anderer Teil ihres Geistes nicht umhin, sich von der kühlen Abendluft gestört zu fühlen, von dem leicht unangenehmen Gefühl im Nacken, das sich langsam einstellte, da sie den Kopf die ganze Zeit nach oben recken musste, und von der Möglichkeit, auf sie zukommende Schritte zu vernehmen.
Kurz darauf stellte sie panisch fest, dass sie tatsächlich Schritte hörte, begleitet von einer eindeutig männlichen Stimme.
»Jeremy, du lässt allmählich nach«, sagte der Mann. Willingham wirbelte herum und versuchte, Violet vor dem Blick des Mannes abzuschirmen. »Ich dachte, du wüsstest inzwischen, dass du dir für deine Liaisons lieber eine dunklere Ecke des Balkons suchen solltest.«
Der Besitzer der Stimme trat in einen Lichtkegel, und Violets erster Eindruck war, dass er der schönste Mann war, den sie je gesehen hatte. Sie hatte es immer für idiotisch gehalten, wenn Mädchen in Büchern diese Aussage trafen. Wie war es bitte möglich, dass eine Frau im Bruchteil einer Sekunde entscheiden konnte, dass das Gesicht eines Mannes schöner war als das aller anderen Männer, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet war? Es war vollkommen unlogisch. Absurd.
Und dennoch. In diesem Moment wurde Violet ebenfalls absurd, denn nichts konnte sie mehr von diesem Glauben abbringen. Der Fremde war groß, breitschultrig und nicht älter als Lord Willingham, von dem Violet wusste, dass er aus Oxford kam und erst seit ein paar Saisons in London war. Sein Haar, noch dunkler als Violets, erschien im schummrigen Licht schwarz. Seine Augen waren von einem kräftigen, erstaunlichen Grün. Als sich ihre Blicke über Lord Willinghams Schulter hinweg trafen, verspürte Violet in Anbetracht seiner körperlichen Nähe und der Art, wie er sie musterte, einen Nervenkitzel. Er bewegte sich mit athletischer Geschmeidigkeit, und mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass sie ihn gern auf dem Rücken eines Pferdes sehen würde. Sie konnte sich regelrecht den Gesichtsausdruck ihrer Mutter vorstellen, wenn sie diesen Gedanken gehört hätte. Lady Worthington hätte es unangebracht gefunden, auch wenn Violet nicht genau wusste, warum. Sie musste die Hand vor den Mund schlagen, um ihr Lachen zu unterdrücken, das in der Stille des Balkons unnatürlich laut klang.
Nun betrachtete der Neuankömmling sie noch genauer, und seine Augen wurden groß. Violet wurde von der wilden, flüchtigen Hoffnung ergriffen, er wäre von ihrer Schönheit ebenso fasziniert wie sie von seiner. Selbst ihre Mutter war mitunter gezwungen, ihre Kritik im Zaum zu halten und widerwillig zuzugeben, dass Violet schön genug sei, dass man über den Rest hinwegsehen könne. Hoffentlich. Natürlich meinte sie mit »dem Rest« alle Aspekte ihres Charakters, die Violet zu dem Menschen machten, der sie nun mal war.
Jedoch verflog diese romantische Vorstellung umgehend, als sie seinen wütenden Gesichtsausdruck sah, als er sie musterte.
»Jeremy«, sagte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lord Willingham zu, der mehr schlecht als recht versuchte, Violet vor dem Blick des Fremden abzuschirmen. »Das geht zu weit.«
»Das hast du schon mal gesagt, alter Junge. Aber irgendwie sind das immer leere Worte«, erwiderte Lord Willingham in trägem Ton. Violet spürte jedoch die Anspannung, die von seinem Körper ausging.
»Als ich meinen Vater getroffen habe und er mir sagte, ich würde dich mit Sicherheit hier draußen mit einer Dame finden, die gerettet werden müsse, dachte ich, er würde sich irren. Ich hätte mit einer Witwe gerechnet. Oder vielleicht mit einer untreuen Ehefrau. Aber doch nicht mit einem...




