E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Weibel Warum wir arbeiten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-907291-05-4
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sinn, Wert und Transformation der Arbeit
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-907291-05-4
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Benedikt Weibel (*1946) Dr. rer. pol., Studium und Assistenz an der Universität Bern. Diplomierter Bergführer. 1978 Eintritt in die SBB. 1993-2006 SBB-Chef. 2007/08 Delegierter des Bundesrates für die Fussball-EM 2008. 2007-2016 Honorarprofessorfür Praktisches Management an der Universität Bern. Präsident des Aufsichtsrats der WESTbahn (A). Publizist.
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2. Am Anfang war die Arbeit
«Arbeit ist … die erste Grundbedingung allen menschlichen Lebens.» Friedrich Engels1
Über den Ursprung der Sprache gab es über Jahrtausende hinweg keinen Zweifel: Ein Gott oder die Götter haben den Menschen die Sprache gegeben. Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Evolutionslehre von Charles Darwin durchzusetzen begann, entstand auch die Theorie der Lautmalerei. Demnach habe sich zum Beispiel das Wort «Schaf» über den Klang des Blökens ergeben. Diese These gilt heute als widerlegt. Dass wir den Kuckuck «Kuckuck» nennen, ist eine Ausnahme. Der Hund heisst weder Wauwau auf Deutsch noch Bow-wow auf Englisch noch Guau-guau auf Spanisch.2 In Die Entstehung der Arten (1859) hat sich Darwin selbst noch zurückhaltend über den Ursprung der Sprache geäussert. Im Folgewerk Die Abstammung des Menschen (1871) stellte er die Hypothese auf, dass sich die menschliche Sprache aus dem Singen entwickelt habe. Darüber wird noch heute gerätselt. Die Gegenthese geht vom Vorrang der bedeutungslosen Laute aus.3
Diese Laute dienten der Beschwörung von Geistern und Dämonen, dem Trösten von Kindern, der Werbung ums andere Geschlecht, vor allem aber auch der Begleitung der mühevollen Handarbeiten. «Das Schwatzen, Summen und Singen bei der Arbeit hatte die Wirkung, die Mühsal psychologisch zu verkürzen; es versöhnte die Arbeit mit dem Spiel. … Wie wenig sich Sprache, Arbeit und Spiel voneinander trennen lassen, machen Arbeitslieder deutlich, jene alten rhythmischen Gesänge.»4
Eine ähnliche These hat Karl Bücher in seinem bereits erwähnten Buch Arbeit und Rhythmus vertreten. Arbeit, Musik und Dichtung bilden für ihn eine «Dreieinheit», deren Ausgangspunkt die Arbeit gewesen sei. Verbunden habe sie «das gemeinsame Merkmal des Rhythmus».5
In einer ersten Entwicklungsstufe waren es Laute, die die Momente der gemeinsamen Kraftanstrengung markierten, zum Beispiel beim Lastenheben oder Rudern. Das rhythmische Element wohnt nach Bücher «weder der Musik noch der Sprache ursprünglich inne; es kommt von aussen und entstammt der Körperbewegung»6 beim Arbeiten. Es unterstütze die «Grundformen der Arbeitsbewegung: Schlagen, Stampfen, passendes Reiben (Schaben, Schleifen, Quetschen)»7 und die Verwendung von Werkzeugen verstärke noch die «rhythmisch verlaufenden und darum musikalischen Arbeitsgeräusche».8 Von besonderer Bedeutung ist der Rhythmus, wenn viele Menschen an einer Arbeit beteiligt sind. Bei einem Transport von Steinen vom Steinbruch an den Nil, bei dem 8368 Menschen beteiligt waren, sei «der Rhythmus das Bindemittel» gewesen. Er habe «eine Mehrzahl von Arbeitern zu einem energisch tätigen Körper vereinigt[…], der seine Obliegenheiten mit ähnlicher Präzision erfüllte wie heute die Maschine».9 In Büchers Buch findet sich eine eindrückliche Darstellung verschiedenster Arbeitsgesänge «über eine so grosse Zahl von Völkern und Kulturstufen, dass man schlechthin sagen kann: sie gelten für die ganze Menschheit».10
Für Friedrich Engels stand nicht die Sprache, sondern die Arbeit an erster Stelle der Menschwerdung. «Keine Affenhand hat je das rohste Steinmesser verfertigt.» Die Erklärung der Entstehung der Sprache aus und mit der Arbeit sei die einzig richtige. «Arbeit zuerst, nach und nach dann mit ihr als Sprache.»11 Als Anekdote sei erwähnt, dass Engels im Konsum von Fleischkost den nächsten Schritt zur Menschwerdung sah: «Mit Verlaub der Herren Vegetarier, der Mensch ist nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen.»12 (Wir lernen: Dieses Thema hat damals nur die Herren betroffen.) Nach Engels beginnt der Mensch dank der Arbeit die Natur zu beherrschen.
«Kurz, das Tier benutzt die äussere Natur …; der Mensch macht sie durch seine Änderungen dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt.»13
Schliesslich erweist sich Engels auch noch als ökologischer Vordenker, indem er darauf hinweist, dass ein unbedachtes Einwirken auf die Natur unerwünschte Nebenwirkungen auslösen kann.
Betrachtet man die Geschichte der Arbeit, so ist diese durch keine plötzlichen Brüche gekennzeichnet. Vielmehr waren es länger andauernde Entwicklungen, die zu Zäsuren geführt haben, oft geografisch beschränkt, bis sie eine Breitenwirkung entfalteten.
Erste Zäsur: Sesshaftigkeit
Um 8000 v. Chr. ereignete sich in der Geschichte der Arbeit eine erste epochale Zäsur. Menschen wurden sesshaft, rodeten Wälder und begannen Land zu bebauen. Ohne diese Entwicklung existierte die Menschheit möglicherweise nicht mehr. «(Der) Übergang vom Wildbeuter zum Bauern ist das wichtigste demografische Ereignis aller Zeiten.»14 Seither ist die Geschichte «erfüllt von kolonisierender Landnahme. Menschliche Gemeinschaften erschliessen sich Grund und Boden als Basis für ihre eigene Lebenssicherung.»15
Überleben hiess arbeiten. Und diese Arbeit war hart. Wie es Gott zu Adam sagt (1. Buch Mose, Kapitel 3):
«Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Feld essen. Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zur Erde werdest, davon du gekommen bist.»
Nicht alle Menschen wurden sesshaft. Ein allerdings immer kleiner werdender Teil zog weiterhin durchs Land. Bis heute unterscheiden sich die Lebensphilosophien der Nomaden und jene der Sesshaften von Grund auf.
«Nomaden haben die Sesshaften immer als Schwächlinge und Feiglinge verachtet, die im Austausch gegen Sicherheit und Bequemlichkeit ihre Freiheit verschachert haben. Die Sesshaften ihrerseits haben die Nomaden immer als wild, verantwortungslos und moralisch verwerflich abgestempelt – eine Bedrohung für Haus und Herd, Gesetz und Ordnung, für den Fortbestand der Zivilisation – und zugleich ihr Leben beneidet und romantisiert.»16
Auch Nomaden arbeiteten. Sie waren Jäger oder zogen mit einer Herde von Ort zu Ort. Ein anderes Geschäftsmodell hatten die Krieger- und Reiternomaden, die von Plünderungen lebten und vom Schutzgeld, das sie der sesshaften Bevölkerung abpressten.17
«Wandern», «Unterwegssein» – diese zutiefst romantischen Vokabeln haben ihre Anziehungskraft bis heute nicht verloren. «Was weiss schon der Schlaumeier der Sesshaftigkeit? Hat er jemals den puren Freiheitsschauer erlebt, wenn man alles hinter sich lässt?»18 Heute ist der Highway in den USA das Symbol für Freiheit schlechthin und der Trucker der Archetyp, der sich den ewigen Traum von der amerikanischen Freiheit erfüllt. «Jahrelang schuften und arschkriechen», 19 um einen bescheidenen Wohlstand zu erwerben – das kann er sich nicht vorstellen. Die ultimative Songzeile zu diesem Lebensgefühl stammt von Chris Kristofferson, der diesen Trucker im Film auch dargestellt hat. Janis Joplin hat sie zum Welthit gesungen: «Freedom’s just another word for nothing left to lose.»
Die Arbeit der Sesshaften war körperliche Arbeit. Daran änderte auch die Erfindung der ersten Werkzeuge wenig. «Denn sie sind nur eine Vervollkommnung der Gliedmassen in derjenigen Eigenschaft, welche für den Arbeitsprozess am wichtigsten ist. Der Hammer ist eine härtere und unempfindliche Faust, die Feile, die Schabmuschel, das Grabscheit treten an die Stelle der Fingernägel, die Ruderschaufel ist nur eine verbreiterte hohle Hand, die Mörserkeule ersetzt den stampfenden Fuss, der Reibstein die pressende Handfläche.»20 Es folgten die ersten Innovationen in der Geschichte der Wirtschaft: Man entdeckte die Kräfte des Hebels, des Keils, der Rolle und der Schraube. Der Pflug trat an die Stelle des Grabscheits, die Walze an die der Stampfe, die Presse ersetzte den Schlägel, die Walkmühle die Füsse des Walkers, der Wagen den Tragesel …21
Die sesshafte Bevölkerung musste sich gegen ihre Feinde schützen. Am Anfang waren es befestigte Höhlensiedlungen, die sich in der Antike zu befestigten Siedlungen städtischen Charakters entwickelten. In Babylon lebten 1700 v. Chr. schon über 300000 Menschen. Im Mittelmeerraum entwickelte sich die Kultur der Polis. Mit der hellenistischen Kolonisation verbreiteten sich diese Siedlungen von Griechenland über die Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers.
In der hellenischen Polis, namentlich in Athen, entstanden die ersten Modelle der Stadtverwaltung. Aber nur vermögende Bürger waren an der politischen Willensbildung beteiligt, ein Bruchteil der gesamten Bevölkerung. Ein Bürger hatte es nicht nötig, sich die Hände schmutzig zu machen. Körperliche Arbeit wurde verachtet, insbesondere die «zum Überleben erforderlichen mühevollen Verrichtungen, die in der hauswirtschaftlichen Lebens- und Produktionseinheit von Bauern, Tagelöhnern und Sklaven verrichtet wurde», und generell auch die Frauenarbeit.22 Im gesamten Altertum herrschte die Auffassung, dass «man Sklaven nötig habe, weil es notwendige Beschäftigungen gibt, die ihrer Natur nach ‹sklavisch› sind».23 Nach dem römischen Recht, das im atlantischen Raum massgebend blieb, waren Sklaven sächliches Eigentum ihrer Herren.24 Wer gegen Lohn arbeitete, entehrte sich und machte sich dadurch zum Sklaven. Freiheit hiess Frei-Sein von körperlicher Arbeit. Das ermöglichte eine politische Tätigkeit und ein ethisch vollkommenes...




